Ich wurde im März 1834 in Walthamstow, Essex, geboren, einem zur Vorstadt gewordenen Dorf am Rande des Epping Forest, einst einem recht schönen Ort, aber jetzt von Londoner Cockneys überflutet und im schrecklichen Würgegriff der Bauspekulanten.
Mein Vater war ein wohlhabender Geschäftsmann der City, und wir lebten in der üblichen spießbürgerlichen Behaglichkeit. Da wir dem evangelischen Flügel der Anglikanischen Kirche angehörten, wurde ich im Geiste eines reichen Puritanismus der herrschenden Klasse, wie ich es nennen würde, erzogen – einer Religion, mit der ich mich nicht einmal als Junge identifizieren konnte.
Ich ging im Marlborough College, das damals noch neu und von sehr rauem Ton war, zur Schule. Was meine Unterrichtung an dieser Schule betrifft, so glaube ich ehrlicherweise sagen zu können, dass ich dort so gut wie nichts lernte, da in der Tat so gut wie nichts gelehrt wurde. Aber das College liegt in einer sehr schönen Gegend, dicht übersät mit prähistorischen Denkmälern, und ich machte mich eifrig daran, diese und alles andere, das irgendwie geschichtsträchtig war, zu studieren. So lernte ich vielleicht doch eine ganze Menge, vor allem auch, weil es in der Schule eine gute Bibliothek gab, zu der ich gelegentlich Zugang hatte. Ich sollte erwähnen, dass ich, seit ich mich erinnern kann, Bücher geradezu verschlang. Ich kann mich nicht erinnern, dass mir jemand das Lesen beigebracht hat, und schon als ich sieben Jahre alt war, hatte ich eine sehr große Anzahl Bücher gelesen, gute, schlechte und mittelmäßige.
Mein Vater starb 1847, ein paar Monate, bevor ich nach Marlborough ging; aber da er sich vor seinem Tod an einer erfolgreichen Grubenspekulation beteiligt hatte, ließ er uns sehr wohlhabend, ja sogar reich zurück.
ging ich als Student des Exeter College nach Oxford. Ich interessierte mich nur wenig für die dortigen Studien, aber ich stürzte mich sehr energisch auf Geschichte und besonders auf mittelalterliche Geschichte, dies vielleicht umso mehr, als ich damals unter den Einfluss der Hochkirche, d.h. der Bewegung Puseys, geriet. Diese Geisteshaltung befriedigte mich allerdings nicht sehr lange, da sie durch die Bücher John Ruskins, die zu dieser Zeit für mich eine Art Offenbarung waren, berichtigt wurde; ich wurde auch ziemlich stark von den Werken des Charles Kingsley beeinflusst und übernahm daraus einige sozialpolitische Ideen, die ich wahrscheinlich weiterentwickelt hätte, wenn mich nicht zur selben Zeit Kunst und Dichtung in ihren Bann geschlagen hätten. Noch als Student entdeckte ich, dass ich Gedichte schreiben konnte, was mich selbst sehr erstaunte. Da ich ungefähr zu dieser Zeit anderen jungen Männern mit begeisterten Ideen sehr nahe stand, gründeten wir eine monatlich erscheinende Zeitschrift, die sich (auf meine Kosten) ein Jahr lang hielt. Sie wurde »Oxford und Cambridge Magazin« genannt und war wirklich sehr »jung«. Als ich meine Studienzeit in Oxford beendet hatte, entschloss ich mich – ich, der ursprünglich Geistlicher werden sollte!!! –, mich auf irgendeine Weise der Kunst zuzuwenden, und so ging ich bei C.E. Street (dem späteren Architekten des neuen Gerichtshofes), der zu dieser Zeit in Oxford arbeitete, in die Lehre. Ich blieb jedoch nur neun Monate bei ihm, denn als mich in London der Maler Burne-Jones, mein enger Freund aus meiner Zeit an der Universität, bei Dante Gabriel Rossetti, dem Wortführer der Schule der Präraphaeliten, einführte, entschloss ich mich, Maler zu werden und beschäftigte mich für einige Zeit nur noch sehr lustlos mit der Baukunst.
Zu jener Zeit machte die Renaissance der gotischen Architektur in England große Fortschritte und beeinflusste natürlich auch die Bewegung der Präraphaeliten. Ich engagierte mich mit ganzem Herzen in dieser Bewegung: Ich konnte sogar einen Freund dazu überreden, mir ein sehr mittelalterlich wirkendes Haus zu bauen, das ich fünf Jahre lang bewohnte, und ich ging sofort daran, es einzurichten und auszuschmücken. Wir, d.h. ich und besonders mein Freund, der Architekt, waren der Meinung, dass alle kleineren Kunstformen und das Kunsthandwerk vor allem in England in einem Zustand des völligen Verfalls waren, und im Jahre 1861 nahm ich mir mit dem Mut eines optimistischen jungen Mannes folglich vor, all das zu verbessern, und gründete so etwas wie eine Firma zur Herstellung kunsthandwerklicher Gegenstände. D.G. Rossetti, Ford Madox Brown, Burne-Jones und Philip Webb, der Architekt meines Hauses, waren hauptverantwortlich für die Entwürfe. Burne-Jones gewann damals gerade allmählich an Ansehen: er machte uns eine große Anzahl von Entwürfen für bunte Glasfenster und identifizierte sich ganz und gar mit dieser Aufgabe. Wir machten innerhalb kurzer Zeit einige Fortschritte, obwohl man sich natürlich allerorts lustig über uns machte.
betrieb die Sache gewerbsmäßig und begann trotz schwer vorstellbarer Schwierigkeiten einiges Geld damit zu verdienen. Ungefähr vor zehn Jahren löste sich die Firma dann auf und ließ mich als einzigen Partner zurück, obgleich ich immer noch Hilfe und Entwürfe von P. Webb und Burne-Jones erhalte.
Inzwischen, im Jahre 1858, veröffentlichte ich den Gedichtband Die Verteidigung der Guenevere, ebenfalls äußerst jung und sehr mittelalterlich; dann, nach einer Pause von einigen Jahren, fasste ich den Plan zu meinem Irdischen Paradies und stürzte mich mit voller Kraft auf diese Arbeit. Etwa zur selben Zeit dehnte ich meine Lektüre von historischen Werken aus, indem ich auf Übersetzungen aus der altnordischen Literatur stieß und in dieser ein gutes Korrektiv für die träumerische Seite meiner Mittelalter-Schwärmerei entdeckte. 1866 (so glaube ich) veröffentlichte ich Leben und Tod des Jason, das ursprünglich als eine der Geschichten des Irdischen Paradieses vorgesehen, für diesen Zweck aber zu umfangreich geworden war. Zu meiner Überraschung wurde das Buch sehr gut aufgenommen, sowohl von der Kritik als auch von der Öffentlichkeit, und beide waren meiner nächsten Arbeit, dem Irdischen Paradies, dessen erste Folge ich 1868 veröffentlichte, sogar noch freundlicher gesonnen. 1872 veröffentlichte ich unter dem Titel Liebe ist genug einen extravaganten kleinen Band mit hauptsächlich lyrischen Gedichten. Inzwischen, etwa 1870, hatte ich die Bekanntschaft eines Isländers gemacht, des Herrn E. Magnússon, von dem ich lernte, die Sprache des Nordens zu lesen, und mit dem ich die meisten Werke dieser Literatur studierte. Die entzückende Frische und Unabhängigkeit ihrer Gedanken, der Hauch von Freiheit, der sie durchzieht, ihre Verherrlichung des Mutes (der großen Tugend des menschlichen Geschlechts) und ihre völlige Ungezwungenheit und Originalität eroberten mein Herz im Sturm. Mit Herrn Magnússons Hilfe übersetzte und veröffentlichte ich Die Geschichte von Grettir dem Starken, dann eine Sammlung von ungefähr sechs Sagas unter dem Titel Nordische Liebesgeschichten und schließlich die isländische Version des Nibelungenliedes, die sogenannte Volsunga Saga.
1871 ging ich mit Herrn Magnússon nach Island, und, abgesehen von meinem Vergnügen, diese romantische Einöde zu sehen, lernte ich dort eine Lektion, und dies, wie ich hoffe sehr gründlich, nämlich die, dass die bedrückendste Armut verglichen mit der Ungerechtigkeit zwischen den Klassen ein geringfügiges Übel ist. 1873 reiste ich erneut nach Island. 1876 veröffentlichte ich eine Übersetzung von Virgils Aenaeis, die ziemlich gut aufgenommen wurde. 1877 begann ich mein bisher letztes Gedicht, ein Epos aus der Nibelungensage, das ich vor allem nach der isländischen Version gestaltet habe. Ich veröffentlichte es 1878 unter dem Titel Sigurd der Völsung und der Untergang der Nibelungen.
Während all dieser Zeit arbeitete ich hart in meinem Kunstgewerbe, in dem ich einen beachtlichen Erfolg hatte, und dies auch in kommerzieller Hinsicht. Ich glaube, ich hätte ein steinreicher Mann werden können, wenn ich in einigen prinzipiellen Punkten Zugeständnisse gemacht hätte; aber auch so kann ich mich über nichts beklagen, obwohl die letzten paar Jahre, was das Geschäft anbetrifft, ziemlich flau waren.
Fast alle Entwürfe für Außenverzierungen, Tapeten, Textilien und Ähnliches mache ich selbst. Ich musste dazu die Theorie und zu einem gewissen Grad auch die Praxis des Webens, des Färbens und des Textildrucks lernen: Ich muss zugeben, dass mir all dies große Freude gemacht hat und immer noch macht.
trotz allen Erfolges, den ich hatte, blieb ich mir immer dessen bewusst, dass die Kunst, die ich neu mitzubegründen half, mit dem Tod einiger von uns, die sich wirklich dafür einsetzen, fallen würde: dass eine Reform der Kunst, die auf Individualismus gegründet ist, mit den Individuen, die sie ins Leben gerufen haben, untergehen muss. Sowohl meine historischen Studien als auch mein realer Konflikt mit dem Philistertum der modernen Gesellschaft zwangen mich zu der Überzeugung, dass die Kunst unter dem gegenwärtigen System des Kommerzes und des profitgierigen Krämergeistes kein richtiges Leben und kein Wachstum entfalten kann. Ich habe darum versucht, diesen Standpunkt, der in der Tat nichts anderes ist als Sozialismus, durch die Augen eines Künstlers gesehen, seit 1878 in verschiedenen Vorträgen darzulegen.
Ungefähr zu dieser Zeit, als ich begann, so intensiv über diese Ansichten nachzudenken, dass ich das Gefühl hatte, ich müsste mich öffentlich dazu äußern, kam es zur Krise in der Orientalischen Frage und zu der Kampagne, die mit dem Sturz der Regierung Disraeli endete. Ich schlug mich in dieser Auseinandersetzung entschlossen auf die Seite der Liberalen, da ich glaubte, England liefe Gefahr, in einen Krieg hineinzugeraten, der das Land ganz der Partei der Reaktion ausliefern würde. Ich hatte auch große Angst vor dem Ausbruch eines neuen Chauvinismus, der über das Land fegte, und fürchtete, dass, wenn wir uns einmal die Zeit mit einem europäischen Krieg vertrieben, keiner in diesem Land mehr irgendetwas für soziale Fragen übrig hätte. Auch konnte ich im damaligen England keinerlei Partei ausmachen, die fortschrittlicher als die Radikale Partei gewesen wäre: letztere, auch daran muss man sich erinnern, war schon deshalb mit einem Glorienschein umgeben, weil sie in Opposition zu jener Partei stand, die sich selbst unverhohlen als reaktionär bezeichnete.
Ich machte mir wenig Illusionen über die Auswirkungen eines Sieges der Liberalen, erhoffte von ihr nur, dass sie die Flut des Nationalismus eindämmen und das Gefühl von nationalem Hass und Vorurteil, wofür ich immer die tiefste Verachtung empfinden werde, zügeln würden. Deshalb übernahm ich eine aktive Rolle in der antitürkischen* Bewegung und wurde ein Mitglied im Komitee der »Vereinigung zur Lösung der orientalischen Frage«, für das ich sehr hart arbeitete. Zu dieser Zeit lernte ich auch einige der Gewerkschaftsführer kennen, fand aber, dass diese völlig unter dem Einfluss der kapitalistischen Politiker standen, und dass sie sich, hätten sie die allgemeinen Wahlen erst einmal gewonnen, um keinerlei Fortschritt mehr kümmern würden. Das Handeln und Nichthandeln des neuen liberalen Parlaments, vor allem das Gesetz über Zwangsmaßnahmen in Irland und der ägyptische Krieg der Börsenmakler, zerstörten in mir dann von Grund auf jede auch noch so kleine Hoffnung, dass eine Verbindung mit der Radikalen Partei zu irgendeinem positiven Ergebnis führen könnte, wie fortschrittlich sie sich auch immer geben mochte.
Ich schloss mich daher einem Komitee an (dessen Schriftführer Mr. Herbert Burrows war), das versuchte, eine gewisse Opposition zum politischen Kurs, den die liberale Regierung und die liberale Partei in der ersten Zeit dieses Parlaments verfolgten, zu mobilisieren. Aber dieses Komitee brach rasch auseinander, da es in der Tat keine konkreten Grundsätze hatte, die es zusammengehalten hätten, und ich erwähne dies nur, um zu zeigen, dass ich auf der Ausschau nach jedem nur möglichen Zusammenschluss war, der mir geeignet schien, die Dinge voranzutreiben.
versteht sich, dass ich schon seit langer Zeit einer Gruppe beitreten wollte, die sich selbst deutlich als sozialistisch zu erkennen gäbe, und als ich letztes Jahr eingeladen wurde, in die »Demokratische Föderation« von Mr. Hyndman einzutreten, nahm ich die Einladung in der Hoffnung an, die Vereinigung würde sich trotz gewisser Mißliebigkeiten, die ich auch bei ihr erwartete, für den Sozialismus aussprechen. Was dies betrifft, so finde ich, dass es im großen und ganzen zu weniger Mißliebigkeiten kommt, als ich dachte.
Ich hätte oben noch schreiben sollen, dass ich 1859 heiratete und aus dieser Verbindung zwei Töchter habe, die mir, was meine Lebensziele anbelangt, sehr viel Verständnis entgegenbringen.
Diese biographische Skizze schrieb William Morris im September 1883 auf eine Anfrage hin an Andreas Scheu, einen österreichischen Sozialisten im englischen Exil. In der Folge schlossen sie persönliche Bekanntschaft und arbeiteten die nächsten Jahre eng zusammen.
Erste Veröffentlichung in The Socialist Review, 1929
Übernommen aus:
“William Morris – Rot und Grün, Reden zur Revolution von Kunst und Gesellschaft”, Passau, 1988
* gegen eine Beteiligung am Krieg zwischen Türkei und Russland auf türkischer Seite