Fritz Schumacher über John Ruskin (und William Morris)

JR-1853John Ruskin ist ein seltsames Beispiel dafür, dass selbst in unseren Tagen, wo die Presse so eifrig aufmerkt, jede interessante und maßgebende Erscheinung in den Kreis ihrer Betrachtung zu ziehen und literarisch auszubeuten, dennoch ein Mann in Deutschland so gut wie unbekannt bleiben kann, der im Nachbarlande seit Jahren eine führende Rolle behauptet, und zwar eine Rolle in gerade der Bewegung, die uns in höchstem Grade in Mitschwingung versetzt hat. – Der Name Ruskin erweckt in jedem einigermaßen gebildeten Engländer die Vorstellung eines ganzen künstlerischen und sozialen Programms; in Deutschland ist er in den letzten Wochen streifend erwähnt, wenn von englischer Kunst die Rede war, aber noch heute muss man von Fachleuten der Frage gewärtig sein, ob das ein moderner russischer Dichter sei; in England weiß ein jeder, dass dieser Mann der geistige Vater jener englischen Kunstrenaissance ist, die als sogenannte „moderne Richtung“ anfängt, die ganze Kunstgewerbewelt in Bewegung zu setzen – in Deutschland ist kein einziges seiner zahlreichen Werke übersetzt worden. In England zahlt man die wahnsinnigsten Preise für alte Auflagen seiner Schriften, man hat zahlreiche Ruskin-Gesellschaften gegründet und eine Zeitschrift zur Verbreitung seiner Gedanken ins Leben gerufen – in einer Stadt wie Leipzig ist nicht ein einziges seiner Bücher in irgendeiner der reichen Bibliotheken vorhanden. – Und das ist nicht ein Mann, der etwa in den letzten Jahren als glänzender Stern einer Moderichtung auftaucht, sondern ein Mann, der Englands Geister seit den vierziger Jahren (er wurde 1819 geboren) in steter Erregung hält; ein Mann, von dessen Werk Carlyle sagt: „Jegliches Wort ist mir nicht nur aus dem Herzen, sondern ist vom ewigen Himmel herab gesprochen, es sind mit empyräischer Weisheit geflügelte Worte“; ein Mann, dem nebenbei gesagt, die Engländer fast ausnahmslos den Ruhm zuerkennen, der beste lebende Stilist ihrer Sprache zu sein.
Es ist nicht leicht, von dieser umfassenden und komplizierten Persönlichkeit in wenigen Strichen eine richtige Vorstellung zu geben, und doch muss man versuchen, wenigstens einige Züge seiner Gesamterscheinung festzustellen, wenn man seinen Einfluss auf die moderne Kunst- und Kunstgewerberichtung wirklich verstehen will.
Ruskin ist vor allem ein begeisterter Feind der modernen Kulturentwicklung. Seine idealistische Weltanschauung sieht in ihr auf allen Gebieten des menschlichen Lebens die Zerstörerin der edlen Keime. Der Grundgedanke all seines Wirkens ist deshalb ein Zurückgehen zur Natur. Diesen Gedanken würde er ja mit manchem anderen Idealisten teilen; was ihn bei Ruskin so interessant und wirkungsvoll macht, ist sein Ausbau in die detailliertesten praktischen Vorschläge hinein und die wahrhaft heldenhafte Konsequenz, mit welcher der Prediger, wo immer er konnte, in praktischen Unternehmungen sein Wort in die Tat umzusetzen versuchte.
Sein Vater hinterließ ihm ein sehr bedeutendes Vermögen und so war er imstande, kostspielige Experimente zu machen und seinen eigenen Weg trotz des Kopfschüttelns der Menge zu gehen. Die strenge und liebevolle Erziehung, die er von hochbegabten Eltern in steter Fühlung mit der Natur genoss und die frühzeitige Ausdehnung dieses Naturgefühls durch große Reisen auf dem Kontinent geben seinem Geiste das entscheidende Gepräge. Zuerst äußerte sich das ungewöhnliche Verständnis für die umgebende Welt, das durch die eifrigsten Übungen mit Stift, Pinsel und Radiernadel vertieft wurde, vorwiegend auf rein künstlerischem Gebiete. In seinen „Modern Painters“ (1843 – 1860) gab Ruskin eine Anleitung zur Naturbeobachtung und zeigte eine Fähigkeit, das feinste Weben einer Landschaftsstimmung zu analysieren, wie sie wohl selten wieder erreicht ist; indem er diese Beobachtungen zu Grundsätzen für die Malkunst ausbaute, wurde er vor allem zum Apostel seines genialen Landsmannes, des Landschafters Turner. – Immer von diesem begeisterten Naturgefühl geleitet, legte er in den Werken „Stones of Venice“ (1851 – 1854) und „Seven Lamps of Architecture“ seinen ästhetischen Maßstab an das Gebiet der Architektur und der eng mit ihr verbundenen angewandten Künste. Der Widerstreit aber, der sich hier zwischen seinen idealen Forderungen und dem Schaffen seiner Zeitgenossen ergab, führte ihn dazu, dem letzten Grund der unerfreulichen künstlerischen Erscheinungen nachzuspüren und das brachte ihn auf das Gebiet der sozialen Fragen.
„Wenn das Quellwasser des Volkslebens getrübt und sein Lauf unlauter wird, so erlangt man keine hellschimmernden Wasserstrahlen vermittelst mathematischer Abhandlungen über ihre Formation“ – das war der Gedanke, von dem er ausging, und hinfort suchte er seine künstlerischen Ideale dadurch zu erreichen, dass er von der nationalökonomischen Seite eine Reform einzuleiten strebt.
In der Erkenntnis diesen engen Zusammenhangs zwischen der Art und nicht dem Grad der wirtschaftlichen Entwicklung mit der Höhe der künstlerischen Errungenschaften liegt wohl die hauptsächliche Bedeutung von Ruskins Wirken.
Ihr entspringen zahlreiche nationalökonomische Schriften, von den „Unto this last“ (1860) und „Fors claviga“ (1871 – 84), acht Bände an die Arbeiter Englands gerichteter Briefe, wohl die bedeutendsten sind; ihr entspringen jene praktischen Versuche, denen er sein Vermögen widmete, und die in der Form der kunstgewerblichen Arbeiterschulen, an denen er selbst unterrichtete, oder in Arbeiterkolonien, die er auf eigenem Boden nach seinen Prinzipien schaffen und wirken ließ, einen ebenso weiten Einfluss ausübten, wie die glänzenden Reden, zu denen sich das gebildete England in seinen Hörsaal zu Oxford drängte, und jene Wanderpredigten, mit denen er unermüdlich seine schwere Mission auszubreiten suchte.
Der Grundgedanke, von dem er hier ausgeht, entspringt wiederum seinem engen Verhältnis zur Natur, die Zustände, die sich aus ihr ergeben, werden ausgespielt gegen das raffinierte theoretische und praktische System, das die moderne Entwicklung auf allen sozialen Gebieten großzieht.
Wir hören heute so oft mit einer gewissen Verwunderung konstatieren, dass unser Jahrhundert in allen technischen Seiten solch gewaltige Entwicklung aufzuweisen hat und dabei auf kunstgewerblichem Gebiet ein völliges Stagnieren zeigt; Ruskin verwunderte sich nicht darüber, sondern er sieht in dieser verblüffenden technischen Entwicklung eben den Grund zum Ruin des edlen Gewerbes.
In diesem Sinne bekämpft er in erster Linie das Prinzip der Arbeitsteilung, das unserem heutigen gewerblichen Schaffen den Stempel aufdrückt. Die systematische Trennung von Geistes- und Handarbeit erscheint ihm als ein schwerer wirtschaftlicher Irrtum, nicht nur, dass sie in ihrer Konsequenz zum tiefen sozialen Gegensatz zwischen dem krankhaften Denker, der sich als „Gentleman“ fühlt, und dem elenden Arbeiter, der sich unterjocht glaubt, führt – nein, vor allem leidet die gesunde Entwicklung der Arbeit selbst darunter: das Erfinden gerät auf abstrakten Boden, der Ausführung fehlt die Liebe und wir warten vergebens auf Werke, die sich messen können mit den kunstgewerblichen Leistungen jener Epochen, wo Geist und Hand liebevoll miteinander arbeiteten.
Ruskin erkennt wohl, dass es Gebiete gibt, wo die Forderung dieses Zusammenarbeitens nicht unbedingt erfüllt werden kann, da aber wendet er sich gegen die noch weit schlimmere Arbeitsteilung, die nun auch noch die Ausführungsarbeit zerlegt in ihre kleinsten technischen Etappen und den Menschen vollends zur Maschine herabdrückt. „Richtig gesprochen ist es nicht die Arbeit, die man teilt, sondern die Menschen“, man „erstickt die Seele“ und darf sich nicht wundern, wenn der Stempel des Seelenlosen so die Fabrikmarke der modernen Produkte wird. – Mit einem Worte, in der Rückführung des gewerblichen Schaffens auf den alten einfachen Boden des Handwerks erblickt Ruskin die erste Vorbedingung zu einem würdigen sozialen Zustand und zugleich zu einem gedeihlichen kunstgewerblichen Schaffen.
Gegenüber der Sucht nach der maschinenmäßigen Korrektheit und Gleichmäßigkeit der Ausführung sieht er den Wert eines Werks allein in dem Hauch persönlicher Arbeit, die ihm anhaftet, mag sie auch viel unbeholfener auftreten als die dampferzeugte Konkurrenz und mit viel feinfühlendem Scharfsinn legt er dar, wie der Eindruck des Lebens, den ein Werk der Architektur oder der angewandten Kunst auf uns macht, vor allem in den keinen Ungenauigkeiten und Verschiedenheiten besteht, die der ausführenden Hand gewollt und ungewollt unterschlüpfen und die dem Maschinengeist als Fehler erscheinen würden.
Das sind Gedankengänge, die so im Extrakt wiedergegeben vielleicht etwas Selbstverständliches an sich zu haben scheinen aber man schaue nur um sich und vergegenwärtige sich, wie wenig heutzutage nach ihnen gearbeitet wird und wie selten im Publikum überhaupt der Sinn für solche Unterscheidungen geweckt ist. Ruskins Bestreben geht deshalb darauf hin, nicht nur den Produzenten auf seine natürlichen Wege zurückzuleiten, sondern auch dem Konsumenten das richtige Verständnis für das Natürlich-Schöne wiederzugeben und ihm die Aufgabe zu Bewusstsein zu bringen, die er seinerseits zu erfüllen hat, um eine gesunde Entwicklung möglich zu machen. „Man ermutige niemals die Anfertigung eines nicht absolut notwendigen Gegenstandes, der ohne Mithilfe künstlerischer Konzeption hergestellt wird“ und „Man ermutige niemals Imitation oder Nachbildung irgendwelcher Art, außer wo es sich darum handelt, von einem großen Werk eine Art Urkunde zu bewahren.“ – Das sind zwei der Grundregeln, zu denen er den Käufer zu erziehen sucht und Menschenliebe und Kunstenthusiasmus reichen sich auch hier bei ihm brüderlich zum selben Ziel die Hände.
Sind dies vom national-ökonomischen Gesichtswinkel aus in kargem Gerippe die in Ruskins Schriften reich und geistreich ausgebauten und variierten Grundzüge seiner Lehre, so greifen die Ideen, die er, von ästhetischen Gesichtspunkten ausgehend, für das künstlerische Schaffen entwickelt, eng und lückenlos in dieses System ein.
Sie treten uns vielleicht am konzentriertesten in den „Seven Lamps of Architecture“ entgegen, denen wir deshalb im Folgenden vor allem nachzugehen suchen. – Schon der Titel dieses Werks, der auf eine biblische Vorstellung zurückweist, deutet eine Ruskin’sche Eigentümlichkeit an, die der Leser nicht immer ohne Widerspruch hinnimmt, die Eigentümlichkeit, ästhetische Gesetze mit religiösen Anschauungen in eine gewisse Wechselbeziehung zu setzen.
Ruskin wird dazu geführt durch die ganz richtige Auffassung, dass ästhetische Forderungen sehr oft mit ethischen Begriffen eine gewisse Verwandtschaft haben und man muss hervorheben, dass er immer, wenn er auch von einem schwärmerisch gefärbten Gedankengang ausgeht, schließlich realen und praktischen Boden unter die Füße bekommt und es sich nicht mit dem bloßen Gefühlsstandpunkt genügen lässt.
Er fasst die Architektur und die mit ihr zusammenhängenden angewandten Künste als das Mittel auf, um den höchsten Impulsen menschlichen Empfindens Ausdruck zu verleihen und demgemäß stellt er seine Forderungen. Die Architektur soll das Bewusstsein haben, dass eine historische Verantwortlichkeit auf ihr ruht: „Die Völker vergehen, graue Haufen tiefgefurchter Steine lassen sie einzig zurück. Sie nehmen mit sich ins Grab ihre Macht, ihre Ehren und ihre Irrtümer, aber sie lassen uns die Zeugen ihrer höchsten Verehrung.“ Und aus dieser historischen Bedeutung, welche die Architektur zu der Kunst macht, ohne die wir keiner geschichtlichen Erinnerung fähig sind, folgert Ruskin zwei Grundsätze, für die er in lebhafter Weise eintritt: die pietätvolle Erhaltung der alten Bauwerke, ohne dass die Hand eines Restaurators den ursprünglichen Hauch der Zeit von ihrem Antlitz streift und das Bestreben, der Architektur der Gegenwart so energisch wie irgend möglich den Stempel unserer Tage aufzudrücken. Meist finden wir heute diese beiden Grundsätze im Streit miteinander; die Verehrung des Alten hat eine tote Nachahmekunst gezeitigt und die Vertreter eines echt-modernen Stils pflegen bestrebt zu sein, rücksichtslos ihrem künstlerischen Willen Geltung zu verschaffen. Um so wichtiger war es für die englische Entwicklung, in Ruskin einen Prediger zu finden, der die gesunden Seiten beider entgegengesetzten Richtungen aus einer Wurzel logisch entwickelte. – Vor allem wies er auf die Ausbildung des eigenen Heimes hin, als derjenigen Stätte, wo jeder Mensch naturgemäß berufen ist, ein historisches Denkmal seiner Person zu errichten; das Wohnhaus soll den individuellen Geschmacksstempel tragen und wo irgend möglich von dem höheren Gesichtspunkt aus betrachtet werden,der Abglanz der Familienentwicklung eines Geschlechts zu sein. Das sind Grundsätze, die in England nicht unbeachtet geblieben sind, wenn sie sich in der nervösen hast unserer tage auch nie praktisch allgemeinen Boden erobern können.
Ruskin unterschied zwei besondere Arten von Gebäudeauffassung, deren jede das oben angedeutete Ziel der Architektur in verschiedener Weise zu erreichen strebt; er nennt sie „die Werke der Kraft“ und „die Werke der Schönheit“ und meint damit etwa den typischen Unterschied von Bauten, deren Wirkung vorwiegend in ihrer Masse und in ihrer Silhouette liegt und von Bauten, die zu uns sprechen durch die feinsinnige Behandlung ihrer Formenwelt und ihres Schmuckes; es ist der Unterschied zwischen ernst-architektonischer und heiter-ornamentaler Wirkung. Ruskin sucht für beide das Verständnis zu wecken. Er preist die Wirkung der großen Linie, der zu Liebe alles andere zurückstehen muss und gibt der Sehnsucht unserer sorgsam zusammenstoppelnder Zeit nach jenem Zyklopengeist, der in Steinen träumt und mit Schattenmassen koloriert, beredten Ausdruck. Und wie das immer seine Art ist, er klagt und sehnt nicht nur sondern er sucht praktische Vorschläge zu entwickeln, um dem alten Geist wieder nahe zu kommen: er zeigt die Wichtigkeit der Fugen für den Eindruck eines Bauwerks, er betrachtet die Wirkungsnuancen, die durch verschiedene Steinbehandlung erreicht werden; er verlangt Fläche, er warnt vor dem allzu beliebten Auflösen in Risalite, wo man große Linien durchgehen lassen kann – kurz, ohne doktrinär zu werden zeigt er an Beispielen, die meist der Gotik des 13. Jahrhunderts, die Ruskin besonders bevorzugt, entnommen sind, wo das Geheimnis der großen Wirkung ruht.
In den sogenannten „Werken der Schönheit“ interessiert ihn vor allem die Behandlung des Ornaments, und hier ist der Punkt, wo er in erster Linie reformatorisch gewirkt hat. Mit begeisterten Worten predigt er die Rückkehr zur Natur, er weist auf die unübertroffene ornamentale Wirkung der natürlichen Pflanze hin und erörtert die Kompositionsarten, zu der ihre Verwendung in der dekorativen Kunst führen kann. Interessant sind dabei seine Ansichten über Farbe, die er in weit umfangreicherer Weise in unsere Alltagswelt eingeführt sehen möchte, als das gewöhnlich geschieht; mit seinem Verständnis führt er aus, dass die höchste Ausführung von Form und Farbe sich aus dem Wege geht und niemals parallel geführt werden sollte. Stark koloristische Effekte sind an möglichst einfachen Gestaltungen am wirkungsvollsten, während die fein ausgebildete und komplizierte Formenwelt nicht in ihrer Wirkung durch Farbe gesteigert zu werden vermag. Das ist ein der Natur abgelauschtes dekoratives Prinzip, das vielleicht unbewusst in der englischen kunstgewerblichen Entwicklung eine große Rolle spielt, wie denn alle diese Anschauungen einen starken praktischen Widerhall gefunden haben, vielleicht noch mehr übertragen auf die dekorative Kunst als auf die Architektur.
In Ruskins ganzem Wesen und in der Art, wie er seine Ansichten hinstellt, liegt durch die echte und reine Begeisterung, die daraus hervorstrahlt, eine so eindringliche Macht der Propaganda, dass wir den seltenen Fall wohl begreifen, dass ein Kunstschriftsteller Schule macht. Und dieser Schule gehört die Gegenwart.

William Morris war es, der mit der schier übermenschlichen Tatkraft, die ihm innewohnte, sich zum praktischen Träger der Ruskin’schen Ideen machte. Mit jener Allseitigkeit, die ihn direkt neben die Universalgenies der italienischen Renaissance stellt, griff er selber an allen Seiten mit gleich praktischem Sinne zu und ermöglichte es anderen, mit ihm zu arbeiten. Es entstanden jene berühmten Werkstätten, wo die Schöpfer zugleich die ausführenden Meister waren, wo unter seiner Leitung das Schaffen von Burne-Jones, Walter Crane, Ford Maddox Brown, Voysey und vieler anderer ganz neue, immer weitere Kreise ziehende Ansprüche an Geschmack und Technik entwickelte. Die Glasmalerei, die Webekunst, Möbeltischlerei, Töpferei, Schmiedearbeit, Reproduktionsverfahren und Buchdruckerkunst wurden in Musterleistungen zur höchsten Vollendung geführt und all diesen Werken, die heute schon dem Fluch nicht entgehen können, dass ihre Eigenart von blöden Nachahmern zur Karikatur verzerrt zu werden droht, fühlt man es an, wie der schaffende Künstler sein Werk bewachte, bis es in der Wirklichkeit dastand als wahrer Zeuge seines Geistes.
Wie Morris auch theoretisch die nationalökonomischen Ideen Ruskins weiterführt, das zu verfolgen würde hier zu weitläufig sein, interessiert es uns doch vor allem zu sehen, wie die gesunden Ideen Ruskins den Boden bereitet haben, auf dem dann die Pflanze der neuen englischen Kunstbewegung gleichsam von selber erwachsen musste. Diesen Entwicklungsgang sollten wir uns zum Muster nehmen, wenn wir ein ähnliches Ziel erreichen wollen; wir müssen uns hüten, bald hier bald da Stecklinge schöner fremder Gewächse auf unseren unvorbereiteten Boden verpflanzen zu wollen, und was etwa von selber ersprießt auf unserem Feld, das müssen wir zu erziehen suchen nach jenen gesunden Grundprinzipien, denen sich wohl jede Äußerung echter Individualität in der Kunst ohne weiteres anpasst, nicht aber das Gekünstelte und Bizarre.
Und wenn Ruskins Werke auch in Deutschland kein Lehrbuch werden mögen, so verdienen sie doch bei uns eine größere Verbreitung, nicht nur wegen ihrer historischen Bedeutung in einer für uns sehr wichtigen Entwicklungskette, sondern vor allem, weil ein großdenkender und geistreicher Mann aus ihnen mit ungewöhnlich klaren Augen herausblickt.

John Ruskin – der Apostel der modernen englischen Kunstbewegung, in: Kunst und Handwerk (1897), Zeitschrift des Bayerischen Kunstgewerbevereins
Bild: Gemälde von John Everett Millais, 1853

Fritz Schumacher (1869 – 1947) war Architekt, Stadtplaner, Baubeamter  und Hochschullehrer. Nach Stationen in München und Leipzig wirkte er herausragend jahrzehntelang in Hamburg.

Diesen Artikel haben wir ausgewählt als gute Einführung zu John Ruskin, der großen Einfluss auf William Morris hatte. Zum anderen zeigt er auch die Beachtung, die Morris damals in Deutschland fand mit Auswirkung auf Jugendstil, Werkbund und später das Bauhaus. Dieser Einfluss war allerdings stark gebrochen durch die nationalistischen Tendenzen in Deutschland, durch die Verbündung der deutschen Reformer mit der Industrie und eine viel schwächere, bald verschwindende soziale Zielsetzung.
Fritz Schumacher hielt 10 Jahre nach diesem Artikel bei der Gründung des Deutschen Werkbundes im Oktober 1907 in München die Grundsatzrede. Sie zeigt in vielem noch den Duktus der aus England übernommenen Ideen, aber der arbeitende Mensch steht nicht mehr so im Mittelpunkt und wird tendenziell verdrängt durch die „wirtschaftlichen Werte“.

Postwachstums-Blog: Die Avantgarde der sozial-ökologischen Transformation

Dieser Beitrag wurde unter Texte über William Morris veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.