Der Anteil des Arbeiters an der Kunst

Ich kann mir gut vorstellen, dass einige unserer Genossen bitter über diesen Titel lächeln und sich fragen werden, was eine sozialistische Zeitschrift denn mit Kunst zu tun haben kann. Deshalb beginne ich mit dem Eingeständnis, dass ich nur zu gut verstehe, wie »unpraktisch« dieses Thema ist, solange das gegenwärtige System von Kapital und Lohn besteht. Genau davon handelt mein Artikel.
Was also ist Kunst? Wo hat sie ihren Ursprung? Kunst ist das in ausdrucksvolle Form gebrachte Interesse des Menschen am Leben; sie entsteht aus der Freude des Menschen an seinem Leben. Wir müssen in der Tat, alles in allem, von Freude sprechen, wie sehr diese Freude auch von den Sorgen und dem Kummer des jeweiligen Individuums immer wieder getrübt sein mag. Und so wie die Kunst im allgemeinen Ausdruck der Freude am Leben ist, an den erinnerten Taten der Vergangenheit und den erhofften der Zukunft, so ist sie im besonderen Ausdruck der Freude des Menschen an den Taten der Gegenwart, an seiner Arbeit.
Ja, sicher das mag uns im Augenblick seltsam vorkommen! Heutzutage mögen die Menschen wohl die Freude an unproduktiver Tatkraft sehen – in der Verausgabung von Energie für Sport und Spiel. Aber Freude an produktiver Anstrengung – an der Pflicht, die geleistet werden muss, bevor wir essen können; an der Pflicht, die morgen und an zahllosen neuen Tagen ohne Abwechslung und ohne Ende zu tun sein wird, bis wir selbst enden – Freude daran?
Dennoch wiederhole ich, dass die größte Quelle der Kunst die Freude des Menschen an der Arbeit ist, die täglich von neuem getan werden muss. Diese Freude findet ihren greifbaren Ausdruck in eben dieser Arbeit: Nichts anderes kann die alltägliche Umgebung des Lebens schön gestalten, und wenn immer diese schön ist, so ist das ein Zeichen dafür, dass die Arbeit der Menschen, wie sehr sie ansonsten auch leiden mögen, von Freude erfüllt ist. Es ist dieses Fehlen der Freude an der täglichen Arbeit, das unsere Städte und Wohnungen schäbig und hässlich gemacht hat, zu einer entstellenden Beleidigung für die Schönheit der Erde, und das sämtliche Bereiche des Lebens unbedeutend, banal und abstoßend, in einem Wort: armselig werden liess. So schrecklich dies auch im Augenblick zu ertragen ist, so liegt doch darin auch Hoffnung für die Zukunft: Wenn äußerliche Hässlichkeit und Scheußlichkeit das Ergebnis der Sklaverei und des Elends der Menschen sind, dürfen wir von deren Abschaffung mit Fug und Recht erwarten, dass dann die äußerliche Hässlichkeit der Schönheit weichen wird, als dem Ausdruck freier und glücklicher Arbeit.
Vorerst könnt Ihr jedoch sicher sein, dass nichts anderes auch nur einen billigen Abglanz von Kunst hervorbringen wird. Denn, überlegt doch einmal! Die Arbeiter, mit Hilfe deren Hände der größte Teil der Kunst hergestellt werden muss, werden vom kapitalistischen System gezwungen, an Orten zu leben, die auch im günstigsten Fall so erbärmlich und scheußlich sind, dass niemand dort wohnen und seine Gesundheit erhalten könnte, ohne jeglichen Sinn für das Schöne und den Genuss des Lebens zu verlieren. Der Vormarsch des Heeres von Industriearbeitern unter der Führung seiner »Industriekapitäne« (entschuldigt diesen Ausdruck!) hinterlässt die gleichen Spuren wie das Vorrücken anderer Heere auch, indem er den Frieden und das schöne Antlitz der Erde zerstört; und unsere innere Natur, die auf Überleben um jeden Preis abgestellt ist, zwingt uns, uns an unsere Entwürdigung selbst auf Kosten des Verlustes unseres Menschseins zu gewöhnen und Kinder in die Welt zu setzen, die dazu verdammt sind, ein noch menschenunwürdigeres Dasein als wir selbst zu fristen. Menschen, die inmitten solcher Hässlichkeit leben müssen, können sich Schönheit gar nicht mehr vorstellen und können sie daher auch nicht zum Ausdruck bringen.
Auch sind es nicht nur die Arbeiter, die dieses Elend verspüren (und das gibt mir eine gewisse Genugtuung). Die anspruchsvolleren und mehr intellektuellen Kunstformen leiden ebenso wie das Kunsthandwerk. Die Künstler selbst, deren Lebensziel es ja ist, Schönheit zu schaffen und Interesse zu wecken, finden im wirklichen Leben kein Material mehr für ihre Arbeit, da alles um sie herum hässlich und schäbig ist. Sie finden sich gezwungen, ihr Material im Traum von vergangenen Zeiten zu suchen, oder ihren eigenen Sinn für Schönheit und ihr Wissen dadurch Lügen zu strafen, indem sie das sie umgebende Leben sentimental verklären und verfälschen. Und so produzieren sie trotz all ihrer Begabung, Urteilskraft und Begeisterung wenig, das verglichen mit den Kunstwerken der nicht-kapitalistischen Jahrhunderte nicht verachtenswert wäre. Auch dürfen wir nicht vergessen, dass alles irgendwie Wertvolle die Arbeit von Menschen ist, die gegen die korrupte Gesellschaft von heute rebellieren. Manchmal in offener Auflehnung, manchmal versteckt hinter Zynismus, wodurch sie aber in jedem Fall Lebenskraft in einem Kampf vergeuden müssen, der, allzuoft vergeblich, gegen ihre Mitmenschen gerichtet ist. Lebenskraft, die eigentlich in der Ausübung von besonderen Fähigkeiten verausgabt werden sollte zum Besten der Allgemeinheit.
Reich oder arm, ob Sklavenhalter oder Sklave, es fehlt uns an schönen Dingen in unserem Leben, oder, mit anderen Worten, an menschenwürdiger Freude. Dieser Mangel an Freude ist das zweite »Geschenk«, das der Fortschritt des Kapitalismus nach seinem ersten Geschenk (eines besitzlosen Proletariats) der Welt beschert hat. Es bedurfte des unerbittlichen und eisernen Mahlwerks dieses Systems, die zivilisierte Welt auf ihr derzeitiges Niveau der Vulgarität herabzuziehen. Die Theorie, dass die Kunst darniederliege, weil die Menschen ihre Aufmerksamkeit der Wissenschaft zugewandt haben, entbehrt dagegen jeder Grundlage. Es stimmt zwar, dass man die Wissenschaft am Leben lässt und fördert, da man mit ihrer Hilfe Gewinne erzielen kann, und die Menschen, die für ihre Tatkraft ein Betätigungsfeld finden müssen, wenden sich ihr zu, da sie nun einmal existiert, wenn auch nur als Sklave (und sei es als rebellierender Sklave) des Kapitals. Die Kunst dagegen stirbt, wenn sie vollkommen im Würgegriff der Profitgier ist, und lässt als unnützer Sklave der Kapitalisten nur noch das Gespenst einer Scheinkunst zurück.
Wie befremdend es deshalb einigen Leuten auch erscheinen mag, so ist es doch ebenso wahr wie befremdend, dass der Sozialismus, von dem allgemein angenommen wurde, er tendiere zu einem reinen Utilitarismus, die einzige Hoffnung für die Kunst ist. Bis die gesellschaftliche Revolution ganz zu Ende geführt ist und vielleicht für eine kurze Zeit danach, kann es in der Tat zwar sein, dass die Umwelt der Menschen weiterhin hässlicher, düsterer und karger wird – ich sage für eine kurze Zeit danach, da die Menschen vielleicht eine Weile brauchen werden, ihre Gewöhnung einerseits an Mangel, andererseits an sinnlosen Luxus, der ihnen durch den Kommerz aufgedrängt wurde, abzuschütteln. Aber sogar darin liegt Hoffnung, ist es doch immerhin denkbar, dass all die alten Mystifikationen und starren Konventionen erst abgestreift werden müssen, bevor die Kunst zu neuem Leben erweckt werden kann; dass wir vor dieser neuen Geburt für einige Zeit ohne all das, was einmal Kunst genannt wurde, auskommen werden müssen; dass uns nichts mehr davon übrig bleiben wird außer dem Stoff der Kunst – dem Menschengeschlecht mit seinen Wünschen und Leidenschaften und mit seiner Heimat, der Erde. Diesen Stoff gilt es dann neu zu bearbeiten mit den Werkzeugen der Muße und des Begehrens.
Dennoch, obwohl dies alles eintreffen mag, werden wir es wahrscheinlich kaum bemerken; es wird so allmählich kommen, dass es uns nicht ins Auge fallen wird. Vielleicht ist die Kunst wirklich schon jetzt todkrank, und vielleicht ist uns nichts weiter als ihr bereits halbtoter Körper geblieben: aber können wir nicht auch hoffen, auf die Wiedergeburt der Kunst nicht solange warten müssen, bis wir den Frieden der endlich verwirklichten Neuen Gesellschaft erlangt haben? Ist es nicht zumindest möglich, dass bereits das, was der Erbärmlichkeit des Lebens, die uns jetzt alle umgibt, den Todesstoß geben wird – die große Tragödie der Sozialen Revolution – den Arbeiter wieder an der Kunst zu beteiligen beginnen wird, wenn er nämlich anfängt, sein Ziel klar vor Augen zu haben – das Ziel eines Anteils am wahren Leben für alle Menschen – und wenn sein Kampf für dieses Ziel begonnen hat? Nicht die Erregung, für ein großartiges und würdiges Ziel zu kämpfen, ist der Feind der Kunst, sondern das tote Gewicht einer entwürdigenden, durch nichts entlasteten Angst um den täglichen Erwerb eines armseligen Hungerlohns in einer Arbeit, die sowohl durch ihr Übermaß wie durch ihre mechanische Art Körper und Geist erniedrigt.
Jedenfalls ist die Muße, die der Sozialismus vor allen anderen Dingen für die Arbeiter erreichen will, zugleich eben gerade das, was Begehren hervorbringt; Begehren nach Schönheit, nach Wissen, kurzum nach erfüllterem Leben. Ich sage es noch einmal: diese Muße und dieses Begehren werden sicherlich eine neue Kunst hervorbringen, während ohne sie nichts weiter als eine Scheinkunst, ohne Leben oder Existenzberechtigung, geschaffen werden kann. Deshalb wird nicht nur der Arbeiter, sondern die Welt im allgemeinen solange keinen Anteil an der Kunst haben, bis unsere gegenwärtige kapitalistische Gesellschaft einer wahren Gesellschaft – dem Sozialismus – Platz macht.
Ich weiß, dass dieses Thema viel zu ernst und schwierig ist, um es in einem kurzen Artikel angemessen behandeln zu können. Daher muss ich unsere Leser bitten, dies als eine Einführung in die Betrachtung des Verhältnisses von industrieller Arbeit und Kunst anzusehen.

„The Worker’s Share of Art“, Artikel in „Commonweal“, April 1885
Übernommen mit leichten Änderungen aus:
„William Morris – Rot und Grün, Reden zur Revolution von Kunst und Gesellschaft“, Passau, 1988

Dieser Beitrag wurde unter Texte von William Morris veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.