Gotische Architektur

Unter dem Wort Architektur wird allgemein die Kunst des ornamentalen Bauens verstanden und in diesem Sinn werde ich es auch oft verwenden müssen. Doch möchte ich nicht, dass Ihr nur an die Herstellung wohl konstruierter und proportionierter Bauwerke denkt, die jeweils von den Architekten anderen Künstlern zur Fertigstellung übergeben werden, nachdem ihr Entwurf von einer Anzahl mechanischer Arbeiter (die keine Künstler sind) wie wir sagen: „ausgeführt“ wurde. Ein wahres architektonisches Werk ist darüber hinaus ein Gebäude, das passend mit der nötigen Möblierung ausgestattet ist, dekoriert mit angemessenen Ornamenten entsprechend seiner Verwendung, Eigenschaft und Würde. Von einfachen Leisten oder abstrakten Linien bis zu den großen epischen Werken der Plastik und Malerei, die, wenn nicht als Dekoration der nobleren Art solcher Gebäude, kaum hergestellt werden könnten. So gesehen ist ein Werk der Architektur ein harmonisches Gemeinschaftswerk der Kunst unter Einbeziehung aller ernst zu nehmenden Künste – aller, die sich nicht nur mit der Herstellung bloßen Spielzeugs oder vergänglicher Nettigkeiten beschäftigen.

Nun, diese Kunstwerke sind der Ausdruck, den Menschen dem Wert des Lebens geben und schon ihre Herstellung verleiht ihrem Leben eine Bedeutung. Da sie nur mit dem allgemeinen guten Willen und der Hilfe der Öffentlichkeit gemacht werden können, ist ihr fortgesetztes Entstehen oder die Existenz einer wahren Kunst der Architektur Merkmal für eine Gesellschaft, die, welche Elemente der Veränderung sie auch in sich trägt, stabil genannt werden kann, denn sie gründet sich auf die von Glück begleitete Ausübung der Energien des nützlichsten Teils ihrer Bevölkerung.

Was das Nichtvorhandensein dieser Kunst der Architektur auf lange Sicht bedeuten würde, kann nicht leicht gesagt werden: denn dieses Fehlen gehört nur den letzteren Zeiten der Geschichte an, die wir nicht fair betrachten können, da sie uns zu nah sind. Klar zu sehen ist in der Gegenwart, dass dadurch eine Verlagerung des Interesses der Menschen der Zivilisation angezeigt wird, von der Entwicklung der menschlichen und geistigen Energien ihrer Gattung hin auf die Entwicklung ihrer technischen Möglichkeiten. Entspricht diese Tendenz dem in sich logischen Weg der Entwicklung, dann muss gesagt werden, dass sie die Künste des Designs und der dazu analogen in der Literatur zerstören wird. Aber das logische Ergebnis von sichtbaren Tendenzen wird oft von der historischen Entwicklung durchkreuzt, wofür ich keinen besseren Namen als den kollektiven Willen der Menschheit finde und wenn meine Hoffnungen mich nicht täuschen, dann scheint dieser Prozess schon begonnen zu haben – eine Revolte ist auf den Beinen gegen den die Kunst bedrohenden Utilitarismus und sie ist tiefer verankert als eine vorübergehende Leidenschaft. Ich selbst glaube wirklich nicht, dass diese Revolte viel bewirken kann, solange der jetzige Zustand der Gesellschaft andauert. Da ich mir aber sicher bin, dass sich bald große Veränderungen nähern, die einen neuen Gesellschaftszustand bringen werden, sehe ich es als eine Sache von großer Bedeutung, dass diese beiden Revolten Hand in Hand gehen oder sich zumindest verstehen lernen sollten. Wenn die neue Gesellschaft (selber das Resultat der beständigen Evolution in zahllosen Jahren ihrer Vorgeschichte) bei ihrem Kommen die Welt von allen Traditionen der Kunst abgeschnitten finden sollte, abgeschnitten von allen Bestrebungen nach Schönheit, die schaffen zu können die Menschheit bewiesen hat, dann wird viel Zeit verloren gehen beim Laufen von Hierhin nach Dorthin hinter dem neuen Faden der Kunst her. Vielen Leben wird das menschliche Vergnügen versperrt sein, das die Welt sich nicht zu verlieren leisten kann, selbst nur für kurze Zeit. Ich bitte euch deshalb, das Folgende als Beitrag zur Revolte gegen den Utilitarismus zu verstehen; als Versuch, den dünnen Faden der Tradition einzufangen, bevor es zu spät ist.

Nun, diese harmonische Einheit der Architektur, die Künste insgesamt einschließend, ist kein reiner Traum. Ich sagte, dass sie erst in letzter Zeit ausgestorben ist: bis zum Aufstieg der modernen Gesellschaft war keine Zivilisation, keine Barbarei ohne sie in irgendeiner Form. Aber sie erreichte ihre höchste Entwicklung im Mittelalter, einer Epoche, die in Wirklichkeit viel weiter von unserer modernen Lebensweise entfernt ist als es die älteren Zivilisationen sind, obwohl ein wichtiger Teil seiner Lebensweise in unserem Land von unseren eigenen Vorfahren weitergeführt wurde. Dennoch, so entfernt diese Zeit auch von der unsrigen ist: weil die gotische Architektur die am meisten vollkommene organische Form der Kunst ist, die die Welt gesehen hat, konnte der Bruch in der Tradition nur bei ihr auftreten: alle früheren Entwicklungen tendierten zu ihr hin – diese Tatsache zu ignorieren und zu versuchen, den Faden an einer Stelle aufzugreifen, bevor dieser Punkt erreicht wurde, würde ein Stück Künstlichkeit bedeuten, keine Neugeburt, sondern lediglich eine Verstrickung in Kapricen antiker Traditionen.

Um meine Position zu veranschaulichen, erlaubt mir bitte sehr kurz die historische Abfolge der Ereignisse dazustellen, die zur gotischen Architektur und ihrem Niedergang führten und verzeiht es mir, bekannte und grundlegende Fakten anzuführen, die für meine Begründung notwendig sind.

Wir könnten die Geschichte der Architektur in zwei Perioden teilen, die Antike und das Mittelalter; die Antike wiederum in zwei Stile, den barbarischen (im Sinne der Griechen) und den klassischen Stil. Wie haben dann drei große Stile zu betrachten: den barbarischen, den klassischen und den mittelalterlichen Stil. Die zwei ersten jedoch waren zum Teil synchron und zumindest überlappten sie sich etwas. Als der Vorhang vor der Bühne der bekannten Geschichte aufgezogen wird, sieht man den kleinen exklusiven Kreis der höchsten Zivilisation, der durch Denken und Wissenschaft der Hellenen dominiert war, ausgestattet mit einem klar definierten und geordneten architektonischen Stil. Der Stil erscheint für uns innerhalb seiner Begrenzungen als einer der extremen Verfeinerung und war das sicher auch für die, die ihn hervorbrachten. Überdies ist er geschmückt durch schon in der frühen Periode nahe an Perfektion herankommende Figurenskulpturen, die rasch eine technische Vortrefflichkeit erreichten. Trotz all dem ist er ein Teil des allgemeinen Stils der Architektur der barbarischen Welt und geht nur in der Qualität seiner Skulpturen und seiner Raffinesse darüber hinaus. Das tragende Gerüst, der rein architektonische Anteil ist wenig verändert gegenüber dem barbarischen Stil oder dem ursprünglichen Haus, das ein reines Aufstapeln oder Zusammenfügen von Baumaterial darstellt; das einem keine Vorstellung vom Wachsen des Hauses selbst und keine Vorstellung von der Entwicklung eines Stils gibt.

01concordiatempelDie eine griechische Gebäudeform, mit der wir wirklich vertraut sind, der Säulentempel, ist ganz klar (obwohl er immer mit Steinblöcken gebaut war) eine Ableitung des hölzernen Gotteshauses oder Schreins, als Teil des Formenfundus der noch nicht lange zurückliegenden Vorfahren der Griechen in der Zeit von Perikles; noch hatte sich dieses Gotteshaus so sehr verändert wie die Stadt gegenüber dem Stamm oder die Verehrung der Stadt (die wahre Religion der Griechen) gegenüber der Verehrung der Stammesahnen. In der Tat ist ein strenger Konservatismus ein wesentlicher Teil der griechischen Architektur so wie wir sie kennen. Von diesem Konservatismus der Form resultierte eine „Rempelei“ zwischen dem Bau und seinem höher entwickelten Ornament. In den frühen Tagen, als noch gesundes Barbarentum an den Skulpturen haftete, ist diese Diskrepanz nicht zu spüren. Aber als die zunehmende Zivilisation von den Bildhauern mehr Naturalismus und weniger Zurückhaltung verlangt, wird es mehr und mehr offensichtlich und schmerzhafter, bis zuletzt klar wird, dass die Skulptur aufgehört hat, ein Teil der Architektur zu sein und zu einer eigenen Kunst wird, die an das Gebäude angebracht ist, aus Gewohnheit oder Aberglaube. Die Formen des ornamentalen Bauens bei den Griechen sind deshalb sehr begrenzt, haben keine Kapazität zu weiterer Entwicklung und tendierten dazu, sich von dem höheren oder epischen Ornament abzuscheiden. Was kann über den Geist gesagt werden, der diese Formen bestimmte? Was ich denke ist, dass der verengte Aberglaube in der Form des griechischen Tempels keine Frage des Zufalls war, sondern der wahre Ausdruck der Exklusivität und aristokratischen Arroganz des antiken griechischen Geistes und als dessen natürliche Folge die Forderung nach pedantischer Perfektion in allen Teilen und Details eines Bauwerks, weshalb die einfacheren Teile der Ornamentierung den höheren so sklavisch untergeordnet sind, dass in ihnen keine Neuerungen oder Individualisierungen möglich sind, woraus eine Art von Kargheit oder Leere kommt, kurz gesagt eine Abweisung jeder Romanze, was natürlich nicht das Interesse an ihnen als Relikte der Vergangenheit schmälert, aber ihren Stil als mögliche Grundlage für den Stil der zukünftigen Architektur der Welt ausscheiden lässt. Es muss auch daran erinnert werden, dass dieser Versuch absoluter Perfektion sich als Fallstrick der griechischen Architektur erwies, denn er konnte nicht lange durchgehalten werden. Es war natürlich nicht schwer, die perfekte Ausführung einer Bundleiste oder eines Zierprofils abzusichern, nicht aber die Perfektion eines höheren Ornaments, weshalb die griechische Tatkraft von ihrer Höchststandsmarke wieder zu fallen begann. Die Forderung von absoluter Perfektion wurde dann mehr zur Forderung nach absoluter Gestaltungstreue, die schnell die architektonischen Künste in einen reinen Akademismus zog.

02Costantino_ArcoAber lange bevor die klassische Kunst die letzten Tiefen dieses Abstiegs erreichte, hatte sie einen anderen Stil der Architektur zur Welt gebracht, den römischen Stil, dessen Start unterschiedlich zu dem der Griechen war, weil ihm der Gebrauch des Bogens obligatorisch wurde. Für mich steht es so, dass organische Architektur, also eine Architektur die notwendigerweise wachsen muss, mit dem eingeführten Gebrauch des Bogens beginnt. Bedenkt man seine vereinte Nützlichkeit und Schönheit, muss er als die größte Erfindung der Menschheit hervorgehoben werden. Bis zu der Zeit, als die Menschen den Bogen nicht nur erfunden, sondern auch die Kühnheit gesammelt hatten, ihn gewohnheitsmäßig zu verwenden, war die Architektur zwangsläufig so beschränkt, dass sie sich nicht stark entwickeln konnte. Es war ganz natürlich, dass ein Volk, das die erste passable Form von Gebäuden herauskristallisieren sollte, vielleicht zufällig auf sie gestoßen ist oder sie in der Art der Griechen als eine traditionelle Form angenommen hat, ohne davon etwas Komplexeres oder Aufregenderes zu erwarten. Bis der Bogen in Gebrauch kam, waren die Bauleute Sklaven der Bedingungen des Klimas, der Materialien, der Art der verfügbaren Arbeitskraft, usw. Erst einmal ausgestattet mit dem Bogen, hatten die Menschen in der Frage des Bauens die Natur bezwungen: sie können den Härten jeden Klimas, unter dem sie leben, mit passablem Komfort trotzen: besonderes Material ist nicht nötig, sie können mit grobem und weniger stabilem Material gute Resultate schaffen. Wenn sie Größe und Spannweite wollen, brauchen sie keine Herde von kriegseroberten Sklaven, die für sie arbeitet, die freien Bürger (wenn es sie gibt) können das dazu Nötige tun, ohne sich vor ihrer Zeit abzuarbeiten. Der Bogen kann alles was die Architektur braucht und umgekehrt, ab dem Zeitpunkt, da der Bogen in gewohnheitsmäßigen Gebrauch kommt, müsste die künstlerische Hauptaufgabe der Architektur die Dekoration des Bogens sein; denn der einzig zufrieden stellende Stil verbirgt niemals seinen Zweck, sondern schmückt und glorifiziert ihn. Das war es, was die römische Architektur, die als erste den Bogen verwendete, nicht tat. Sie nützte den Bogen freizügig und in einem Teil ihrer Werke auf recht einfache Weise, aber schmückte ihn nicht.
03aquaductDieser Teil des römischen Bauwerks muss eher Ingenieurleistung als Architektur genannt werden, obwohl ihre massive und einfache Würde ein wunderbarer Kontrast ist zu dem furchtbaren und rasenden Albtraum der modernen Produkte der Ingenieursarbeit. Im anderen Teil ihres Werks auf der ornamentalen Seite, verwendete das römische Bauwerk den Bogen und schmückte ihn, versteckte aber seinen Zweck und gab vor, dass die Struktur des Baus noch immer die der Oberschwelle sei, und dass der Bogen keine nennenswerte Last trage. …
04spalatoEs war auf dem Höhepunkt der steuereintreibenden Periode des Römischen Friedens, in den letzten Tagen von Diokletian (gest. 313) im Palast von Spalato (den er selbst bauen liess, um in ihm vom Herrschen gesättigt zu ruhen) dass der Rebell, die Veränderung, erstmals in der römischen Kunst auftauchte und die Erbauer zugaben, dass ihre falsche Oberschwelle falsch war und dass der Bogen ohne auskommt.

Das war der erste noch unklare Beginn der Gotik oder der organischen Architektur, von da an bis zum Beginn der modernen Epoche wuchs sie ununterbrochen weiter, wenn auch langsam. Zuerst geht es wirklich sehr langsam: die organische Architektur benötigte zwei Jahrhunderte, um sich von den Fesseln zu befreien, die ihr die akademische Zeit angelegt hatte und der Friede von Rom war verschwunden, noch bevor sie davon frei war. Aber die volle Veränderung kam zuletzt, und die Architektur wurde geboren, die logischerweise die primitive Fenstersturz-Architektur ersetzen sollte, von der der zivilisierte Stil Griechenlands die letzte Entwicklung war. Die Architektur war organisch geworden, nunmehr war keine akademische Periode mehr möglich, nichts außer dem Tod konnte ihr Wachstum beenden.

05HagiaSophiaDer erste Ausdruck dieser Freiheit wird die Byzantinische Kunst genannt, und an diesem Namen ist nichts Abzulehnendes. Für Jahrhunderte war Byzanz ihr Mittelpunkt; ihr erstes großes Bauwerk in dieser Stadt (die Kirche der Heiligen Weisheit, erbaut unter Justinian im Jahr 540) bleibt auch ihr größtes. Der Stil erreicht auf Anhieb seine volle Ausprägung in diesem seinem wunderbarsten Bauwerk, denn es sind nur wenige Bauwerke von großer Bedeutung aus der frühen Zeit erhalten. Hinsichtlich ihres Ursprungs: es wurden natürlich während der ganzen Zeit der Erschlaffung der klassischen Kunst Gebäude errichtet und traditionelle Formen und Arbeitsweisen waren noch in Gebrauch und diese Traditionen, die die Formen der römischen Bauweise einschlossen, waren nun in den Händen der Griechen. Das römisch-griechische Gebäude in griechischen Händen traf mit Traditionen zusammen, die aus vielen Quellen stammten. In Syrien, dem Grenzland so vieler Völker und Gebräuche vermischte sich der Osten mit dem Westen und die byzantinische Kunst wurde geboren. Ihre Besonderheiten sind die Einfachheit der Struktur und des äußeren Umrisses, die entzückende Feinheit der Ornamentierung, verbunden mit der Ablehnung von Unbestimmtheit: sie ist hell und klar in den Farben, pur in der Linienführung, sie verachtet Kargheit ebenso wie Blässe, ist überreichlich aber nicht schwülstig – in ihrem Geiste das genaue Gegenteil der römischen Architektur, obwohl sie so viele ihrer Formen übernahm und revitalisierte. Nichts Schöneres als ihre besten Werke wurden je von Menschen hergestellt, aber trotz ihrer prächtigen, anmutigen und ruhevollen Würde war sie die Mutter der stürmischen Kraft in der nachfolgenden Zeit, denn in ihren ersten Tagen mit St. Sophia sollte die gotische Architektur noch ein Leben tausend Jahren vor sich haben. In Ost und West setzte sie sich in der Welt durch, wo immer die Menschen auf geschichtlichem Hintergrund aufbauten. Im Osten verband sie sich mit den Traditionen der lokalen Bevölkerungen, besonders im Persien der Sassaniden-Periode und schuf den ganzen Körper dessen, was wir fälschlicherweise arabische Kunst nennen (denn die Araber hatten nie irgendeine Kunst), von Isfahan bis Granada. Im Westen ließ sie sich in den Teilen von Italien nieder, die Justinian erobert hatte, vor allem in Ravenna und kam dann nach Venedig. Von Italien oder vielleicht von Byzanz selbst aus wurde sie nach Germanien und das prä-normannische England gebracht und berührte sogar Irland und Skandinavien. Rom übernahm die gotische Architektur und sandte sie auf einem anderen Weg in den Süden Frankreichs, wo sie unter den Einfluss der römischen Architektur dieser Provinz kam und einen sehr streng geordneten und logischen Sub-Stil entwickelte: gerade das, wie man sich vorstellen könnte, dass die antiken Römer gebaut haben würden, wenn sie den besiegten Griechen hätten widerstehen können, als sie sie gefangen nahmen. Dann breitete er sich über ganz Frankreich aus, als erste Phase der Architektur des architektonischsten aller Völker und kam im Norden dieses Landes unter den Einfluss der skandinavischen oder teutonischen Stämme und brachte den letzten der rundbogigen gotischen Stilformen hervor (bei uns normannisch genannt), den diese energischen Krieger nach Sizilien weitertrugen; dort mischte er sich mit dem sarazenisch-byzantinischen Stil und schuf herrliche Bauwerke. Aber wir erkennen es am besten in unserem eigenen Land, denn Herzog Williams aufdringliche Mönche verwendeten ihn überall und er verdrängte den vorhandenen englischen Stil, der von Byzanz über Deutschland gekommen war.

Hier, am Rande einer neuen Veränderung, einer wichtigen Veränderung der Form (wenn auch nicht des Wesens) halten wir kurz an um noch mal ihre wesentlichen Eigenschaften zu erinnern. Es war der erste Stil seit der Erfindung des Bogens, der ihn gebührend ehrte und ihn anstatt zu verbergen auf eine logische Weise schmückte. Das war viel, aber die vollkommene Freiheit, die sie gebracht hatte und die die eigentliche Quelle ihrer Erfindungsgabe war, war mehr. Sie hatte die Fesseln des griechischen Aberglaubens und der Aristokratie abgeschüttelt und die römische Pedanterie und obwohl sie Regeln brauchte, um überhaupt ein Stil zu sein, folgte sie ihnen freien Willens und doch unbewusst. Die Heuchelei der Schönheit in der Einfachheit (d.h. Nacktheit und Kargheit) plagte sie nicht; sie schämte sich nicht des zusätzlichen Materials oder eines Überflusses an Ornament – nicht mehr als es die Natur tut. Sie konnte schlanke Eleganz hervorbringen oder stämmige Solidität, wohin ihre Stimmung ging. Die Materialien beherrschten sie nicht, sondern dienten ihr: Marmor war für ihre Schönheit nicht notwendig, Stein genügte dazu, oder Ziegel, oder Holz. Wo das Material nicht geschnitzt war, würde sie Glas oder was immer leuchtend und von ansprechender Farbe war einsetzen und jeden Teil der Einrichtung mit einer Schicht von herrlicher Pracht bedecken oder die Oberfläche in einer Komplexität ausarbeiten, der kaum zu folgen ist – aber nie würde sie das Auge ermüden mit der Feinheit und Ausdrucksstärke ihrer Linien. Sie liebt Gewandtheit, die meisterlichste Ausführung, deren die Hand fähig ist – aber wenn Material und Können nicht ausreichen, wird die gröbere Arbeit immer noch so gemacht sein, dass sie uns mit ihrer erfinderischen Suggestion immer noch gefällt. Denn die eiserne Regel der klassischen Periode, die Anerkennung des Sklavendaseins aller mit Ausnahme der „großen“ Menschen, war vorbei und Freiheit hatte diesen Platz eingenommen, harmonische Freiheit. Unterordnung gibt es, aber Unterordnung zugunsten der Wirkung, keine Uniformität im Detail, echte und notwendige Unterordnung, nicht pedantisch.

gildehausDas volle Maß dieser Freiheit erreichte die gotische Architektur erst, als sie in den Händen der Bauleute Europas lag, der Mitglieder der Gilden der freien Städte, die auf vielen blutigen Feldern bewiesen, wie hoch sie ihr gemeinsam organisiertes Leben schätzten, in dem sie mit großem Mut ihr individuelles Leben zu dessen Verteidigung einsetzten. Aber von Anfang an war diese Freiheit von Hand und Geist der gemeinschaftlichen Harmonie untergeordnet, die diese Freiheit ermöglichte. Das ist der Geist der gotischen Architektur.

Lasst uns eine Weile mit unserer Geschichte weiterziehen. Bis zu diesem Punkt kam der Fortschritt immer von Osten nach Westen, d.h. der Osten zog den Westen mit; der Westen musste zum Osten gehen um neue Errungenschaften zu übernehmen. Eine Wiederbelebung der Religion war eine der vorantreibenden Energiequellen im frühen Mittelalter in Europa und diese Religion (mit ihrer Begeisterung für sichtbare Zeichen der angebeteten Objekte) brachte Leute dazu, den Osten zu besuchen, wo das Zentrum dieser Anbetung lag. Daraus entstanden die kriegerischen Pilgerfahrten der Kreuzzüge zwischen Völkern, die keineswegs bereit waren, dem Gegner die Wange hinzuhalten. Wahr ist, dass die Tendenz des weit entfernten Westens, den Osten zu suchen, nicht erst in den Tagen vor den Kreuzzügen begann. Lange vorher gab es einen dünnen Strom von Pilgern Richtung Osten und die Skandinavier hatten ihren Weg nach Byzanz gefunden, nicht als Pilger, als Soldaten und unter dem Namen der Vaerings schützte eine Leibgarde ihres Blutes den Thron des griechischen Kaisers und viele unter ihnen trugen bei ihrer Heimkehr Ideen der Kunst mit sich, die in ihrer kleinen aber kraftvollen Bevölkerung nicht spurlos verschwanden. Denn die Kreuzzüge brachten Gewinne einer viel allgemeineren Art aus dem Osten mit und ich vermute, dass ein Teil dieses Gewinns die Kunstidee war, die den Übergang vom Rundbogen zum gotischen Spitzbogen brachte. In jenen Tagen (vielleicht auch in unseren) war es die Regel für Eroberer, in allen Ländern dafür zu sorgen, dass es kein anderes Gesellschaftssystem geben konnte, außer dem, in dem sie geboren waren, und dementsprechend bekam das eroberte Syrien die gleiche feudale Ordnung mit einem König von Jerusalem als Oberherrn, der einzigen Person, der es, von Herolden verkündet, erlaubt war, in seiner Rüstung Metall auf Metall zu tragen. Dennoch, die Westler, die sich in diesem neuen Königreich niederließen, wenig an der Zahl, nahmen bereitwillig Eindrücke der Kunst auf, die sie um sich herum sahen, die sarazenisch-byzantinische Kunst, die durchaus eine sympathische Verbindung zu ihrem Geist hatte: und diese Eindrücke schufen die Veränderung. Man sollte nicht denken, dass es direkte Anleihen von den Formen des Ostens gab beim graduellen Wechsel vom Rundbogen zum gotischen Spitzbogen, es war nichts Offenkundigeres zugange als der Einfluss eines verwandten Stils, dessen überlegene Leichtigkeit und Eleganz Hinweise auf dem Weg gab, welchen die Entwicklung nehmen sollte.

salisburyGewiss war dieser Übergang, als er kam, überraschend: der spitze gotische Bogen hatte eine wirklich stürmische Jugend, als er seiner kurzen und äußert schönen Verwandlung entwuchs. Sie trug die vereinigte Stärke und Eleganz fast so weit, wie es nur möglich war. Tatsächlich möchte man machmal denken, dass sie den Effekt der Leichtigkeit übertrieb, so z.B. im Innern der Kathedrale von Salisbury. Wenn ein Abt oder Mönch des elften Jahrhunderts zu seiner im dreizehnten Jahrhundert neu errichteten Kirche gebracht werden könnte, dann würde er denken, dass ein Wunder geschehen ist: der riesige runde oder quadratische Pfeiler – ersetzt durch Bündel schlanker Schäfte; die engen oben gerundeten Fenster – abgelöst durch lange breite Lanzetten, die bereits die Keime des verfeinerten Maßwerks des nächsten Jahrhunderts zeigen und elegant mit Mustern und Motiven bedeckt sind; das kühne Gewölbe, das weite Kirchenschiff überspannend – statt der flachen Holzdecke vergangener Jahre; die extreme Fülle, mit der die Profile jedes Bauteils versehen sind; die Eleganz und Ordnung der floralen Skulpturen; die Würde und gute Malerei der Bebilderung: kurz, ein vollständiger und logischer Stil der sich für nichts entschuldigen muss, der vom Intellekt Huldigung einfordert wie menschliche Vorstellungskraft; die entwickelte gotische Architektur, die die Hemmnisse der byzantinischen wie der römischen abgestreift hat und die dennoch, von den Mauern von Tyrus und dem Schatz von Mykene Schritt für Schritt ohne eine Unterbrechung und ohne bewusste Anstrengung nach Neuerungen ihre glorreiche Stellung erreichte.

wasserburgDieser Stand der Entwicklung wurde erreicht innerhalb einer Periode sozialer Konflikte, deren Tatsachen und Tendenzen, ignoriert von den Historikern des achtzehnten Jahrhunderts, nun durch unsere neue Schule von evolutionären Historikern offengelegt wurden. Im zwölften Jahrhundert sahen sich die Handwerker zuletzt von Angesicht zu Angesicht gegenüber der Spätentwicklung der althergebrachten Bünde freier Männer, die die Überlebenden der europäischen Stammesgesellschaft waren: angesichts der exklusiven und aristokratischen Patrizierherrschaft vereinigten sich die Handwerker in beruflichen Gilden und forderten ihre Freiheit von gesetzlicher und willkürlicher Unterdrückung und eine Beteiligung an den Stadtregierungen; am Ende des dreizehnten Jahrhunderts hatten sie überall diese Position erobert und in den nächsten fünfzig, sechzig Jahren waren die Delegierten der Handwerksgilden die Regierenden der freien Städte und alle Gewerbe waren in ihre Vereinigungen eingeschlossen. Diese Periode ihres Triumphes, neben anderen Ereignissen markiert durch die Schlacht von Courtray, wo die französische Ritterschaft sich vor den flämischen Webern zur Flucht kehrte, war die Periode, in der die gotische Architektur ihren Höhepunkt erreichte. Es muss hinzugefügt werden, denke ich, dass in dieser Epoche, soweit die Kunst der Errichtung schöner Bauwerke betroffen ist, Frankreich und England die Länder der Architektur par excellence waren, aber überall in der auffassungsfähigen Welt breitete sich diese helle, glitzernde, fröhliche Kunst aus, die gerade ihren Gipfel von Eleganz und Schönheit erreicht hatte und mehr noch in ihrer Ausstattung, von der ich oben sprach, diese Vortrefflichkeit wurde in verschiedenem Maß von den Ländern Europas geteilt.
friedhofskapelle_riffianLasst mich im Vorbeigehen erwähnen, dass die entsprechende übliche Vorstellung eines gotischen Innenraumes als ein farbloser, weißlich-grauer Ort von rein architektonischen Formen ebenso wenig den Tatsachen entspricht wie die korrespondierende Idee eines griechischen Tempels in der ganzen Keuschheit weißen Marmors. Wir dürfen nicht vergessen, dass im Gegenteil beide Bauwerke bekleidet waren und dass der vornehmste Teil ihres realen Gewandes ihr Anteil an einem großen Epos war, einer Geschichte, die in den Herzen und Köpfe der Menschen Anklang fand. Und im gotischen Gebäude, besonders in dem halben Jahrhundert, das wir jetzt vor uns haben, wurde jedes Teil, Wände, Fenster, Fußboden als geeignete Fläche angesehen, um alle großen Ereignisse der Menschheit wiederzugeben, so wie sie sich den damals lebenden Menschen darstellte. Und dieser Raum wurde mit größter Offenheit und Üppigkeit genützt und man könnte wirklich sagen, worauf immer ein Bild gemalt werden konnte, darauf wurde es gemalt.

Denn nun hatte die gotische Architektur ihre Ausstattung vervollständigt: ihre Literatur repräsentierten Dante, Chaucer, Petrarch, die germanischen Heldensagen, die französischen Romanzen, die englischen Forest-Balladen (diese Epen der Revolte) die isländischen Sagen, Froissart und die Chronisten. Ihre Malerei umfasst eine Schar von Namen (hauptsächlich aus Italien und Flandern), die zwei großen Realisten Giotto und Van Eyck an ihrer Spitze: aber jedes Dorf hatte seine Maler, seine Schnitzer, sogar seine Schauspieler; jeder Mensch, der handwerklich etwas produzierte, war ein Künstler. Die wenigen nach ihrem Untergang gebliebenen Stücke von Haushaltsgütern sind Wunder der Schönheit; die Webstoffe und Stickereien sind des hübschesten Bauwerks wert; Bebilderung und Ornamente ihrer Bücher wären selbst schon genug für eine große Kunstperiode, so herausragend sind sie in ihrer epischen Intention, in der Vollständigkeit treffsicherer Dekoration und im wunderbaren Geschick der ausführenden Hand. Kurz, diese Meisterwerke des erhabenen Bauens, diese Meisterstücke der Architektur, wie wir sie nennen, deren Betrachten uns Heutigen einen herrlichen Tag verschafft, sind der Standard aller Künste in jenen Jahren und erzählen die Geschichte der Erfüllung der Kunst in der Blüte des Lebens – und die traurige Geschichte, die darauf folgen sollte. Denn wenn irgendetwas Menschliches an einen Punkt des So-gut-wie-Vollkommenen gelangt, dann bleibt für es Niedergang und Absterben, damit daraus das Neue geboren werden kann und die wundervolle, frohe Kunst des Mittelalters konnte auf keinem Wege seinem Schicksal entkommen.

In der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts wurde Europa vom mysteriösen Terror des Schwarzen Todes heimgesucht (ein Terror ähnlich dem, der womöglich durch die moderne Welt sich vorbereitet) und verbunden damit wurden wir von den nicht weniger mysteriösen Pesten des Kommerzes und der Bürokratie angegriffen. Dieses Unglück war der Wendepunkt des Mittelalters, wieder stand eine große Veränderung an. Die Geburt und Entwicklung des kommenden Wechsels wurde von der Kunst in aller Treue markiert. Die gotische Architektur veränderte ihren Charakter in den Jahren, die unmittelbar auf die Große Pest folgten. Sie begann, die Begeisterung ihres Stils zu verlieren und erlitt eine Minderung in der allgemeinen Fülle der Schönheit, die sie uns in ihrer Blütezeit gab. An einigen Orten, z.B. in England, wurde sie mürrischer und manchmal sogar gewöhnlicher; an anderen, wie in Frankreich, verlor sie an Ordnung, Kraft und Reinheit der Linie. Aber noch für lange Zeit war sie lebendig und kräftig und zeigte sogar eine höhere Fähigkeit als vorher, sich den Bedürfnissen einer sich entwickelnden Gesellschaft anzupassen. Auch ihre Innenausstattung wurde durch die Veränderung des Stils nicht schwer verletzt, einige der unterstützenden Künste wie flämische Wandbehänge oder englisches Schnitzwerk gewannen eher noch viele Jahre dazu, als dass sie verloren hätten.

StMaria_NovellaZuletzt, mit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts wurde die große Veränderung offensichtlich, und wir müssen dabei daran denken, dass es kein vordergründiger Wechsel der Form, sondern zuerst eine Veränderung des Geistes war, die unvermeidbar jede Form beeinflusst. Diese Veränderung haben wir irgendwie prahlerisch und, soweit es die Kunst betrifft, unwahr als Neugeburt (Renaissance) bezeichnet. Sehen wir, was sie bedeutet.

Die Gesellschaft bereitete sich vor auf eine komplette Neugruppierung ihrer Bestandteile: die mittelalterliche Gesellschaft des Status war im Übergangsprozess zur modernen Gesellschaft des Vertrages. Neue Klassen entstanden für ein neues System der Produktion, das dem Ganzen zugrunde lag; das politische Leben begann wieder mit der Neugeburt der Bürokratie und politische Nationen (im Unterschied zu natürlich entstandenen) wurden zum Nutzen dieser Bürokratie zusammengehämmert, die selbst eine Notwendigkeit dieses neuen Systems war. Und mit all dem wurde eine neue Religion geschneidert, um der neuen Theorie des Lebens zu genügen: kurz, das Zeitalter des Kommerzes war geboren.

Jetzt werden manche von uns denken, dass das alles eine Quelle des Elends und des Niedergangs für die Welt jener Zeit war, dass es bis heute noch Elend und Niedergang verursacht und als System einem besseren Platz machen muss. Aber wir geben zu, dass es eine wohltätige Funktion auszuüben hatte, dass sie neben aller Hässlichkeit und Konfusion die sie mit sich brachte, ein notwendiges Instrument zur Herausbildung der Freiheit des Gedankens und der Fähigkeiten der Menschen war, die Natur ihren materiellen Bedürfnissen zu unterwerfen. Diese große Veränderung war notwendig und unvermeidlich und von dieser Seite her, der Seite des Handels, der ihr dienenden Wissenschaft und Politik, war es eine wirkliche Neugeburt. Auf dieser Seite blickte sie nicht rückwärts sondern vorwärts: in der vergangenen Geschichte hatte es nichts ähnliches gegeben; es wurde auf kein pedantisches Modell gegründet; Notwendigkeit und nicht eine Laune war der Lehrmeister.

Seltsam zu sagen, aber dieser lebendige Körper von sozialer, religiöser, wissenschaftlicher Neugeburt war auf den toten Leib einer vergangenen Kunst festgebunden. Nach allen Seiten rief sie die Menschen auf, nach vorne nach Veränderungen Ausschau zu halten, ob gut oder schlecht; auf der Seite der Kunst rief sie mit dem ernstesten pädagogischen Gebaren die Menschen auf, hinter die Tage der „Väter und berühmten Männer, die sie zeugten“ zu sehen auf eine Kunst, die schon vor tausend Jahre gestorben war. Bis dahin, von allem Anfang an war die Vergangenheit vergangen gewesen und vorbei, was von ihr in der Gegenwart nicht mehr lebendig war, war den Menschen der Gegenwart unbewusst. Von da an sollte die Vergangenheit unsere Gegenwart sein und die Leere ihrer toten Mauer sollte die Zukunft vor uns verschliessen. Es gibt heute viele Künstler, die das Große, das Einschneidende dieses Wechsels nicht genügend einschätzen und nicht sehen, wie eng sie mit der viktorianischen Architektur der Ziegelschachtel und dem Schieferdeckel verbunden ist, die daran mit beteiligt ist, uns zu den Dummköpfen zumachen, die wir sind. Was auf der Erde konnte nur die Vorstellung der Menschen von Schönheit so verändern? – möchte man fragen. Nun, haben sich ihre Vorstellungen von Schönheit verändert? War es nicht eher so, dass Schönheit, wenn auch unbewusst, den Menschen dieser Epoche nicht länger ein Objekt der Aufmerksamkeit war?

stpaulDas verwirrte mich immer angesichts eines der sogenannten Meisterwerke der „Neuen Bibel“, dem wiederbelebten klassischen Stil, wie z.B. einem Gebäude wie St. Paul in London. Ich fand es schwierig, mich in einen Geisteszustand zu versetzen, der ein solches Werk als Ersatz für sogar das letzte oder schlechteste gotische Gebäude ansieht. Ein solcher Geschmack erscheint mir wie der Geschmack eines Mannes, der seine Geliebte glatzköpfig vorzieht. Aber ich weiß nun, dass es keine Frage des Wahl von irgend jemand war, der damals lebte und ein Auge für Schönheit hatte: wenn der Wechsel aus Gründen der Schönheit gemacht worden wäre, dann wäre er völlig unerklärbar, aber so war es nicht. In den frühen Tagen der Renaissance gab es Künstler, die die höchsten Qualitäten besaßen. Aber diese großen Menschen waren in Wirklichkeit nur die Frucht der Blütezeit der gotischen Periode, was reichlich durch die auf die Renaissance folgenden Epochen bewiesen wird, die in allen Künsten nichts als Albernheiten und Nachgemachtes erzeugte. Ein paar einzelne Künstler waren wahrlich groß, aber die Künstler waren nicht mehr die Herren der Kunst, denn das Volk hatte aufgehört, Künstler zu sein und seine Beherrscher waren Pedanten. St. Peter in Rom und St. Paul in London wurden nicht erbaut, um schön zu sein, oder um schön zu sein und praktisch. Sie wurden nicht gebaut, um Heimstätte der Bürger in ihren erhebenden Momenten, ihres größten Kummers oder größten Hoffnung zu sein, sondern um ansehnlich und respektabel zu sein und damit das Maß von Kultur und Wissen der einzigen Zeit und der einzigen Menschen vorzuzeigen, die nach Ansicht ihrer unwissenden Erbauer keine unwissenden Barbaren waren. Sie wurden gebaut als Hort einer sittenstrengen, unenthusiastischen Kirche, von der Sorte Leute, die wir heute manchmal „Dons“ nennen. Schönheit und Romanze waren außerhalb der Erwartungen ihrer Erbauer. Es hätte auch nicht anders sein können in jenen Tagen, denn noch einmal, architektonische Schönheit ist das Ergebnis der harmonischen und klugen Zusammenarbeit aller Teile der Bevölkerung, die die durch Handwerker hergestellten Dinge dazu beitragen und in der Zeit als die wankelmütige Neugeburt zu einem kräftigen Racker herangewachsen war, gab es diese Handwerker nicht mehr. Da hatte Europa begonnen, die große Armee der Handwerker-Künstler, die diese Schönheiten ihrer Städte, ihrer Kirchen, Landsitze und Landhäuser geschaffen hatten, in einen riesigen Vorrat von menschlichen Maschinen zu verwandeln, die nur wenig Chancen hatten, den bloßen Lebensunterhalt zu verdienen, wenn sie bei ihrer Schufterei damit herumgetrödelt hätten, darüber nachzudenken, was sie machen: sie waren nicht gefordert zu denken, wurden nicht bezahlt fürs Denken und es war ihnen nicht erlaubt zu denken. Diese „Erfindung“ haben wir bis heute zum Maximum perfektioniert und sie wird, möchte ich hoffen, bald einer neuen Platz machen müssen. Das ist gut so, denn solange diese Erfindung in Gebrauch ist, braucht man sich über Architektur nicht den Kopf zu zerbrechen, sie ist solange unerreichbar – denn als der gemeinsame Ausdruck unseres Lebens ist sie eine authentische Sache.

Ich werde jetzt nicht auf direkte Abhilfen für die Mängel der Neugeburt eingehen, ich kann Euch nur sagen, was ihr tun solltet wenn ihr könnt. Ich möchte, dass Ihr durch diesen knappen historischen Überblick über die Entwicklung der Künste sehen könnt, dass es heute nur einen Stil der Architektur gibt, auf den eine wahre lebendige Kunst gegründet werden kann, der frei genug ist um sich den wechselnden Bedingungen des sozialen Lebens, des Klimas usw. anzupassen, und dass dieser Stil die gotische Architektur ist. Der größere Teil von dem, was wir heute Architektur nennen ist nur die Imitation der Imitation einer Imitation, das Ergebnis einer Tradition trostloser Respektabilität oder von dümmlichen Launen ohne Wurzeln oder Wachstum in sich.

Schauen wir auf ein Beispiel der pedantischen Retrospektion, wie damit im Dienste der Kunst umgegangen wurde. Ein griechischer Säulentempel war, als er eine reale Angelegenheit war, eine Art von heiligem Geländer, das um einen Schrein herum gebaut war: Dinge dieser Art wollten die Leute dann auch haben und auf natürliche Weise nahmen sie die Form des griechischen Tempels wie unter griechischem Klima an und drückten die Stimmung jener Bevölkerung wieder. Aber wollen wir solche Dinge? Wenn ja, dann wüsste ich gerne wozu. Und wenn wir behaupten sie zu wollen und damit einer modernen Stadt einen griechischen Tempel aufdrücken, dann schaffen wir ein derart riesiges Stück von hässlicher Absurdität wie man es die Lochs von Edinburgh überspannen sieht. Auf diesen Inseln wollen wir ein Dach und Mauern mit ausgeschnittenen Fenstern und ein griechischer Tempel wird nicht behaupten, uns etwas davon zu bieten.

Würde ein römisches Gebäude diese Anforderungen erfüllen können? Nun, nur unter der Voraussetzung, dass wir uns wegen Mauern, Dach und Fenstern schämen und so tun, als würden wir nichts davon wissen um uns mit der Laune der versuchten Imitation eines römischen Tempels begnügen.

Würde ein neoklassisches Gebäude uns diese Anforderungen erfüllen? Zu ziemlich denselben Bedingungen als das römische, außer dann, wenn es zu mehr als der Hälfte gotisch wäre. Es würde uns aufzwingen, weder Dach noch Wände noch Fenster zu haben, nichts anderes als eine Imitation des römischen Zerrbildes eines griechischen Tempels.

gern_eggenfeldenEin gotisches Bauwerk hat Mauern, für die es sich nicht schämt und in diese Mauern können Fenster gesetzt werden, wo immer man will und wenn es gefällt, sie zu verzieren, um zu zeigen, dass man sich auch ihrer nicht schämt, dann werden die benötigten Fenster zu den großen Schönheiten des Hauses zählen und man wird keine Lehre in Logik machen müssen, um nicht im eigenen Haus in schwärzester Finsternis zu sitzen so wie im nachgemachten pseudo-römischen Stil: euer Fenster ist dann keine Konzession an die menschliche Schwäche mehr, eine hässliche Notwendigkeit, sondern eine Pracht der Baukunst. Zum Dach in dem nachgemachten Stil: wenn das Gebäude nicht vom Geist der Gotik angesteckt ist, dann muss es so tun, als lebten wir in einem heißen Land, in dem es nur eine Art Zelt braucht, wo es niemals regnet oder schneit. Demgegenüber ist in einem gotischen Gebäude das Dach von innen wie von aussen (besonders von innen, wie oft zu sehen) die Krone ihrer Schönheit, der dauerhafte Platz ihres Gehirns.

Noch einmal, bedenkt das Äußere Eurer Häuser, den Teil, an dem die Vorübergehenden Anteil haben und dass kein Mensch sich auf sein privates Eigentum zurückziehen kann; es sei denn, er baut in einem nicht zugänglichen Park. Das Original unserer neoklassischen Architektur war entworfen worden für Marmor in einem trockenen heißen Klima, das ihn nur zu einem goldenen Ton verwittert. Gefällt uns wirklich ein neoklassisches Gebäude, wettergegerbt von der Grobheit hunderter englischer Winter von Oktober bis Juni? Und, auf der anderen Seite, wer von uns wird nicht berührt sein von der verwitterten Oberfläche eines gotischen Gebäudes, das den Händen des Restaurators entkommen ist? Wissen wir nicht zu gut, dass das letztere ein Stück der Natur ist, dem viel exzellenteren Geist der Natur, der Hände und Willen von Menschen als Instrumente des Erschaffens nützt?

Es fehlt die Zeit zum Eingehen auf die vielen Seiten des Kontrasts zwischen einer Architektur, die eine reine pedantische Imitation von etwas früher lebendigem ist und jener Architektur, die nach der Entwicklung langer Jahrhunderte noch immer Kapazitäten für neue Entwicklungen hat – denn ihr Leben wurde verkürzt durch einen willkürlichen Rückgriff auf einen Stil, der schon lange alle Elemente von Leben und Wachstum verloren hat. Ein für allemal, wenn die moderne Welt herausfindet, dass der Ekklektizismus der Gegenwart karg und fruchtlos ist, dass sie einen architektonischen Stil braucht und haben wird, als Teil einer Veränderung, die so breit und tief ist wie es die Zerstörung des Feudalismus war; wenn sie zu dieser Entscheidung kommt, wird der Stil der Architektur in einem wirklichen Sinne historisch sein müssen, er wird sich nicht mit der Tradition begnügen können, er kann nur damit beginnen, etwas ganz Verschiedenes von allem früher Gemachten zu tun. Wie immer dann die Form sein wird, der Geist darin wird mit den Anforderungen und Erwartungen ihrer eigenen Zeit sympathisieren, keine Simulation vergangener Bedürfnisse und Erwartungen. So wird sie die Geschichte der Vergangenheit erinnern, die Geschichte der Gegenwart machen und der Zukunft Geschichte lehren. Was ihre Form betrifft, ich sehe nur, dass diese Form, wie ihr Geist, gotisch sein muss – ein organischer Stil kann nicht aus einem ekklektischen herauswachsen, nur aus einem selbst organischen. In der Zukunft muss unser Stil der Architektur gotische Architektur sein.

gothic architectureUnd wenn die Welt in der Zwischenzeit nach Architektur verlangt, was sollen wir tun? In der Zwischenzeit? Nach allem, gibt es da irgendeine Zwischenzeit? Verlangen wir nicht jetzt nach gotischer Architektur und rufen nach einer frischen Neugeburt? Mir scheint es so. Es ist wahr, dass die Welt jetzt hässlicher ist als vor fünfzig Jahren, aber seitdem hielten die Leute Hässlichkeit für eine wünschenswerte Sache und schauten sie mit Selbstgefälligkeit als Zeichen von Zivilisation an, was sie ohne Zweifel ist. Jetzt sind wir nicht mehr so selbstgefällig, sondern meckern in einer düsteren, unklaren Haltung vor uns hin. Wir spüren einen Verlust und obwohl wir recht außerhalb der Spur und hilflos sind sollten wir doch gleich versuchen, diesen Verlust zu ersetzen. Die Kunst kann nicht tot sein, solange wir ihr Fehlen spüren und ich meine, obwohl wir wahrscheinlich viele Umwege ausprobieren müssen um dieses Fehlen wieder zu füllen, werden wir letzten Endes auf den einen richtigen Weg geführt werden, um schliesslich trotz aller Risiken und Verluste unglückliche und sklavische Arbeit zu beenden. An diesem Tag werden wir die gotische Architektur an die Hand nehmen und erkennen, was sie war und was sie sein wird.


„Gothic Architecture“; der Vortrag wurde von Morris 1889 und 1890 mehrmals gehalten und 1893 von der Kelmscott Press gedruckt.
Eigene Übersetzung, 2014

Morris ging ein Jahr bei dem Architekten Street in die Lehre, die er aber abbrach, um sich verschiedenen Handwerken zuzuwenden. Sein großes Wissen über die Architekturgeschichte verarbeitete Morris neben seiner intensiven sozialistischen Tätigkeit zu diesem hochinteressanten zusammenfassenden Blick auf die europäische Architektur. Er spannt dabei den Bogen der Gotik, der organischen Architektur, wie er sie auch nennt, weiter, als es sonst zu lesen ist. Man darf auch nicht vergessen, dass der Begriff „Gotik“ nichts mit den Goten zu tun hat, sondern ein abwertender Begriff aus der Renaissancezeit ist. Es ist zu beachten, dass er der Neogotik und der Stilmischung (Ekklektizismus) seiner Zeit kritisch gegenüber stand und, obwohl er selbst besonders die Gotik des 13. Jahrhunderts liebte und in seinem Werk aufgriff, er für einen neuen Stil als Fortentwicklung der Gotik eintrat. Welche Formen diese Entwicklung bringen würde, war für ihn offen. Er hielt sie aber erst für möglich, wenn die Zivilisation eine neue Einstellung zur Arbeit gewinnt, auf der Grundlage der Volkskunst und der Handwerker-Künstler. (Der Übersetzer)

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