Chants for Socialists / Lieder der Arbeit

Ohne eine adäquate Übersetzung der Morris’schen Lieder mussten wir sie bislang auf dieser Webseite beiseite lassen. Aber genau diese haben wir vor kurzem doch gefunden: die Liedersammlung von William Morris gibt es sehr wohl auch in hervorragender, ebenbürtiger Übertragung durch Lilly Nadler-Nuellens in die deutsche Sprache. Erschienen in Österreich, 1909 im Wiener Verlag Wohlstand für Alle.
Chants for Socialists : Lieder der Arbeit
William Morris: Chants for Socialists
William Morris: Lieder der Arbeit
Eine weitere Ausgabe durch John Henry Mackay in Milwaukee:
William Morris: Gesänge für Sozialisten
Chorsatz „Der Schrei der Plage“, von Josef Scheu (Noten) und Andreas Scheu (Übersetzung)

Für den Dichter Morris war es nahe liegend, dass er, sobald Sozialist geworden, seine Gedanken über eine befreite Gesellschaft und den Weg dahin auch in gereimte Worte brachte. Wie damals üblich, eine dazu passende bekannte Melodie dazugenommen und so entstanden Lieder für die neue Bewegung, die diese begeistert annahm. Schon 1878 hatte Morris den Text für ein Anti-Kriegslied verfasst, in einer Protestversammlung den Text verteilt und, selbst kein guter Sänger, im vielstimmigen Chor mitgesungen. Es hatte eingeschlagen.

In „British Socialists and the Politics of Popular Culture 1884-1914“ macht Chris Waters eine Aufstellung über die Verfasser der Lieder in neun sozialistischen Liederbüchern dieses Zeitraums und schreibt:
„Mit vier der vierzehn am häufigsten abgedruckten ragt William Morris als bestrepräsentierter Dichter des Sozialismus in diesen Sammlungen heraus. Die meisten seiner Lieder schrieb er zwischen 1883 und 1886 für den Commonweal und Justice, später wurden sie als Flugschrift von der Socialist League unter dem Titel Chants for Socialists herausgegeben. Ihre Popularität beruhte nicht so sehr darauf, die sozialistischen Überzeugungen auszudrücken, sondern in der Weise, wie sie diese Überzeugungen durch Formen der Bildsprache überbrachten, die den von romantischen Gedichten her bekannten ähnlich waren. Als die bei weitem komplexesten der sozialistischen Lieder porträtierten sie nicht nur in lebhaften Bildern die zukünftige sozialistische Gesellschaft, sondern boten auch eine historische Analyse der Formen der Unterdrückung, die schlussendlich überwunden werden. „The Day is Coming“ ist charakteristisch für ein ganzes Genre romantischer Gedichte, die eine bessere Welt vorstellen: „Kommt hierher Burschen und horchet, was man erzählen tut, von den herrlichen Tagen die kommen, wenn alles wird besser als gut“. Während J. B. Glasier dieses Werk als „die ziemlich schönste Umschreibung des Sozialismus“ ansah, ging „All for the Cause“ weiter und stellte den Kampf in den Fokus, der notwendig sein würde, um zu der neuen Gesellschaft zu gelangen. Im Kontrast dazu versichert Morris in „March of the Workers“ sein Vertrauen in den Ausgang dieses Kampfes, laut den Sieg verkündend: „Kommt und lebt, ein neues Leben ist uns allen nicht verwehrt, und die Hoffnung kommt heran“. “
Das Lied „No Master“ war nach den Erinnerungen von Rudolf Rocker, der ab 1896 in London lebte, die „wahre Hymne der libertären Bewegung“:
nomaster-keinherr

Wie die anderen Lieder ist das weniger eines, das man während der Arbeit singt – also kein Worksong, sondern eher ein Lied für kleinen Chor, zum Vortrag oder gemeinsamem Gesang auf Veranstaltungen. Der Ausschnitt aus Commonweal vom Dez. 1888 mit dem Bericht über die Verabschiedung von Lucy Parsons zur Rückreise nach Chicago zeigt, dass Lieder in dieser Zeit wichtiger Bestandteil jeder öffentlichen Versammlung von Sozialisten waren:

Commonweal 6.12.1888(„Down among the Dead Men“ ist ein weiteres Lied von Morris, „Annie Laurie“ war das Lieblingslied von Albert Parsons.)

Die Lieder von Morris waren geschrieben für eine junge, sich schwunghaft entwickelnde sozialistische Bewegung voller Kampfesfreude, Zuversicht und Ideale. Mit dem Bruch des 1.Weltkriegs wurde die Atmosphäre düsterer, enger und auch die Lieder änderten sich, es kamen wieder andere. Es gibt ein Tondokument aus den 20er Jahren, das einen gewissen Eindruck vermittelt kann,  w i e  diese Lieder damals gesungen wurden.
http://www.bishopsgate.org.uk/content/1431/Recordings-of-Music

edward carpenterÜber die Übersetzerin haben wir bislang nur wenig in Erfahrung bringen können. Erstmal so viel:
Die Verbindung zu Morris‘ Liedern führte über Edward Carpenter (1844-1929), einen bedeutenden Sozialisten, Freidenker und Schriftsteller (siehe engl. Wikipedia). Er war etwa zur selben Zeit wie Morris der Social Democratic Federation beigetreten und beteiligte sich später am Aufbau einer Branch der Socialist League in Sheffield. (In seiner Autobiographie schildert er die Arbeit und die Mitglieder der Gruppe in Sheffield und erzählt über seine Begegnungen mit Morris.) Carpenter tat viel zur Verbreitung sozialistischer Lieder („Chants of Labour“) und druckte auch die Lieder von William Morris. Zu ihm nach England kam also Lilly Nadler-Nuellens und jetzt können wir zitieren aus Sheila Rowbothams Buch über Edward Carpenter:
„Außerhalb Englands wurde Carpenters Werk besonders in Deutschland bekannt, aber auch hier wurde das zunächst durch Enthusiasten befördert. Der Tolstojaner und Aristokrat Graf Ervin Batthyány kam 1901 aus Ungarn um in Millthorpe zu bleiben, wo er mit Carpenter Schubkarren herumschob und Reformpläne ausarbeitete, die er auf seinen Besitztümern einführen wollte. chants of labourBatthyány nahm ein Exemplar von Towards Democracy mit zurück und begann es zusammen mit einer verheirateten Bekannten ins Deutsche zu übersetzen, mit Lilly Nadler-Nuellens. Dabei verliebte sich das Paar. Als Batthyány eine Schule, Werkstätten und einen Leseraum für die Landbevölkerung eröffnete, die noch immer im Stadium der teilweisen Leibeigenschaft lebte, sperrte ihn seine entsetzte Verwandtschaft in eine Anstalt für Geisteskranke und sein Landbesitz wurde unter vormundschaftliche Verwaltung gestellt. Für seine Befreiung führte Lilly Nadler-Nuellens eine energische Kampagne. Lilly Nadler-Nuellens_klDas Paar emigrierte nach England und liess sich in Hampstead nieder. Nach einem jahrelangen juristischen Kampf wurde Batthyány wieder in sein Erbe eingesetzt. Entsprechend einer Erklärung im Daily Telegraph vom März 1913 plante der Graf, seinen Besitz Projekten entsprechend seiner sozialistischen Einstellung zu widmen.“ (aus „Edward Carpenter. A Life of Liberty and Love“)

Lilly Nadler-Nuellens übersetzte mit ihrem Mann zusammen mehrere Bücher von Carpenter.  Auch Pierre Ramus war von ihm begeistert und publizierte zur selben Zeit eine Biographie: Edward Carpenter, ein Sänger der Freiheit und des Volkes. Eine Studie seines Lebens und seiner Werke.  In welcher Beziehung Lilly Nadler-Nuellens und Pierre Ramus standen, ist uns nicht bekannt. Dieser österreichische Anarchist (1882-1942) war die energische, tragende Person bei der zweiwöchentlichen Zeitschrift „Wohlstand für alle“ (1907-1914). In diesem Wiener Verlag wurden die „Lieder der Arbeit“ 1909 veröffentlicht.

Kurze Meldung in Wohlstand für Alle vom 3. Januar 1909:
„Mit Beschlag belegt von der bekannten staatsanwaltlichen Geistesdressur – Schande unserer Zeit, du bist übertroffen – wurde unsere Ausgabe der William Morris-Gedichte, die unter dem Gesamttitel „Lieder der Arbeit“ erscheinen sollten. Angeblich enthält das Vorwort und die Einleitung Staats- und Eigentumvernichtendes. Gegen den Ukas wurde Berufung eingelegt.“
Um dem Ansinnen der Zensur nachzukommen, findet sich, dass auf Seite 4 in der Einleitung von William Morris ein Wort durch Auslassungspunkte ersetzt wurde, das im Deutschen und Englischen gleich ist und mit „R“ beginnt …
Hier das wunderbare Vorwort:Lieder der Arbeit Vorwort

Interessant ist, dass das deutschsprachige Liederheft dem englischen Original nachgemacht ist und der Holzschnitt als Emblem der Socialist League über zwanzig Jahre später mit dem Namen des Verlags wiederverwendet wurde. Mehr noch: auch die Zeitschrift Wohlstand für Alle trug genau dieses Emblem als Titelkopf vom Januar 1910 an etwa zwei Jahre lang. Unter der Rubrik „Briefkasten“ erschien in der zweiten Januar-Ausgabe auf einen Leserbrief hin folgende Erklärung:
Wohlstandfueralle„Falsch geraten. Unser neuer Kopf des Blattes ist nicht dem genannten tschechischen Bruderblatt entnommen, sondern dieses entnahm das Bild wahrscheinlich derselben Quelle, die auch zur Ausführung unseres Zweckes diente. Das Kopfbild des „W. f. A.“ ist überhaupt nicht neu, es ist von dem englischen Freisozialisten und Künstler Walter Crane entworfen und war dessen Geschenk an den großen Menschen und Denker William Morris, als dieser sein soz.-anarch. Blatt „The Commonweal “ in den achtziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts begründete. Diesem Blatte haben wir das gegenwärtige Kopfbild des „W. f. A.“ entnommen.“
Einzelne Artikel dieser hoch zu bewertenden Zeitschrift sind über http://www.anarchismus.at zu studieren, weitere Informationen gibt es über http://www.ramus.at. In der Ausgabe vom 22. Mai 1910 findet sich z.B. etwas über Edward Carpenter und über den siegreich beendeten Free-Speech-Fight in Spokane im Nordwesten der USA („Ein politischer Sieg der direkten Aktion.“) Dieser Erfolg für die Versammlungs- und Redefreiheit wurde von den Industrial Workers of the World unter großen Opfern durch Polizeibrutalität erzwungen. In dieser militanten Arbeiterorganisation hatte das Singen eine ganz große Bedeutung. Hier schließt sich wieder ein Kreis zu Morris, denn in die dritte Ausgabe des Little Red Songbook, die im Sommer 1910 in Spokane gemacht wurde, wurde das Lied „All for the Cause“ von William Morris aufgenommen. Die nächste Ausgabe sollte dann den ersten Song von Joe Hill enthalten, „The Preacher and the Slave“

Literatur:
Aufsätze von Christopher Waters und Nicolas Salmon
J.P.Glasier: Socialism in Song. An Appreciation of William Morris‘ Chants for Socialists und
Archie Green über die Brücke von Morris zur Folkmusic
Notenblätter im Folkmusic-Archiv

Dieser Beitrag wurde unter Texte von William Morris veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.