Kunst und Sozialismus

Meine Freunde, ich möchte, dass Ihr Euch die Beziehung zwischen Kunst und Kommerz näher anseht. Unter Kommerz verstehe ich hier jenes marktwirtschaftliche Konkurrenzsystem, das viele Leute heutzutage für das einzig mögliche halten.
Es gab natürlich Zeiten in der Geschichte, da war die Kunst wesentlich wichtiger als der Kommerz. Kunst galt viel, Kommerz – im heutigen Sinne – nur wenig. Heutzutage aber ist es genau umgekehrt: ich nehme an, jeder wird zugeben, dass der Kommerz jetzt von sehr großer Bedeutung ist und die Kunst von sehr geringer.
Jeder wird das zugeben, aber natürlich werden verschiedene Leute sehr unterschiedlicher Ansicht darüber sein, ob das nun gut oder schlecht ist; vor allem darüber, was es wirklich beinhaltet, wenn wir sagen, dass Kommerz heute von höchster Wichtigkeit ist, Kunst dagegen völlig unwichtig. Erlaubt mir zu sagen, was es meiner Meinung nach beinhaltet; danach werde ich Euch bitten zu überlegen, welche Mittel man anwenden könnte, um das Übel in der Beziehung zwischen Kunst und Kommerz zu heilen.
Offen gesagt, mir erscheint der Vorrang des Kommerz als ein Übel, und zwar als sehr schwerwiegendes. Ich würde dieses Übel sogar als absolut negativ betrachten, zöge sich da nicht eine seltsame Kontinuität durch die Geschichte, die beweist, dass alles Schlechte, was einer bestimmten Epoche angehört, sich nach und nach selbst abschafft.
Für mich beinhaltet die Herrschaft des Kommerz, dass die moderne Zivilisation durch ihre Gier, einen sehr ungleichmäßig verteilten materiellen Wohlstand zu erlangen, die Volkskunst völlig unterdrückt hat. Mit anderen Worten: die meisten Menschen haben nicht den geringsten Anteil an der Kunst; diese bleibt, wie die Dinge jetzt liegen, ganz einigen reichen Leuten vorbehalten, die sie sicher weniger – oder jedenfalls nicht dringender – brauchen als die geplagten Arbeiter.
Und das ist noch nicht einmal das ganze Übel und bei weitem noch nicht seine schlimmste Seite. Der Grund für diese Hungersnot der Kunst ist, dass die Leute, die in der zivilisierten Welt heute so mühevoll arbeiten wie ehedem, die Kunst – die von ihnen und für sie gemachte – und somit den einzigen natürlichen Trost, den diese Arbeit ihnen gab, verloren haben. Dieser Trost, den sie früher einmal hatten und den sie immer haben sollten, besteht in der Möglichkeit, den Mitmenschen ihre Gedanken durch ihre Arbeit mitzuteilen, durch jenes tägliche Schaffen, das die Natur oder langjährige Gewohnheit – eine zweite Natur – ihnen zwar abverlangt, aber ohne zu fordern, dass die Arbeit zur unbelohnten und widerwärtigen Last werde.
Aber durch eine seltsame Blindheit, einen Fehler der Zivilisation unserer Tage, geschah folgendes: fast die gesamte Arbeit auf dieser Welt – von der wenigstens ein Teil den Menschen hätte helfen sollen – ist zu einer derartigen Last geworden, dass jeder Mensch sie abschütteln würde, wenn er nur könnte. Ich sagte, die Leute arbeiten heute nicht weniger mühselig als früher; ich hätte sagen sollen, sie arbeiten noch mühseliger.
Die wundervollen Maschinen, die in den Händen gerechter und vorausschauender Menschen hätten benutzt werden können, um abstoßende Arbeit auf ein Mindestmaß zurückzuschrauben und den Menschen Freude – oder, mit anderen Worten, mehr Zeit zu leben – zu schenken, wurden zum genau entgegengesetzten Zweck benutzt. Sie haben alle Menschen in nichts als ungestüme Hast und Eile getrieben und so allenthalben die Freude – und damit das Leben – zerstört. Anstatt den Arbeitern ihre Arbeit zu erleichtern, haben sie diese noch anstrengender gemacht. Dadurch haben sie die Last, die die Armen zu tragen haben, zusätzlich erschwert.
Auch kann es dem System der modernen Zivilisation nicht zugute gehalten werden, dass der rein materielle Ertrag daraus den Verlust an Freude, den es der Welt eingebracht hat, ausgleichen würde. Denn wie ich schon angedeutet habe, sind diese Gewinne so ungerecht verteilt, dass sich der Unterschied zwischen Arm und Reich in erschreckendem Maße verschärft hat. Daher ist in allen zivilisierten Ländern, vor allem aber in England, das schreckliche Trauerspiel zweier Völker zu betrachten, die kaum einen Steinwurf voneinander entfernt, ja sogar Tür an Tür leben – Leute gleichen Blutes, gleicher Sprache und zumindest nominell den gleichen Gesetzen unterworfen – und doch: die einen sind zivilisiert und die anderen sind unzivilisiert.
Dies alles ist, wie ich meine, die Konsequenz aus einem System, das die Kunst niedergetrampelt und den Kommerz zur geheiligten Religion erhoben hat. Und es scheint fast so, als sei dieses System aufgrund seiner beängstigenden Denkfaulheit, die sein hervorstechendstes Merkmal ist, bereit, jener edlen Warnung des römischen Satirikers Hohn zu sprechen, indem es sie ins Gegenteil verkehrt und uns nun allen gebietet, »um des Lebens willen alles das zu zerstören, was das Leben lebenswert macht.«
Und dieser Tyrannei der Dummheit zum Trotz stelle ich, im Namen der durch den Kommerz versklavten Arbeit, eine Forderung auf, von der wohl kein denkender Mensch behaupten kann, dass sie nicht vernünftig sei. Entspräche man dieser Forderung, so würde die damit einhergehende Veränderung den Kommerz besiegen. Das heißt, es gäbe dann Zusammenarbeit anstelle von Konkurrenz und soziale Ordnung anstelle individualistischer Anarchie.
Ich habe diese Forderung unter historischen Gesichtspunkten und vor meinem eigenen Gewissen sorgfältig geprüft, und so gesehen erscheint sie mir äußerst gerecht. Widerstand gegen sie bedeutet nichts anderes als eine Absage an die Hoffnung der Zivilisation.
Dies nun ist die Forderung:
Es ist richtig und notwendig, dass alle Menschen Arbeit haben sollten, die zu tun sich lohnt und die als solche schon Freude bereitet. Sie sollte unter solchen Umständen geleistet werden, die sie weder zu ermüdend noch zu sorgenvoll machen.
Drehen Sie diese Forderung so lange hin und her und denken Sie darüber nach, solange es geht: ich finde sie nicht übertrieben. Und ich sage es noch mal: das Gesicht der Welt würde sich ändern, wenn die Gesellschaft diese Forderung zulassen würde oder könnte. Unzufriedenheit, Zwietracht und Unehrlichkeit würden aufhören. Welches Gefühl bedeutete es, eine Arbeit zu machen, die den anderen nützt und uns Freude bereitet, und zu wissen, dass solche Arbeit und ihre angemessene Entlohnung uns nicht knapp werden könnten! Welcher ernsthafte Schaden könnte uns dann noch entstehen? Und der Preis, der bezahlt werden muss, um die Welt auf diese Weise glücklich zu machen, ist eine Revolution: Sozialismus statt Laissez-faire.
Was können wir als Angehörige der Mittelklasse tun, um diesen Zustand beschleunigt herbeizuführen? Einen Zustand, der, soweit möglich, die Umkehrung des jetzigen wäre?
Die Umkehrung, nichts weniger als das. Als Erstes also: Die Arbeit muss es wert sein, getan zu werden. Denkt nur, wie das die Welt verändern würde! Ich sage Euch, mir wird schwindlig, wenn ich daran denke, was für eine immense Menge an Arbeit darauf verschwendet wird, nutzlose Dinge zu produzieren.
Es wäre ein lehrreiches Tagewerk für jeden von uns, der nur kräftig genug ist, an einem normalen Werktag durch zwei oder drei von Londons Hauptgeschäftsstraßen zu wandern und sich mal genau anzusehen, wie vieles in den Schaufenstern beschämend töricht oder überflüssig ist für das Leben eines ernstzunehmenden Menschen.
Ja, die meisten dieser Dinge will überhaupt niemand, egal, ob er ernst zu nehmen ist oder nicht. Nur dumme Angewohnheit lässt auch nur die Naivsten unter uns denken, sie bräuchten und wollten diese Dinge, und für viele der Leute, die sie kaufen, bedeuten sie nichts als lästigen Schnickschnack, der sie von richtiger Arbeit, richtigen Gedanken und richtiger Freude abhält. Aber ich bitte Euch, denkt an die Unzahl von Menschen, die mit diesem armseligen Plunder beschäftigt sind, angefangen bei den Ingenieuren, die die Maschinen, die zu seiner Produktion nötig sind, herstellen mussten, bis hinunter zu den unglücklichen Büroangestellten, die Tag für Tag und Jahr für Jahr in den schrecklichen Höhlen sitzen, in denen der Verkauf an die Einzelhändler stattfindet, bis zu den Verkäufern, die den Plunder – weil sie Angst haben, ihrer Überzeugung gemäß zu handeln – unter unzähligen Beleidigungen, gegen die sie sich nicht wehren dürfen, an die müßige Kundschaft verkaufen, die ihn zwar nicht will, aber doch kauft, um sich damit zu langweilen und ihn schließlich satt zu kriegen.
Ich rede hier über die nur nutzlosen Dinge. Es gibt aber auch Dinge, die sind nicht nur nutzlos, sondern nachgerade zerstörerisch und schädlich, und doch stehen sie auf dem Markt hoch im Preis, wie z. B. verfälschte Nahrungsmittel und Getränke. Die Anzahl der Sklaven ist riesig, die der wettbewerbsorientierte Kommerz beschäftigt, um derartig Schändliches herzustellen. Ganz abgesehen davon wird eine enorme Menge Arbeit schlicht und einfach verschwendet. Abertausende Männer und Frauen produzieren durch schreckliche, unmenschliche Plackerei, die die Seele tötet und sogar die bloße physische Existenz verkürzt, nichts anderes als nichts.
Sie sind alle Sklaven davon, was als Luxus bezeichnet wird und in der modernen Bedeutung des Wortes eine Menge von Scheingütern umfasst – als Erfindung des konkurrenzorientierten Kommerz. Der Luxus versklavt nicht nur die Armen, die sie herstellen müssen, sondern auch jene dummen und nicht einmal besonders glücklichen Leute, die ihn kaufen, um sich mit diesem lästigen Plunder zu quälen.
Wenn wir nun eine Volkskunst haben wollen, oder eigentlich nur irgendeine Art von Kunst, müssen wir sofort ein für allemal Schluss machen mit dem Luxus! Er ist der Ersatz, der Wechselbalg der Kunst, und zwar so täuschend ähnlich, dass er von jenen, die nichts davon verstehen, sogar für Kunst gehalten wird, für den göttlichen Trost in menschlicher Arbeit, für den Glanz und Zauber der schwierigen Kunst des Lebens, die sich jeden Tag neu bewähren muss.
Weder die Kunst noch der Selbstrespekt irgendeiner Klasse können neben dem Luxus leben. Verweichlichung und Brutalität sind seine Gefährten zur Rechten und zur Linken. Ihn müssen wir, die Angehörigen der wohlhabenden Klassen, als erstes los werden, wenn es uns ernst ist mit dem Wunsch nach einer Neugeburt der Kunst; wenn nicht, dann wird sich der Gesellschaft ein fürchterlicher Abgrund von Niedergang und Korruption auftun, aus dem tatsächlich auch die Neugeburt der Gesellschaft kommen könnte, aber dann sicherlich begleitet von Terror, Gewalt und Elend.
Wenn wir – die Wohlhabenden – uns nur von diesem Haufen Schund befreien würden, wäre das schon etwas, was den Aufwand wert ist: den Dingen, von denen alle wissen, dass sie unnütz sind. Ja, die Kapitalisten wissen selber genau, dass es keine wirkliche, gesunde Nachfrage danach gibt und sind deshalb gezwungen, sie der Öffentlichkeit anzudrehen, indem sie einen seltsamen, fieberhaften Drang nach belangloser Aufregung anfachen, für den das äußere Merkmal traditionellerweise die Mode ist – ein seltsames Monster, geboren aus der Leere im Leben reicher Leute und der Begierde des konkurrierenden Kommerzes, um so viel wie möglich aus dem riesigen Arbeiterheer herauszuholen, das er als ungeachtetes Werkzeug fürs Geldmachen heranzüchtet.
Haltet es nicht für zu einfach, diesem Monster der Torheit zu widerstehen: Euch zu überlegen, was Ihr selber wirklich wollt, wird Euch nicht nur zu Männern und Frauen machen, sondern es wird Euch auch zum Nachdenken über die gerechtfertigten Wünsche anderer Menschen anregen. Und sobald Ihr ein wirkliches Kunstwerk kennenlernt, werdet Ihr herausfinden, dass Sklavenarbeit nicht wünschenswert ist.
Und hier, wenigstens als ein kleines Zeichen, an dem man zwischen modischem Firlefanz und Kunstwerk unterscheiden kann: während die modischen Spielzeuge sogar den Leichtfertigen wertlos erscheinen, wenn der erste Lack einmal ab ist, so ist ein Kunstwerk – und sei es auch nur ein bescheidenes – langlebig, und wir werden seiner niemals müde. Solange auch nur ein Fragment davon existiert, bleibt es wertvoll und lehrreich für jede neue Generation. Alle Kunstwerke haben, kurz gesagt, die Eigenschaft, in ihrem Verfall noch ehrwürdig zu sein, und das ist verständlich, wenn man bedenkt, dass sie von Anfang an eine Seele hatten, den Gedanken eines Menschen, der in ihnen solange sichtbar sein wird, wie der Körper existiert, in den er gepflanzt wurde.
Dieser letzte Satz lässt mich die andere Seite der Notwendigkeit einer Arbeit überdenken, die sich nur mit der Produktion der Güter beschäftigt, die es wert sind, hergestellt zu werden. Bislang haben wir nur vom Standpunkt des Verbrauchers darüber nachgedacht, und so gesehen war dieses Prinzip sicher wichtig. Vom Standpunkt eines Produzenten aus ist es aber noch viel wichtiger.
Denn ich sage wieder: DADURCH DASS IHR DIESE DINGE KAUFT, KAUFT IHR DAS LEBEN VON MENSCHEN! Wollt Ihr aus Torheit und Gedankenlosigkeit mit daran schuld sein, dass Eure Mitmenschen gezwungen werden, nutzlose Arbeit zu verrichten?
Als ich sagte, es sei notwendig, dass alle Dinge, die gemacht werden, es auch wert sein müssen, habe ich diesen Anspruch schon vor allem zur Vertretung der Arbeiterinteressen angemeldet, weil die Verschwendung, nutzlose Dinge herzustellen, den Arbeiter doppelt belastet. Als Konsument ist er gezwungen, sie zu kaufen, und der größere Teil seines armseligen Lohns wird so durch eine Art System umfassenden Schachers wieder aus ihm herausgequetscht. Als Produzent ist er gezwungen, sie herzustellen und auf diese Art auch die Grundlage für die Freude an seiner Arbeit zu verlieren, die ich als sein angeborenes Recht betrachte. Er ist gezwungen, freudlos an der Herstellung des Giftes zu arbeiten, das zu kaufen ihn wiederum der Kreislauf des Schachers zwingt. So wird die große Masse der Menschen, die durch die Torheit und Gier anderer gezwungen sind, schädliche und nutzlose Sachen herzustellen, der Gesellschaft geopfert. Dies wäre an sich schon fürchterlich und nicht auszuhalten, selbst wenn sie zum Guten der Gesellschaft geopfert würden – wenn das überhaupt möglich wäre.
Aber wenn sie nicht der Wohlfahrt, sondern den degradierenden Launen der Gesellschaft geopfert werden: wie stellen sich Luxus und Mode uns dann dar? Auf der einen Seite ruinöse und enervierende Verschwendung, die von Verfall zu Verderben bis zum vollständigen Zynismus am Ende führt, zur Auflösung der gesamten Gesellschaft; und auf der anderen Seite unerbittliche Unterdrückung, die jede Freude und Hoffnung im Leben austreibt und wohin führt?
Hier ist dann also das, was wir – die Mittelklasse – tun müssen, bevor wir der Wiedergeburt der Kunst den Boden bereiten können, bevor wir unser Gewissen von der Schuld, Menschen durch deren Arbeit zu versklaven, befreien können. Eine Sache nur, und wenn wir sie zustande bringen könnten, wäre es schon genug und die anderen gesunden Veränderungen würden folgen. Aber bringen wir es zustande? Können wir dem Verfall der Gesellschaft, der uns bedroht, entkommen? Kann die Mittelklasse sich selbst regenerieren?
Auf den ersten Blick möchte man sagen, dass eine so mächtige Gruppe von Menschen, die das gigantische Gebäude des modernen Kommerzes gebaut hat, deren Wissenschaft, Erfindungsgabe und Energie sich die Kräfte der Natur unterworfen haben, um sie ihren eigenen tagtäglichen Zwecken dienstbar zu machen, und die die Organisation, die diese Naturgewalten unterworfen hält, auf beinahe magische Weise leiten – auf den ersten Blick also würde man sicher sagen, dass eine so mächtige Menge reicher Leute alles zustande bringt, was sie sich vornimmt.
Und doch bezweifle ich es: ihre eigene Erfindung, der Kommerz, auf den sie so stolz sind, ist ihr Herr und Meister geworden, und wir alle, die wir zu den wohlhabenden Klassen gehören, sind gezwungen, einzugestehen, dass nicht der Kommerz für den Menschen, sondern der Mensch für den Kommerz dienstbar gemacht worden ist. Einige von uns erfüllt dies mit triumphierendem Überschwang, andere mit dumpfer Befriedigung und wieder andere mit tiefer Traurigkeit. Alles zwingt uns dazu, dies einzugestehen. So gibt es heute z.B. in der englischen Mittelklasse Menschen mit den besten Bestrebungen für die Kunst und dem stärksten Willen dazu. Menschen, die zutiefst davon überzeugt sind, dass es für die Zivilisation notwendig ist, dass das Leben der Menschen von Schönheit umgeben sei. Und viele geringere Menschen, Tausende, so weit ich weiß, gebildet und kultiviert, folgen ihren Ansichten und loben sie. Aber sowohl die Führer als auch die Geführten sind unfähig, auch nur ein halbes Dutzend »Gemeine« aus der Umklammerung des unerbittlichen Kommerz zu befreien. Sie sind hilflos, ihrer Kultiviertheit und ihrem Genie zum Trotz, als wären sie nur ein paar überarbeitete Schuhmacher.
Wir sind schlimmer dran als König Midas: Unsere grünen Felder und klaren Gewässer, ja selbst die Luft, die wir atmen, werden nicht zu Gold – was einigen von uns vielleicht für eine Stunde oder so gefallen würde – sondern zu Schmutz. Und um es offen zu sagen, wir wissen ganz genau, dass es unter dem momentanen Evangelium des Kapitals nicht nur keine Hoffnung auf Besserung gibt, sondern dass die Situation Jahr für Jahr und Tag für Tag schlimmer wird. Lasst uns essen und trinken, denn morgen werden wir sterben – erstickt am Dreck.
Oder lasst Euch von mir ein konkretes Beispiel für die Sklaverei des konkurrierenden Kommerzes geben, in der wir unglücklichen Angehörigen der Mittelklasse leben. Ich habe Euch ermahnt, den Luxus aufzugeben, nutzlosen Ballast abzustreifen, ein einfaches Leben zu führen, und ich glaube, nicht wenige von Euch stimmen mir in diesem Punkt aus tiefstem Herzen zu. Nun, ich habe mir lange überlegt, dass einer der abstoßendsten Umstände, die mit unserem jetzigen Klassensystem einhergehen, die Beziehung zwischen uns, den Wohlhabenden, und unseren Bediensteten ist: wir und unsere Diener leben zusammen unter einem Dach, aber wir sind einander kaum mehr als Fremde, trotz des guten Willens und der guten Gefühle, die oft auf beiden Seiten existieren. Nein, Fremde ist sogar noch untertrieben: obwohl vom selben Blut und denselben Gesetzen verpflichtet, leben wir nebeneinander her, als gehörten wir verschiedenen Volksstämmen an. Nun überlegt Euch, wie das selbst die tagtäglichen Arbeitsabläufe innerhalb eines Haushalts erschwert und ob wir unser Leben überhaupt vereinfachen können, solange ein solches System fortbesteht. Um bei diesem einfachen Beispiel zu bleiben: Ihr, die ihr selbst einen Haushalt führt, wisst nur zu gut (wie ich selber auch, seit ich die nützliche Kunst, ein Mahl zu bereiten, gelernt habe) wie sehr es die tägliche Arbeit vereinfachen würde, wenn die Hauptmahlzeiten gemeinsam eingenommen werden könnten, wenn man nicht zweifache Mahlzeiten bräuchte, eine auf der Herrschaftsetage und eine für die Dienstboten im Souterrain. Und überdies müssten sicherlich gerade wir, die in diesem Jahrhundert der Erziehung leben, gewärtig sein, welche erzieherische Wirkung es auf die weniger kultivierten Mitglieder eines Haushalts ausüben würde, sich mit den kultivierteren mindestens einmal am Tag in entspanntem Umgang zu treffen, die eleganten Manieren der Damen zu beobachten, sich im Gespräch mit gebildeten und weit gereisten Herren auszutauschen, Männern von Tatkraft und Phantasie: glaubt mir, das wäre wirksamer als der ganze Volksschulunterricht.
Außerdem hängt dies eng mit unserem Thema Kunst zusammen. Bedenkt nur, welch beredtes Zeichen für die Dummheit unserer Scheinzivilisation es doch ist, dass unsere Wohlstandsbehausungen absurde Kaninchenställe zu sein haben. Wären sie doch in der vernünftigen alten Weise geplant, wie es von Homer bis über Chaucer hinaus der Brauch war – das heißt, als großer Saal, dem ein paar Kammern angehängt sind, um darin zu schlafen, oder vor sich hin zu schmollen! Kein Wunder, dass unsere Häuser eng und würdelos sind, wenn die Leben, die darin gelebt werden, genauso eng und würdelos sind!
Gut, und warum ändern wir, die wir – oder sicherlich viele von uns – darüber nachgedacht haben, diesen niedrigen und schäbigen Brauch nicht, vereinfachen dadurch unser Leben und bilden unsere Freunde, deren Mühen wir so viele Annehmlichkeiten verdanken? Warum fangt Ihr nicht, warum fange ich nicht morgen damit an?
Weil wir nicht können. Weil unsere Diener das nicht haben wollen, da sie – wie wir auch – wissen, dass beide Parteien dadurch unglücklich gemacht würden.
Die Zivilisation des neunzehnten Jahrhunderts verbietet uns, die kultivierte Lebensart eines Haushalts unter allen seinen Mitgliedern zu teilen!
Also seht ihr, wenn wir aus der Mittelschicht auch einem einflussreichen Kreis angehören – und wer würde das bestreiten –, spielen wir doch nur eine Rolle, wie sie die Weltgeschichte in vielen traurigen Beispielen belegt: wir sind groß aber glücklos; wir sind wichtige, würdige Leute, aber zu Tode gelangweilt; wir haben unsere Macht um den Preis unserer Freiheit und unserer Freude erkauft.
So muss ich auf die Frage, ob wir den Luxus von uns weisen und ein einfaches und anständiges Leben führen können, antworten: ja, aber erst wenn wir uns von der Sklaverei des kapitalistischen Kommerz befreien, nicht vorher.
Sicherlich gibt es nicht wenige unter Euch, die sich danach sehnen frei zu sein, die gebildet und kultiviert sind und deren Sensibilität für Schönheit und Maß anscheinend nur dazu geweckt wurde, dass sie allenthalben von den brutal hässlichen Ausgeburten des kommerziellen Wettbewerbssystems beleidigt und verletzt werden; die, obwohl wohlhabend, ja sogar reich, sich davon so verfolgt und gejagt fühlen, dass sie bei einer sozialen Revolution nichts mehr zu verlieren haben. Liebe zur Kunst – das heißt zur wahren Freude des Lebens – hat Euch dahin geführt, dass ihr Euch dem Lohnsklaven des wettbewerbsorientierten Kommerzes an die Seite stellen müsst. Ihr und er müsst einander helfen und habt eine Hoffnung gemeinsam, oder Ihr werdet jedenfalls ohne Hoffnung und Hilfe leben und sterben. Ihr, die Ihr Euch danach sehnt, von der Unterdrückung der Geldraffer befreit zu werden, hofft nun auf den Tag, da Ihr gezwungen werdet, frei zu sein.
Bis dahin, wenn diese Unterdrückung sonst kaum Arbeit übrig lässt, die es wert wäre, getan zu werden, bleibt uns doch zumindest übrig, uns dafür einzusetzen, den Lebensstandard da anzuheben, wo er niedrig und am niedrigsten ist! Das wird dem Triumphwagen des Kommerzsystems einen Knüppel zwischen die Speichen werfen.
Ich sehe auch keine andere Möglichkeit, den Lebensstandard sicherer anzuheben, als einige Tausend derjenigen, die von Arbeit leben, von der Notwendigkeit zu überzeugen, den zweiten Teil der Forderung, die ich für die Arbeit aufgestellt habe, zu unterstützen: nämlich dass die Arbeit als solche und an sich schon Freude bereiten sollte. Wenn wir sie nur davon überzeugen könnten, dass eine so neuartige Revolutionierung der Arbeit eine unendliche Wohltat nicht nur für sie, sondern für die gesamte Menschheit wäre; und dass das richtig und natürlich ist, während das Gegenteil, dass die Mehrheit der Menschen einer sie bedrückenden Arbeit nachgeht, eine monströse Ausgeburt der letzten Zeit darstellt, die auf lange Sicht die Gesellschaft, die sie zulässt, in Ruin und Chaos stürzt – wenn wir sie nur davon überzeugen könnten, dann wäre es in der Tat möglich, dass das Schlagwort von der Kunst des Volkes mehr als bloße Redensart wird.
Auf den ersten Blick könnte es freilich unmöglich erscheinen, Menschen, die unter dem jetzigen System des Kommerzes geboren wurden, verständlich zu machen, dass Arbeit ein Segen für sie sein könne – ein Segen nicht in dem Sinn, in dem sie dies manchmal von denen gepredigt bekommen, deren Arbeit angenehm (oder einfach zu umgehen) ist: nicht als notwendige Pflicht, die die Natur den Armen zum Wohl der Reichen auferlegt; nicht als Opiat, um ihre Sinne gegenüber Recht und Unrecht abzustumpfen und um sie dazu zu bewegen, es sich unter ihrer Bürde bis zum Ende aller Zeiten einzurichten und dabei dankbar den Gutsbesitzer und seine Verwandten zu segnen. All solches Gerede von uns und alle Appelle könnten sie recht gut verstehen, und sie würden sich das, so fürchte ich, zumindest mit vorgetäuschter Zustimmung anhören – wenn sie dächten, dass ihnen das etwas einbringen könnte. Aber der eigentliche Grundsatz, dass Arbeit als solche und an sich ein wirklicher und fühlbarer Segen für den Arbeiter sein sollte, ein Vergnügen sogar, wie es ihm jetzt Schlaf und starke Getränke bedeuten, dies, so möchte man meinen, ist tatsächlich schwer zu verstehen für ihn, so sehr unterscheidet es sich von allem, was ihm Arbeit bisher bedeutet hat.
Dennoch, und obwohl die meisten Menschen Arbeit nur als notwendiges Übel, gleichsam als Krankheit betrachten, hat meine Erfahrung bisher immer wieder gezeigt, dass, sei es wegen einer gewissen heiligen Würde, die der Handarbeit auch unter den schlechtesten Bedingungen anhängt; sei es, dass der Arme, der gezwungen ist, sich mit schrecklich realen Dingen zu beschäftigen, weniger konventionell denkt als die Reichen, wenn er sich diese Angelegenheiten überlegt – weswegen auch immer – meine Erfahrung hat immer wieder gezeigt, dass es für den Arbeiter einfacher ist als für den Reichen und Wohlhabenden, den grundsätzlichen Anspruch zu verstehen, dass Arbeit als solche Vergnügen bereiten müsse. Von meinen eigenen dürftigen Worten abgesehen, war ich zum Beispiel erstaunt, welch herzliches Entgegenkommen John Ruskin bei einem aus Arbeitern bestehendem Publikum findet: sie können in ihm leichter den Propheten als den phantastischen Rhetoriker sehen, wie es ein überfeinertes Publikum nur zu gern tut.
Das ist ein gutes Omen für die Bildung in kommenden Zeiten. Aber wir, die wegen unserer Hilflosigkeit in der hässlichen Welt, die uns umgibt und erdrückt, so mit Zynismus geschlagen sind, können wir unsere eigenen Hoffnungen nicht zumindest soweit beflügeln, darauf zu vertrauen, dass die Hoffnung, die in Millionen Sklaven des Kommerzes glimmt, etwas Besseres als bloße Täuschung sei, wie die falsche Morgendämmerung der wolkenbedeckten Mitternacht, mit der nur der Mond kämpft? Lasst uns in Erinnerung rufen, dass es in der Welt immer noch Monumente gibt, die uns zeigen, dass nicht immer alle menschliche Arbeit den Menschen Kummer und Bürde war. Lasst uns an die gewaltige und reizvolle Architektur zum Beispiel des mittelalterlichen Europas denken: an die Gebäude, die errichtet wurden, bevor der Kommerz den Schlussstein auf das Bauwerk der Tyrannei gesetzt hatte, bevor er es mit der Entdeckung besiegelt hatte, dass Phantasie, Vorstellungskraft, Empfindung, Freude am Schaffen und Hoffnung auf Ruhm vermarktbare Waren sind, zu wertvoll um Leuten belassen zu werden, die nicht das Geld haben sie zu kaufen, einfachen Handwerkern und Tagelöhnern. Wollen wir uns doch daran erinnern, dass es eine Zeit gab, da die Menschen Vergnügen in ihrer täglichen Arbeit fanden, aber in anderer Hinsicht doch noch auf Licht und Freiheit hofften, wie sie das auch jetzt noch tun. Ihre schwache Hoffnung erstrahlte immer heller, und sie sahen deren scheinbare Erfüllung näher und näher rücken und starrten so gebannt auf sie, dass sie nicht bemerkten, wie der immer wachsame Feind »Unterdrückung« seine Gestalt geändert hatte und ihnen wegstahl, was sie in den Tagen, da das Licht ihrer Hoffnung nur ein schwacher Glimmer war, schon erreicht hatten. So verloren sie das schon Erreichte, und dieser Verlust verkehrte und verdarb ihnen die neuen Errungenschaften ins Gegenteil!
Zwischen den Tagen, in denen wir jetzt leben, und dem ausgehenden Mittelalter errang Europa geistige Freiheit, neues Wissen und eine ungeheure Fertigkeit, mit den physischen Kräften der Natur umzugehen. Es errang obendrein eine vergleichsweise hohe politische Freiheit, Respekt für das Leben der zivilisierten Menschen und andere Werte, die damit in eins gehen. Nichtsdestoweniger sage ich mit vollem Bedacht, dass die Gesellschaft, wenn sich ihr gegenwärtiger Zustand so fortsetzt, diese Errungenschaften um einen zu hohen Preis erkauft hat: nämlich den Verlust der Freude in der täglichen Arbeit, die sicherlich einmal die Masse der Menschheit in ihren Ängsten und ihrer Unterdrückung getröstet hat. Der Tod der Kunst war ein zu hoher Preis für den materiellen Wohlstand der Mittelschicht.
Es war in der Tat schlimm, dass wir nicht beide Hände gefüllt halten konnten; dass wir gezwungen waren, aus der einen Hand zu verschütten, während wir mit der anderen Hand ansammelten. Aber noch schlimmer ist es meiner Meinung nach, sich des Verlustes überhaupt nicht bewusst zu sein, oder ihn ins schemenhaft Unbewusste verdrängen zu wollen und sich einzureden, es sei alles in Ordnung.
Keineswegs ist alles in Ordnung, weiß ich doch, dass sich die Natur der Menschen in drei Jahrhunderten nicht so verändert haben kann, dass wir all den vorausgegangenen Jahrtausenden zurufen könnten: ihr habt einen Fehler begangen, die Kunst zu schätzen, und wir haben jetzt herausgefunden, dass den Menschen Nahrung und ein Obdach reichten, zusammen mit einigen rudimentären Kenntnissen der physischen Beschaffenheit des Universums! Schöpfertum sei kein Bedürfnis der menschlichen Seele mehr, die rechte Hand des Menschen kann ihre Geschicklichkeit vergessen, und er stünde deswegen nicht schlechter da.
Täuschen wir uns nicht: dreihundert Jahre – ein Tag im Ablauf der Zeitalter – haben die menschliche Natur nicht so gründlich verändert.
Ihr könnt sicher sein, dass wir eines Tages die Kunst wiedergewinnen werden, und das heißt: die Freude am Leben. Wir werden die Kunst für unsere tägliche Arbeit wiedergewinnen. Worin liegt diese Hoffnung denn, mögt Ihr darauf sagen; zeig sie uns!
Die Hoffnung liegt da, worin uns die Hoffnung der alten Tage getäuscht hat. Wir haben die Kunst aufgegeben für das, was wir für Licht und Freiheit hielten, aber es war weniger als Licht und Freiheit, was wir dafür erkauft haben: das Licht hat denjenigen unter den Wohlhabenden viele Dinge erhellt, die sich darum bemüht haben, nach ihnen zu suchen; die Freiheit hat diejenigen Wohlhabenden in dem Maße befreit, in dem ihnen ihre Freiheit etwas bedeutete. Aber dabei handelte es sich bestenfalls um einige wenige; der Mehrzahl der Menschen zeigte dieses Licht nur, dass sie nicht mehr nach Hoffnung zu suchen brauchen; die Freiheit hat der Mehrzahl der Menschen allein die Freiheit der Wahl gelassen, entweder um einen Hungerlohn die nächstbeste Sklavenarbeit anzunehmen, oder zu verhungern.

Es gibt Hoffnung, sage ich. Wenn dieser Handel wirklich allseits befriedigend gewesen wäre, rundum perfekt, dann bliebe wirklich nichts anderes übrig, als die Kunst zu begraben und die Schönheit des Lebens zu vergessen. Aber für die Sache der Kunst spricht noch etwas anderes, worauf sie sich berufen kann: nichts weniger als die Hoffnung der Menschen auf ein glückliches Leben, das ihnen bis jetzt noch nicht gewährt worden ist. Darin liegt unsere Hoffnung: Die Sache der Kunst ist die Sache des Volkes!
Schöpft Hoffnung aus einem Stück der Geschichte! Einstmals hielt die Herrschaft Roms die ganze zivilisierte Welt in ihrem Würgegriff. Allen Menschen – selbst den hervorragendsten, wie Ihr sogar den Evangelien entnehmen könnt – schien diese Vorherrschaft dazu bestimmt zu sein, ewig zu währen. Auch gab es für jene, die unter ihr lebten, darüber hinaus keine andere Weit, die nur eines Gedankens wert gewesen wäre. Aber die Tage vergingen, und obwohl niemand auch nur einen Schatten der kommenden Veränderungen herannahen sah, kamen diese doch, wie ein Dieb in der Nacht: die Barbaren außerhalb der Welt des römischen Reiches fielen über es her, und die Menschen, blind vor Schreck, beklagten die Veränderung, und glaubten die Welt nun vom wütenden Ansturm des Nordens vernichtet. Aber selbst dieser Ansturm brachte Dinge mit sich, die Rom zwar schon lange fremd waren, einstmals aber die Grundlage seines Ruhms bedeuteten: Lügen zu hassen, Reichtümer zu schmähen, den Tod zu verachten, an den guten Ruf zu glauben, der allein durch standhafte Ausdauer zu erwerben ist, Frauen in Ehren zu lieben – alle diese Dinge führte der Ansturm des Nordens mit sich, wie die reißenden Sturzbäche vom Berge das Gold. Und so fiel Rom und Europa erhob sich, und die Hoffnung der Welt war wiedergeboren.

An diejenigen, deren Herzen diese Erzählung aus der Vergangenheit verstehen können: sie ist eine Parabel für kommende Tage – von den bereitliegenden Veränderungen, versteckt in der Brust des Barbarentums der Zivilisation, des Proletariats. Und was uns Angehörige der Mittelschicht betrifft, uns, das Rückgrat des mächtigen, aber monströsen Systems des konkurrierenden Kommerzes, so ist es unsere Pflicht, unsere Seelen von Habgier und Feigheit zu läutern und den Veränderungen, die jetzt wieder im Anzug sind, ins Gesicht zu sehen; das Gute und die Hoffnung zu sehen, die sie mit sich bringen, mitten in all der drohenden Gewalt und ihrer Hässlichkeit, die ja nicht von selbst entstanden, sondern von dem hervorgebracht wurden, was diese Veränderungen zu zerstören bestimmt ist.
Ich wiederhole: wir wohlhabenden Leute, diejenigen unter uns, die die Kunst lieben, sie nicht als ein bloßes Spielzeug lieben sondern als etwas, das der Mensch zum Leben braucht, als ein Zeichen seiner Freiheit und seines Glücks – wir müssen es als unsere vornehmste Aufgabe ansehen, den Lebensstandard des Volkes anzuheben, oder mit anderen Worten, dem Anspruch an die Arbeit, den ich erhoben habe, Geltung zu verschaffen. Diesen Anspruch will ich nun umformulieren, und zwar so, dass es leichter fällt zu sehen, was uns vor allem abhält, ihn zu verwirklichen, und wer und wo die Gegner sind, die wir angreifen müssen. So formuliere ich den Anspruch neu:

Nichts sollte durch menschliche Arbeit hergestellt werden, das es nicht wert ist hergestellt zu werden, oder was durch seine Form der Arbeit hergestellt werden muss, die den Herstellenden entwürdigt.
So einfach dieser Vorschlag ist und so offensichtlich richtig, wie er Euch sicher erscheinen wird, so werdet Ihr bei näherer Betrachtung finden, dass es sich dabei um eine direkte und tödliche Herausforderung des Systems der Arbeit handelt, wie es in zivilisierten Ländern jetzt herrscht. Dieses System, das ich den konkurrenten Kommerz genannt habe, ist entschieden ein System des Kriegs, das heißt der Verschwendung und Zerstörung. Ihr könnt es auch ein Lotteriesystem nennen, das darauf hinausläuft, dass der Gewinn des einen immer durch den Verlust des anderen erkauft wird. Ein solches System wird und kann nicht darauf achten, ob die Güter, die es herstellt, der Herstellung wert sind; es wird und kann nicht darauf achten, ob diejenigen, die sie herstellen, durch ihre Arbeit entwürdigt werden. Es achtet einzig und allein nur darauf, was es Gewinnerzielung nennt. Der Gebrauch dieses Ausdrucks ist in letzter Zeit so üblich geworden, dass ich Euch erklären muss, was er wirklich bedeutet: nämlich die Ausplünderung der Schwachen durch die Starken. Nun behaupte ich von diesem System, dass die Zerstörung der Kunst –und das heißt des Lebensglücks – sein innerstes Wesen ausmacht. Welche Anteilnahme heutzutage auch immer am Leben des Volkes genommen wird, was immer auch Wertvolles getan und geschaffen wird – es geschieht wider das System und in flagranter Herausforderung seiner Grundsätze. So ist es nur allzu wahr, dass wir alle, zumindest stillschweigend, überzeugt sind, dass dieses System den höchsten Bestrebungen der Menschheit zuwiderläuft.
Wissen wir denn zum Beispiel nicht, wie und unter welchen Bedingungen jene geniebegabten Menschen arbeiten, die das Salz der Erde sind und ohne die die Verdorbenheit der Gesellschaft schon längst unerträglich geworden wäre? Der Dichter, der Künstler, der Wissenschaftler: stimmt es etwa nicht, dass in den Tagen ihrer Blüte und glorreichen Schaffenskraft, auf dem Höhepunkt ihres Glaubens und ihrer Begeisterung, ihre Pläne bei jeder Gelegenheit vom kommerziellen Kleinkrieg durchkreuzt werden, der höhnisch die Frage aufwirft: »Zahlt sich das auch aus?« Stimmt es etwa nicht, dass selbst sie, sobald sie in der Welt Erfolg erringen, sobald sie auch nur einigermaßen reich werden, uns, obwohl wir es nicht recht wahrhaben wollen, vom Kontakt mit der Welt des Kommerzes befleckt erscheinen?
Muss ich von den großen Plänen reden, die unausgeführt bleiben, von Dingen, die, wie alle zugeben, äußerst dringend erledigt werden müssten und an die doch niemand ernsthaft Hand anlegen kann, weil das Geld fehlt? Handelt es sich dagegen darum, der öffentlichen Meinung irgendeine närrische Laune aufzuschwatzen, dann wird das Geld in Strömen fliessen, wenn ihre Befriedigung nur Gewinn verspricht. Ihr kennt ja die alte Geschichte von den Kriegen, die der Kommerz auf der Suche nach neuen Märkten entzündet; nicht einmal die friedliebendsten Staatsmänner können dem widerstehen.
Und all die Beherrschung der Naturkräfte, die uns die letzten hundert Jahre oder weniger geschenkt haben: Welchen Nutzen hat das unter diesem System gebracht? Für John Stuart Mill war es mehr als zweifelhaft, ob alle diese technischen Errungenschaften irgendetwas dazu beigetragen haben, die Mühsal der Arbeit zu erleichtern. Sie wurden ja auch sicher nicht zu diesem Zweck erfunden, sondern allein zur Profitschneiderei. Diese schier wunderbaren Maschinen, die schon jetzt, würde planende Voraussicht auf sie angewendet werden, alle beschwerliche und stupide Arbeit schnellstens abschaffen könnten, und uns damit die Chance bieten würden, die handwerkliche Geschicklichkeit und Geisteskraft unserer Arbeiter auf ein höheres Niveau zu heben um aufs neue jene bezaubernde Schönheit und jenes Maß hervorzubringen, die nur entstehen, wenn die Hand des Menschen von seiner Seele geführt wird – was für einen Nutzen haben sie uns jetzt gebracht? Auf diese Maschinen ist die zivilisierte Welt so stolz – aber hat sie irgendein Recht, darauf stolz zu sein, wozu diese Maschinen im Krieg und bei der Verschwendung des Kommerz dienen?
Ich glaube nicht, dass hier Jubel am Platz ist. Der Kommerzkrieg hat zwar Profit aus diesen Wunderwerken geschlagen, das heißt aber nichts anderes, als dass er mit ihrer Hilfe für seine Zwecke Millionen von unglücklichen Arbeitern erzeugt hat – intelligenzlose Maschinen, solange sie ihre tägliche Arbeit verrichten – um billige Arbeitskräfte zu bekommen und um sein erregendes aber tödliches Spiel für immer weiter zu treiben. Und tatsächlich wäre diese Arbeit billig genug gewesen – billig für die Generäle des Konsumkrieges und tödlich teuer für uns übrige – wenn nicht die Saat der Freiheit, in unserer Mitte gesät von heroischen Vorfahren, in unseren Tagen als Chartismus, Gewerkschaftsbewegung und Sozialismus aufgehen würde zur Verteidigung der sozialen Ordnung und eines anständigen Lebens. Schrecklich wäre all unsere Sklaverei und nicht nur die der Arbeiterklasse, ohne dieses Keimen von Veränderungen, die da kommen müssen.
Der kommerzielle Krieg hat heute schon durch das rücksichtslose Zusammenpferchen der Fabrikarbeiter samt Anhang in den großen Städten und den Industrierevieren unser Leben entwürdigt und er hält es weiter auf einem erbärmlich niedrigen Standard; so niedrig, dass es schwierig wird, sich eine Grundlage für irgendwelche Verbesserungen auch nur vorzustellen. Mit den Mitteln schneller Kommunikation, die er selbst geschaffen hat und die eigentlich den Lebensstandard durch die Verbreitung von Wissen von der Stadt auf das Land und durch die Schaffung breit gestreuter Zentren der Gedankenfreiheit und Kultur hätten erhöhen sollen – mit der Eisenbahn und ähnlichem – hat er sich frische Rekruten für die Reservearmee konkurrierender Habenichtse zusammengesammelt, von denen seine Spielgewinne so sehr abhängen. Und damit hat er das Land entvölkert und alles begründete Hoffen und Leben in den kleineren Städten ausgelöscht.
Auch kann ich als Künstler nicht die äußeren Begleitumstände vernachlässigen oder unterschätzen, die diese Herrschaft des elenden, anarchischen Kommerzkrieges bedeutet. Man denke nur an die offene Wunde, die sich London nennt und mit ihrem Gestank Feld, Wald und Heide ohne Gnade und Hoffnung auffrisst und damit unsere kümmerlichen Versuche verhöhnt, auch nur mit den kleineren Übeln – rauchverpesteter Luft und faulig-verschmutzten Flüssen – fertig zu werden! Man denke an die Schreckensschwärze und den unbekümmert aufgehäuften Schmutz unserer Industriereviere, die so ekelhaft für unsere daran nicht gewohnten Sinne sind, dass ein Leben darin in annehmbarer Zufriedenheit ein schlimmes, bedrohliches Licht auf die Zukunft wirft? Ja, man denke daran, wie durch elendig hingepfuschte Ziegel- und Schieferhäuser jene soliden steingrauen Behausungen verdrängt wurden, die noch da und dort stehen und in ihrer heiteren aber schönen Einfachheit passende Zeichen des Freibauern auf englischer Flur sind! Über ihre Zerstörung durch den noch jungen Kommerzkrieg haben schon der groß denkende Morus und der kühne Latimer bewegend Klage geführt. Kurz gesagt: überall beinhaltet der Wechsel von Alt zu Neu mit Sicherheit eins, was immer auch sonst zwiespältig sein mag – eine Verschandelung des Landschaftsbildes.
Das also ist der Zustand Englands – Englands. dem Land der Ordnung, des Friedens und der Stabilität; dem Land des gesunden Menschenverstandes und des praktischen Denkens; dem Land, auf das die Augen all derer gerichtet sind, die auf die Fortsetzung und Vervollkommnung des modernen Fortschritts hoffen. Es gibt Länder in Europa, deren Landschaftsbild noch nicht so zerstört erscheint, obwohl ihr materieller Wohlstand geringer sein mag und sie weniger an weit gestreutem Mittelklassevermögen aufzuweisen haben, um die schändliche Verwahrlosung auszugleichen, die ich erwähnt habe. Aber da sie Mitglieder des großen wirtschaftlichen Ganzen sind, müssen sie durch die gleiche alles zerstörende Mühle gehen, wenn nicht etwas passiert, das den Triumphzug des Kommerzkrieges ablenkt, bevor er sein Ende erreicht.
So weit also haben drei Jahrhunderte des Kommerz die Hoffnung gebracht, die aufblühte, als der Feudalismus zu zerbröckeln begann.
Was kann uns nun noch zum Zeichen einer heraufdämmernden, neuen Hoffnung werden? Was, außer einem allgemeinen Aufstand gegen die Tyrannei des Kommerzkrieges? Die Linderungsmittel, mit denen sich viele verdienstvolle Leute beschäftigen, fruchten offensichtlich nichts. Sie sind ja auch nichts anderes als unkoordinierte Teilrevolten gegen eine ungeheure, sich immer weiter ausbreitende und alles an sich reißende Organisation, die mit dem unbewussten Instinkt einer Schlingpflanze jeden Versuch, den Zustand des Volkes zu verbessern, mit einem Angriff an einer anderen Flanke begegnen wird: neue Maschinen, neue Märkte, Massenemigrationen, die Wiederbelebung niederen Aberglaubens, Predigten der Sparsamkeit an die Besitzlosen, der Mäßigung an die Elenden – dies und anderes wird auf Schritt und Tritt alle Teilrevolten gegen dieses Monstrum vereiteln, das wir aus der bürgerlichen Mittelklasse zu unserem eigenen Verderben geschaffen haben.
Ich werde ganz offen sprechen, auch wenn ich am Schluss ein unschönes Wort sagen muss, um ganz deutlich zu machen, was ich denke. Es ist notwendig sich überall daran zu machen, den Leuten die Möglichkeit eines höheren Lebensstandards vor Augen zu halten. Denkt darüber nach und ihr werdet erkennen, dass dies nichts anderes bedeutet, als allgemeine Unzufriedenheit zu säen!
Und um das nun zu veranschaulichen, muss ich zu meinen eng miteinander verquickten Ansprüchen an Kunst und Arbeit zurückkehren.
Es geht nun um meine dritte Teilforderung, die ich hier noch einmal in ihrem Zusammenhang anführe:

Es ist nicht mehr als recht und billig, dass alle Menschen Arbeit haben sollten, die
erstens – zu tun es sich lohnt 
zweitens – in sich schon Freude bereitet 
drittens – unter solchen Umständen erbracht werden soll, dass sie weder zu ermüdend, noch zu sehr von Angst begleitet ist.
Die erste und zweite Teilforderung, die in sehr engem Zusammenhang miteinander stehen, habe ich bereits zu erläutern versucht. Sie sind gleichsam die Seele der Forderung nach rechter Arbeit; die dritte Forderung aber ist der Körper, ohne den die Seele nicht existieren kann. Ich werde sie in eine Richtung ausdehnen, die uns zumindest teilweise über bereits bekanntes Terrain führen wird:
Kein Arbeitswilliger sollte je fürchten müssen, ohne Beschäftigung zu sein, die es ihm ermöglicht, alle angemessenen Bedürfnisse des Geistes und des Körpers zu stillen.
Alle angemessenen Bedürfnisse – was sind diese für einen guten Mitbürger? Zuerst rechtschaffene und seinen Talenten entsprechende Arbeit. Was beinhalten würde, dass er eine Chance bekommt, durch eine geeignete Ausbildung die für seine Arbeit nötigen Fertigkeiten zu erlangen. Und weil die Arbeit es wert sein muss, getan zu werden, und dies mit Freude, wird es dazu auch notwendig sein, dass seine Stellung ihm so sicher ist, dass er nicht mehr gezwungen werden kann, unnütze oder freudlose Arbeit zu verrichten.
Die zweite Notwendigkeit betrifft die Freundlichkeit der äußeren Umgebung: Dazu zählen (a) eine gute Unterbringung, (b) reichlich Raum und (c) Ordnung und Schönheit allenthalben.
Das bedeutet wiederum, dass (a) unsere Häuser gut gebaut, sauber und gesund und (b) großzügige Gartenanlagen in unseren Städten vorhanden sein müssen und unsere Städte nicht Felder und natürliche Landschaftszüge auffressen dürfen. Ja, ich verlange sogar, dass man Teile der Natur brachliegen oder verwildern lassen sollte, weil sonst Romantik und Poesie – d.h. Kunst – unter uns aussterben würden.
Schließlich (c) Ordnung und Schönheit bedeuten nicht nur, dass unsere Häuser solide und zweckmäßig gebaut, sondern dass sie auch angemessen mit Schmuck versehen werden; dass die Felder nicht nur bestellt werden, sondern dass sie dadurch ebenso wenig verunstaltet werden wie ein Garten, der ja auch durch den Anbau nicht an Schönheit verliert. Niemandem sollte beispielsweise erlaubt werden, aus bloßem Profitdenken Bäume zu fällen, deren Verlust das Landschaftsbild zerstören würde. Auch sollte niemandem, unter welchem Vorwand auch immer, erlaubt werden, das Tageslicht durch Rauch zu verdunkeln, Flüsse zu verschmutzen oder irgendeinen Fleck der Erde durch Unrat und Abfall und durch empfindungslos-verschwenderische Unordnung zu schänden.
Die dritte Notwendigkeit ist Muße und Freizeit.
Es ist klar, dass ich dabei davon ausgehe, dass erstens jeder eine bestimmte Zeit des Tages arbeiten muss, und zweitens, dass ebenso jeder das ausdrückliche Recht auf regelmäßige Freistellung von der Arbeit hat. Die geforderte Freizeit muss reichlich genug sein, Geist und Körper gründliche Erholung zu gewähren. Ein Mensch muss Zeit für ernsthaftes und ungestörtes Nachdenken haben, für Phantasie und für Träumereien sogar, oder die menschliche Gattung wird sich verschlechtern.
Aber sogar von der rechtschaffenen und den jeweiligen Talenten entsprechenden Arbeit, von der ich gesprochen habe und die himmelweit verschieden ist von der kapitalistischen Zwangsarbeit, darf einem Menschen nicht mehr als sein gerechter Anteil abgefordert werden; anderenfalls werden die Menschen sich ungleich entwickeln und es wird damit weiterhin verfaulte Stellen innerhalb der Gesellschaft geben.

Ich habe nun also die Bedingungen vorgestellt, unter denen eine Arbeit verrichtet werden kann, die es wert ist, getan zu werden und die nicht entwürdigt. Nur unter diesen Bedingungen ist dies möglich.
Wenn die Arbeit heutzutage es allgemein nicht wert ist, getan zu werden und sie entwürdigend ist, dann ist es eine Farce, von Zivilisation zu sprechen. Sind nun diese Bedingungen unter dem derzeitigen Evangelium des Kapitals zu erreichen, dessen Motto lautet: »Den Letzten beißen die Hunde«?
Betrachten wir unsere Forderungen noch einmal, indem wir sie neu formulieren:
In einem wohl geordneten Gemeinwesen sollte jedem Arbeitswilligen garantiert sein:
erstens – rechtschaffene und seinen Talenten entsprechende Arbeit,
zweitens – ein gesundes und schönes Haus und
drittens – genügend Freizeit zur Rast des Geistes und Körpers.

Nun glaube ich nicht, dass irgend jemand hier leugnen wird, dass es wünschenswert ist, diese Forderungen zu erfüllen: aber wovon ich Euch alle hier überzeugen will, ist, dass dies notwendig ist – dass, wenn wir nicht unser Äußerstes versuchen, sie zu erfüllen, wir der Stützpfeiler einer Gesellschaftsordnung bleiben, die auf Raub und Ungerechtigkeit gegründet und von den Gesetzen des Universums dazu verdammt ist, sich durch ihre eigenen Bemühungen um ewigen Fortbestand selbst zu zerstören.
Darüber hinaus will ich Euch davon überzeugen, dass es nicht nur möglich ist, die Forderungen zu erfüllen, sondern dass es genauso unmöglich ist, sie im derzeitigen plutokratischen System zu erfüllen, das uns jeden ernsthaften Versuch ihrer Verwirklichung verbietet. Die Anfänge der sozialen Revolution müssen das Fundament für den Wiedererwachsen der Volkskunst, d.h. der Lebensfreude, legen.
Um nochmals unschöne Worte zu gebrauchen: wissen wir denn nicht, dass die meisten in den zivilisierten Ländern schmutzig, unwissend und roh – oder, im besten Falle, allein um den kärglichen Lebensunterhalt der kommenden Woche besorgt – , dass sie, kurz gesagt, arm sind? Und wir alle, die wir uns Gedanken darüber machen, wissen, dass dies ungerecht ist.
Es ist die alte Geschichte von Männern, die auf unehrliche und tyrannische Weise reich geworden sind und die dann ihre unrechtmäßig erworbenen Gewinne aus Furcht vor der Zukunft freigebig und wohltätig – wie das so schön heißt – austeilen. Auch werden solche Leute nicht gepriesen; in den alten Geschichten glaubt man vielmehr, dass sie am Ende der Teufel holt. Alte Geschichten, aber ich sage: – de te fabula – von Dir handeln sie. Du bist gemeint!
Ich behaupte, dass wir aus den reichen und wohlhabenden Klassen es tagtäglich genauso machen: unbewusst (oder möglicherweise halbbewusst) tragen wir Reichtümer zusammen, indem wir mit der bitteren Not unserer Zeitgenossen schachern, um davon dann an diejenigen wieder kleine Almosen zurückzugeben, die auf die eine oder andere Art und Weise uns am lautesten dazu auffordern. Unsere Armengesetze, unsere Krankenhäuser, unsere Wohltätigkeiten, seien sie nun organisiert oder nicht, sind wie die Tonne, dem Wal hingeworfen um ihn abzulenken; als Schweigegeld für eine lahmende Gerechtigkeit, damit sie uns nicht zu schnell hinterher humpelt.
Wann endlich kommt die Zeit, dass ehrliche und klarsichtige Menschen das Chaos der Verschwendung, das Bestehlen von Peter, um Paul zu bezahlen, satthaben werden, das ein Wesenszug des kommerziellen Krieges ist? Wann werden wir uns zusammentun, um das System mit dem Motto »Den Letzten beißen die Hunde« durch eines zu ersetzen, dessen Leitspruch wirklich und ohne Einschränkung lautet: »Einer für Alle und Alle für Einen«?
Wer weiß, vielleicht steht die Zeit schon unmittelbar bevor, in der wir jetzt Lebenden den Anfang jenes Endes sehen, das Luxus und Armut auslöschen wird? Wenn obere, mittlere und niedere Klassen zu einer einzigen verschmolzen sein und zufrieden ein einfaches und glückliches Leben führen werden?
secularhallViele Worte zur Beschreibung eines Zustands der Dinge, für den ich Eure Hilfe erbitte! Zu sagen: „Abschaffung der Sklaverei“ wäre kürzer und würde dasselbe meinen. Ihr mögt versucht sein zu glauben, dass dieses Ziel den Kampf nicht lohnt. Oder Ihr mögt einwenden, dass es so weit in der Zukunft liegt, dass heute nichts Entscheidendes dazu getan werden kann und dass Ihr deshalb genauso gut stillhalten und nichts tun könntet. Ich möchte Euch deshalb daran erinnern, wie erst vor wenigen Jahren, schon zu Lebzeiten der Jüngsten von uns, viele Tausend uns „verwandte“ Männer (in Amerika) ihr Leben auf dem Schlachtfeld gaben, um nur eine Episode im Kampf um die Abschaffung der Sklaverei zu einem glücklichen Ende zu bringen. Sie sind gepriesen und glücklich, weil sie die Gelegenheit hatten, sie ergriffen und ihr Bestes taten – und die Welt ist damit reicher geworden.
Wenn sich uns eine derartige Gelegenheit bieten sollte, werden wir sie von uns stoßen um ruhig dazusitzen, mit trägem Körper, zweifelnd, krank in der Seele? Die Tage des Kampfes sind angebrochen: wer könnte das bezweifeln, da jeder doch um sich überall die Signale der Unzufriedenheit, Hoffnung und Furcht hört, die Signale des erwachenden Mutes und des erwachenden Gewissens? Es sind dies die Tage des Kampfes, sage ich, in denen es für einen aufrichtigen Menschen keinen äußeren Frieden geben kann. Umso leichter ist jetzt und aus demselben Grund, den inneren Frieden eines guten Gewissens zu erringen, auf feststehenden Überzeugungen gegründet, da sich uns Taten für die gute Sache anbieten.
Oder will jemand behaupten, dass es hier in diesem ruhigen, verfassungsmäßig regierten England keine Gelegenheit für Taten unsererseits gebe? Wären wir im geknebelten Deutschland, im geknebelten Österreich, in Russland, wo ein oder zwei Worte uns nach Sibirien, ins Gefängnis oder gar in die Festung von Peter und Paul brächten – ja dann … Ach, meine Freunde, es ist ein armseliger Tribut, den wir auf den Gräbern der Märtyrer unserer Freiheit zollen, diese Weigerung, die Fackel aus ihren sterbenden Händen zu übernehmen! War es nicht Goethe, von dem man erzählt, dass er einem, der sagte, er ginge nach Amerika, um ein neues Leben anzufangen, entgegenhielt: »Amerika ist hier, oder nirgends!« So sage ich meinerseits: »Russland ist hier, oder nirgends!«
Es erschiene mir paradox zu sagen: da die herrschenden Klassen in England keine Angst vor der Redefreiheit hätten, deshalb sollten wir mit unserer freien Meinung hinter dem Berg halten. Wir wollen im Gegenteil in die Bresche springen, die tapfere Männer uns eröffnet haben: stehen wir zurück, so nehmen wir ihren Mühen, ihren Leiden, ihrem Sterben die Bedeutung. Glaubt mir, wir werden sehen, dass es um alles oder nichts geht. Oder will mir hier irgendjemand erzählen, dass ein russischer Muschik schlimmer dran ist als der Lohnsklave eines ausbeuterischen Schneiders? Wir wollen uns nicht selbst belügen: die Klasse der Opfer gibt es hier geradeso wie in Russland. Es wären hier weniger? Möglich – dann sind sie aber umso hilfloser und umso mehr unserer Hilfe bedürftig.
Und wie können wir aus der Mittelklasse, wir Kapitalisten und unser Anhang, ihnen helfen? Indem wir unserer Klasse abschwören und unser Los mit dem der Opfer teilen, wann immer sich der Gegensatz zwischen den Klassen auftut: mit denen, die verdammt sind, und zwar im besten Falle zum Fehlen von Erziehung, Kultur, Freizeit, Freude und Ansehen, und im schlimmsten Falle zu einem Leben, das schäbiger ist, als das der primitivsten Wilden – und das alles zum Erhalt des konkurrierenden Kommerzsystems.
Es gibt keinen anderen Weg, und ich sage Euch unverblümt: wir werden auf diesem Weg – langfristig gesehen – reichlich Gelegenheit zur Selbstaufopferung haben, ohne deshalb erst nach Russland gehen zu müssen.
Ich bin überzeugt, dass einige in dieser Versammlung voller Unzufriedenheit und Erbitterung über die elende Anarchie des Eigennutzes sind, die das Jahrhundert des Kommerzes mit sich gebracht hat. Diesen biete ich eine Möglichkeit, den Privilegien ihrer Klasse zu entsagen, und zwar dadurch, dass sie durch die Mitgliedschaft in der Democratic Federation die sozialistische Propaganda unterstützen. Ich sehe mich geehrt, die Democratic Federation hier zu repräsentieren, von der ich glaube, dass sie als einzige Gruppierung in diesem Land den konstruktiven Sozialismus als Programm vertritt.
cardDies scheint mir ein Angebot für alle von uns zu sein, die mit dem gegenwärtigen Stand der Dinge unzufrieden sind und sich nach einer Möglichkeit sehnen, ihre Privilegien aufzugeben. Falls Ihr dieses Angebot annehmt, kann ich Euch garantieren, einige der Unannehmlichkeiten eines Martyriums auf Euch nehmen zu müssen, ohne vorerst freilich dessen Würde zu erlangen. Ihr werdet zumindest von jenen verspottet und verlacht werden, deren Spott jedem Menschen zur Ehre gereicht. Ohne Zweifel werden auch viele vortreffliche Leute kalt auf Euch herabblicken – und nicht alle werden nur dumm sein. Ihr werdet das Risiko eingehen müssen, Eure Stellung zu verlieren, Euren Ruf, Euer Geld, ja sogar Eure Freunde: Verluste, die sicherlich nur Nadelstiche sind im Vergleich zu dem wirklichen Martyrium, von dem ich gesprochen habe, die aber nichtsdestoweniger beweisen, aus welchem Holz ein Mensch geschnitzt ist. Dies umso mehr, als er diese Verluste leicht vermeiden könnte und dabei kaum einen anderen Vorwurf wegen seiner Feigheit hören müsste als den, den ihm sein eigenes Gewissen entgegen schreit.
Auch kann ich Euch nicht garantieren, dass Ihr immer den Verfolgungen offener Tyrannei entkommen werden könnt. Es stimmt, im Moment blickt die kapitalistische Gesellschaft auf den Sozialismus in England nur mit einem abfälligen Grinsen herab. Aber denkt daran, dass die gleichen Leute, die z.B. Indien ruiniert, Irland ausgehungert und geknebelt und Ägypten gemartert haben, die Fähigkeit besitzen – und einige bedrohliche Zeichen dafür haben sie erst unlängst gesetzt –auch zu Hause unverhohlen den Tyrannen zu spielen.
So kann ich Euch in jeder Beziehung nur eine Position anbieten, die Opfer mit sich bringt; eine Position, die Euch Euer »Amerika« nach Hause holt und die innere Gewissheit gibt, zumindest einer großen Sache zu nützen. Und ich bitte diejenigen unter Euch, die von der Richtigkeit und Gerechtigkeit unserer Sache überzeugt sind, nicht zu zögern, aktiv an einem Kampf teilzunehmen, der – egal wer uns hilft oder abseits bleibt – ohne jeden Zweifel schließlich zum Siege führt!


Der Vortrag „Art and Socialism“ wurde zuerst gehalten vor der Leicester Secular Society am 23. Januar 1884.

Die Leicester Secular Society ist eine Freidenker-Vereinigung bis heute:
http://www.leicestersecularsociety.org.uk
Erinnerungen an die Rede von William Morris:
http://www.leicestersecularsociety.org.uk/morris.htm
Bilder: Leicester Secular Hall, eröffnet 1881 und Mitgliedskarte der Democratic Federation, entworfen von William Morris.

Überarbeitete Übersetzung, 2013

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