Das sozialistische Ideal in der Kunst

mmDiesen Text gibt es auch als kleine Broschüre – in Verbindung mit einem Blick auf die Stadtgestaltung Münchens. Das passt zusammen, weil das Ideal von William Morris um 1900 auch in Deutschland und München bekannt war und durchaus Einfluß hatte. Zum anderen, weil er so klarsichtig wie wenig andere einer Architektur widersprochen hat, die sich dem Kommerz, Privatinteressen und fragwürdigem Luxus verschrieben hat. München wird überrollt von einer regelrechten Bauwut, angetrieben von einem Zuviel an Geld und einem Zuwenig an Zurückhaltung einer Bauszene, die in ihrer Arbeit nichts mehr auszudrücken hat. Kunst und Schönheit sind unter die Räder gekommen. Es ist zu spüren, dass viele damit doch nicht mehr einverstanden sind, und das macht Hoffnung.  Download (3. Aufl.): Morris-Muenchen
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Wir möchten einleitend den Architekturhistoriker Prof. Dr. Winfried Nerdinger und den Architekten Karl Hocheder (1854-1917) zu Wort kommen lassen:

„Durch die vorstellungsbildende Kraft der Architektur entsteht nach Sulzer überhaupt erst beim Menschen die Vorstellung von Schönheit und Ordnung. Nur durch die Architektur, die uns ständig umgibt, können wir überhaupt die Vorstellung von dem entwickeln, was Schönheit ist oder sein kann.“
„Was jedoch bis heute bei den meisten Architekten – im Studium eingeübt – unverrückbar festsitzt, ist das Dogma vom zeitgemäßen Bauen oder wie Walter Gropius formulierte: »Die Baukunst soll ein Spiegel des Lebens und der Zeit sein […] neue Gebäude müssen erfunden, nicht nachgeahmt werden.« Die Vorstellung, dass jede Generation geradezu verpflichtet sei, sich mit den jeweils neuesten Mitteln und Formen auszudrücken, impliziert den kontinuierlichen Bruch mit der Geschichte und adressiert sich damit immer noch in Avantgarde-Manier an geschichtslose Wesen, nicht aber an Menschen, deren Menschsein ja gerade darin besteht, dass sie in einem historischen Kontinuum stehen.“
„Alvar Aalto, der große finnische Architekt, hat Aufgabe, Maßstab und Verantwortung des Architekten einmal meines Erachtens großartig definiert: „In der Architektur gibt es nur zwei Kriterien, sie ist entweder menschlich oder unmenschlich.“ Wer wie Rem Koolhaas glaubt, Architektur müsse „Bestandteil des rücksichtslosen Wirbelsturms“ der Modernisierung sein und brauche „sich einen Teufel um die Menschen“ zu scheren, der macht sich zum Handlanger mörderischer Ausbeutung. Die Verantwortung des Architekten liegt darin, für Menschen als sich wandelnde, in der Gegenwart ebenso wie in der Tradition und Geschichte verankerte Wesen zu bauen. Die moderne Architektur muss dazu ihr ahistorisches Menschenbild aufgeben und einen neuen Umgang mit der Historie finden oder sie wird endgültig zum Design für Konsum und Unterhaltung.“

Zitat aus „Nicht Bilder sondern Bildung – Zur Verantwortung des Architekten“, 2004. Abgedruckt in: Winfried Nerdinger, GESCHICHTE MACHT ARCHITEKTUR, Prestel Verlag, München, 2012
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Auf der zweiten Seite der Broschüre ist das Müllersche Volksbad (fertiggestellt 1901) abgebildet, das wie die Hauptfeuerwache, mehrere Schulen und andere typisch „Münchnerische“ Bauwerke von Karl Hocheder erbaut wurde. Er bezog sich auf William Morris und so schreibt er am Ende des ausgedruckten Vortrags „Baukunst und Bildwirkung“ (1903):

„Vor allem gilt es, zum Teil schon angebahnte Wege weiter zu verfolgen, die auf dieses Ziel zu führen; es gilt noch, den Respekt vor dem Alten, Überlieferten und Heimatlichen schon von Kindesbeinen auf zu pflegen; es gilt, die alte Verwechslung von Schönheit mit Luxus zu beseitigen und dem modernen Scheinluxus zu steuern, es gilt, das Handwerk einer größeren künstlerischen Selbständigkeit zuzuführen und den baukünstlerischen Unterricht dem modernen Gestaltungsgeist besser anzupassen. Es gilt endlich, den ethischen Wert des eigenen Heims, welches, wenn auch oft nur ein einfacheres, so doch menschenwürdigeres Dasein als das großstädtische Nomadenleben gewährt, wieder erkennen und schätzen zu lernen.
Ich nähere mich dem Schluss meiner heutigen Ausführungen, welche sich mit dem, was William Morris in dem schon erwähnten Vortrag zu Birmingham gegen den Schluss zu gesprochen hat, im allgemeinen decken.
Er sagt: „Nun habe ich Ihnen zu zeigen gesucht, wie die Hast der heutigen Zivilisation … dahin gewirkt hat, dass die Menschen, Vornehme wie Geringe, im Grossen und Ganzen verlernt haben, die Augen zur Wahrnehmung und die Hände zur Hervorbringung jener Volkskunst zu gebrauchen, die einst der beste Trost und die grösste Freude war, die die Welt bieten konnte. Ich habe Sie gebeten, dies nicht leicht zu nehmen, sondern als ein schweres Missgeschick anzusehen. Ich habe Sie ersucht, danach zu streben, diesem Übelstande abzuhelfen, einmal, indem Sie, was von der Schönheit der Erde noch vorhanden ist, eifersüchtig hüten, und was davon verloren gegangen ist, ernstlich zurückzuerlangen suchen, und dann, indem Sie den Luxus aufgeben, um sich, wenn Sie können, der Kunst hinzugeben – oder wenn Sie wirklich in Ihrem kurzen Leben nicht lernen können, was Kunst bedeutet, wenigstens ein einfaches Leben führen, wie es Menschen zukommt.“
England ist seinen Führern auf dem von ihnen gewiesenen Pfade gefolgt und bekam dadurch, den anderen Nationen voranschreitend, zuerst die Einsicht in eine wirklich künstlerisch gesunde Bauweise, die auch mit der Natur sich in Einklang zu bringen versteht. Bei uns in Deutschland sind die besten Ansätze zu einer Verfolgung der gleichen Ziele gemacht, aber es sind die Kreise immer noch zu klein, die an dem gleichen Strange ziehen, als dass eine durchschlagende Gesundung in Bälde schon erwartet werden dürfte. Erst wenn sehr weite Kreise und zuletzt die gesamte Nation Bestrebungen der heute entwickelten Art nicht mehr als leere Schwärmereien einzelner Schöngeister taxieren, sondern von ihrem tieferen Gehalt überzeugt werden und danach handeln, erst dann wird wieder die Schönheit der Erde als ein Gut angesehen werden, das uns anvertraut worden, es nicht nur zu erhalten, sondern vermehren zu helfen durch Hinzufügung neuer, wirkungsvoller Bilder.“

Entdeckt in der Stadtbibliothek München: Baukunst und Bildwirkung
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Das sozialistische Ideal in der Kunst

Einige Leute werden vielleicht nicht darauf vorbereitet sein zu erfahren, dass der Sozialismus überhaupt eine Idealvorstellung der Kunst hat, denn er ist in erster Linie so offensichtlich auf die Notwendigkeit ausgerichtet, mit der bloßen wirtschaftlichen Organisation des Lebens fertig zu werden, dass viele, und sogar einige Sozialisten, nichts außer dieser ökonomischen Basis sehen. Ferner glauben viele, die dazu neigen, die Notwendigkeit eines ökonomischen Wandels in sozialistischer Richtung anzuerkennen, ganz ernsthaft, dass die Kunst durch Ungleichheit in den Lebensverhältnissen unterstützt würde (die der Sozialismus als allererstes beseitigen muss), und dass die Kunst real ohne diese Ungleichheit nicht existieren könne. Gegenüber diesen Ansichten behaupte ich erstens, dass der Sozialismus eine umfassende Theorie des Lebens ist und dass er, so wie er eine eigene Ethik und Grundsätze der Weltanschauung auch eine Ästhetik hat, so dass jeder, der den Sozialismus richtig begreifen möchte, ihn notwendigerweise aus der ästhetischen Perspektive betrachten muss. Und zweitens behaupte ich, dass die Ungleichheit in den Lebensbedingungen – jedenfalls heute, was auch immer in früheren Zeiten der Fall gewesen sein mag – unvereinbar mit der Existenz einer kräftigen Kunst ist.

Doch bevor ich fortfahre, muss ich erläutern, dass ich das Wort Kunst in einem erweiterten Sinn verwende; nicht in dem, wie es heute meist verwendet wird. Um die Sache zu erleichtern, werde ich sogar alle Reize für Verstand und Gefühl ausklammern, die nicht über das Sehvermögen angesprochen werden, obwohl die Musik und die gesamte Literatur als Teile der Kunst gesehen werden müssen; aber ich kann von den möglichen Vermittlern von Kunst kein Produkt des Menschen ausschliessen, das betrachtet werden kann. An dieser Stelle wird sofort der trennende Unterschied zwischen der sozialistischen und der kommerziellen Sichtweise auf die Kunst offenbar. Für den Sozialisten muss ein Haus, ein Messer, eine Tasse, eine Dampfmaschine und was nicht noch alles, ich wiederhole – alles, was von Menschen hergestellt wurde und eine Form hat – muss entweder ein Werk der Kunst oder zerstörerisch für die Kunst sein. Dagegen teilt der Geschäftemacher die »Manufakturwaren« in jene, die absichtlich Kunstwerke sind und als solche auf dem Markt angeboten werden, und in jene, die keinen Anspruch auf künstlerische Qualität erheben und auch nicht erheben könnten. Der Geschäftemacher verhält sich danach, dass der übergroße Teil der menschlichen Arbeit in der Zivilisation keinen Anspruch erhebt, Kunst zu sein, und er hält das für natürlich, unvermeidbar und auch im Großen und Ganzen für wünschenswert. Der Sozialist demgegenüber betrachtet dieses offensichtliche Fehlen von Kunst als eine Krankheit, die die moderne Zivilisation charakterisiert und für die Menschheit zum Schaden ist; ferner glaubt er, dass diese Krankheit geheilt werden kann. Auch hält er diese Krankheit und Schädigung der Menschheit nicht für eine belanglose Angelegenheit, sondern für einen schmerzlichen Verlust von menschlichem Glück; denn er weiß, dass die alles durchdringende Kunst, von der ich sprach und deren Möglichkeit der Geschäftemacher nicht sieht, der Ausdruck der Freude an der Arbeit ist, die etwas herstellt; und da alle Menschen, die nicht bloß eine Last für die Allgemeinheit sind, in der einen oder anderen Weise etwas herstellen müssen, so folgt daraus, dass unter dem gegenwärtigen System die meisten aufrichtigen Menschen ein unglückliches Leben führen müssen, da ihrer Arbeit, die den wichtigsten Teil ihres Lebens ausmacht, die Freude genommen ist. Oder, um es ganz kurz und unverblümt zu sagen: im gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft ist Glück nur für Künstler oder Diebe möglich.

Aus dieser Behauptung wird sofort klar, wie notwendig es für Sozialisten ist, über die richtige Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft nachzudenken; denn ihr Ziel ist es, eine vernünftige, schlüssige und stabile Gesellschaft zu verwirklichen. Über die beiden eben genannten Gruppen ist zu sagen, dass die Künstler (das Wort in seiner gegenwärtigen, engeren Bedeutung gebraucht) zu wenige sind und zu beschäftigt mit ihrer speziellen Arbeit (wofür sie kaum verantwortlich gemacht werden können), um den öffentlichen Angelegenheiten viel Aufmerksamkeit zu schenken; und dass die Diebe (aller Klassen) ein die Gesellschaft störendes Element bilden.

Der Sozialist sieht nun nicht nur diese Krankheit am Körper der Gesellschaft, sondern er glaubt, auch ihre Ursache zu kennen und kann sich daher ein Heilmittel vorstellen; und das um so mehr, weil diese Krankheit, wie gesagt, vor allem der modernen Zivilisation eigen ist. Kunst war einmal der gemeinsame Besitz des ganzen Volkes; im Mittelalter war es die Regel, dass die Produkte des Handwerks schön waren. Ohne Zweifel hatte auch die mittelalterliche Kunst in ihrer Glanzzeit Schandflecken, aber diese entstanden durch die Zerstörung von Gütern, nicht wie heute bei ihrer Herstellung: es waren die Handlungen des Kriegs und der Zerstörung, die damals das Herz des Künstlers betrübten; die geplünderte Stadt, das niedergebrannte Dorf, die verwüsteten Felder. Der Ruin trug sichtbar die Zeichen der ihn verursachenden Scheußlichkeit; heute ist es der wirtschaftliche Erfolg, der nach außen hässlich ist.

Die Geschichte des Manufakturisten aus Lancashire, der – zurückgekehrt aus Italien, jenem melancholischen Museum der Völker – sich über den Anblick des Qualms aus seinen Schornsteinen freut, mit dem er die Schönheit der Erde vergiftet, zeigt uns beispielhaft den aktiven reichen Mann des kommerziellen Zeitalters, der zur Unfähigkeit heruntergekommen ist, sich eine sorgsam behandelte Umwelt auch nur zu wünschen. In jenen vergangenen Tagen waren die Wunden des Kriegs wirklich schmerzvoll, aber der Friede würde den Menschen wieder Freude bringen, und die Hoffnung auf Friede war zumindest denkbar; aber heute kann auch der Friede uns nicht länger helfen; er bringt uns keine Hoffnung; der Wohlstand des Landes, mit welch »großen Sprüngen« er auch fortschreiten mag, wird alles um uns herum nur immer hässlicher werden lassen; es wird zu einer immer sicherer bestätigten Regel, dass die Sehnsucht nach Schönheit, das Interesse an Geschichte und die Intelligenz der ganzen Bevölkerung nichts ausrichten können, wenn es darum geht, einen reichen Menschen davon abzuhalten, das ganze Land bis zum vollen Umfang seines Reichtums zu schädigen; das heißt, sein Privileg auszunutzen, anderen Leuten die Lasten aufzuerlegen. Damit ist der Beweis geführt, zumindest für alle, die Schönheit und ein anständiges Leben lieben, dass das Privateigentum Diebstahl an der Allgemeinheit ist.

Wie sehr auch immer wir darunter leiden mögen, insbesondere wenn wir zufällig  Künstler sind – als Sozialisten sollten wir das als Letzte bejammern. Denn tatsächlich ist der »Friede« der Geschäftemacherei kein Friede, sondern erbitterter Krieg, und die grässliche Wüste von Lancashire und der sich ständig ausbreitende Schmutz Londons sind zumindest handfeste Lektionen, um uns zu lehren, dass das so ist, dass Krieg im Land herrscht, der alle unsere Bemühungen um ein gesundes und glückliches Leben zunichte macht. Der Zwang der Zeit, sage ich, besteht darin, den kommerziellen Krieg anzuheizen, den wir alle in der einen oder anderen Art führen. Falls wir, während wir das tun oder einige von uns es dazu bringen, ihr Leben mit einigen kleinen Freuden für die Augen auszuschmücken, dann ist das gut, aber es ist keine Notwendigkeit. Es ist ein »Luxus«, dessen Fehlen wir ertragen müssen.

So macht uns auch in dieser Hinsicht trotz unserer Reichtümer die künstliche Hungersnot arm durch die Ungleichheit, die in vielem anderen ebenso spürbar ist und wir sitzen hungernd inmitten unseres Goldes, als der Midas aller Zeiten.

Lasst mich ganz offen einige Tatsachen hinsichtlich des gegenwärtigen Zustands der Künste aussprechen, bevor ich versuchen werde, Euch das genau abgegrenzte sozialistische Ideal vorzustellen, worum man mich gebeten hat. Das ist notwendig, weil man sich kein Ideal für die Zukunft bilden kann, ohne es im Kontrast zu etwas Anderem zu entwickeln; es ist der Wunsch, der gegenwärtigen Misere zu entkommen, der uns zu dem treibt, was man »Ideale« nennt; tatsächlich sind es in der Mehrzahl Versuche von hoffnungsstarken Menschen, ihrem Unbehagen an der Gegenwart Gestalt zu verleihen.

Ich vermute, dass kaum geleugnet werden wird, dass gegenwärtig nur verhältnismässig wenige Personen sich an der Kunst erfreuen oder ihr überhaupt Gedanken widmen; ganz allgemein gesprochen, sind es die Reichen und die Schmarotzer, die ihnen zuarbeiten. Die Armen können sich nur das an Kunst leisten, was ihnen in karitativer Weise gegeben wird; was aber, wie alle solche Geschenke, nur von minderer Qualität ist – nicht wert, dass man es aufhebt, es sei denn von Hungernden.

Nachdem wir nun die Armen ausgeschlossen haben (das heißt fast alle, die irgendetwas herstellen, das eine Form hat, die, wie schon gesagt, entweder fördernd oder destruktiv für das Leben sein muss), da sie überhaupt keinen Anteil an der Kunst haben, lasst uns nun sehen, wie die Reichen, die bis zu einem gewissen Grad an ihr teilhaben, dabei abschneiden: sehr ärmlich meine ich, obwohl sie reich sind. Während sie sich vom allgemeinen Leben der Menschen, das sie umgibt, absondern, können sie etwas Freude aus einigen wenigen Kunstwerken ziehen, die entweder zum Strandgut vergangener Zeiten gehören oder die von der vereinzelten Arbeit, Intelligenz und Geduld einiger weniger genialer Menschen der Gegenwart hervorgebracht werden, die verzweifelt gegen die Zeitströmungen ankämpfen. Aber sie können nicht mehr tun, als sich in einem kleinen Kreis mit einer Treibhausatmosphäre von Kunst zu umgeben, in hoffnungslosem Gegensatz zum Klima der Zeit. Ein reicher Mann kann ein Haus voll mit Bildern, schönen Büchern, Möbeln und so weiter haben; aber sobald er nach draußen auf die Straße tritt, ist er schon wieder inmitten von Hässlichkeit, der gegenüber er seine Sinne abstumpfen muss, wenn er nicht unglücklich werden will, falls er sich wirklich für Kunst interessiert. Selbst auf dem Land inmitten der Schönheit der Bäume und Felder kann er den benachbarten Grundbesitzer nicht daran hindern, die Landschaft mit seiner Landwirtschaft nach dem Nützlichkeitsprinzip zu verschandeln. Nein, es ist fast sicher, dass sein eigener Grundstücksverwalter ihn drängen wird, auf seinem eigenen Grund und Boden dasselbe zu tun; er kann nicht einmal seine Pfarrkirche vor dem Zugriff des restaurierenden Geistlichen retten. Er kann gehen wohin er möchte und tun was er will, aber nur außerhalb des Bereichs der Kunst, denn dort ist er machtlos. Warum ist das so? Einfach deswegen, weil die große Menge wirklicher Kunst, diejenige, die das ganze Leben durchdringt, Ergebnis der harmonischen Zusammenarbeit von Nachbarn sein muss. Und ein reicher Mensch hat keine Nachbarn – nur Rivalen und Schmarotzer.

Als Folge davon ergibt sich, dass obwohl die gebildeten Klassen (wie wir sie nennen) theoretisch einigen Anteil an der Kunst haben oder haben könnten, er tatsächlich doch sehr gering ist. Außerhalb des eigentlichen Kreises der Künstler gibt es selbst unter den Gebildeten nur wenige, die sich um Kunst kümmern. Die Kunst wird von einer kleinen Gruppe von Künstlern am Leben erhalten, die in einem Geist arbeiten, der dem der Zeit ziemlich widerspricht; und auch sie leiden unter dem Mangel an Zusammenarbeit, der ein wesentlicher Mangel der Kunst unserer Epoche ist. Daher sind sie auf die Produktion einiger weniger individualistischer Werke beschränkt, die von so gut wie jedem als beachtenswerte Kuriositäten angesehen werden und nicht als Teile der Schönheit insgesamt, an denen wir uns erfreuen sollen. Weder haben sie irgendeine Stellung noch die Macht, der Öffentlichkeit in allgemeinen Fragen des Geschmacks (um ein etwas unschönes Wort zu gebrauchen) zu helfen. Zum Beispiel wurden meines Wissens zur Gestaltung der Parks und Plätze, die in letzter Zeit für die Allgemeinheit erworben wurden, keine Künstler konsultiert; wogegen sie von einem aus Künstlern bestehenden Komitee entworfen werden sollten; und ich wage zu behaupten, dass selbst ein schlecht gewähltes Komitee (und es kann mit Leichtigkeit gut gewählt werden) die Öffentlichkeit vor den meisten Katastrophen bewahrt hätte, die daraus folgten, dass man sie der Barmherzigkeit des Landschaftsgärtners ausgeliefert hat.

Das also ist die Stellung der Kunst in unserer Epoche. Sie ist hilflos und gelähmt inmitten eines Meeres von utilitaristischer Brutalität. Sie kann nicht einmal die notwendigsten Aufgaben erfüllen: sie kann kein anständiges Haus bauen oder ein Buch schmücken, oder einen Garten anlegen, oder die heutigen Damen davon abhalten, sich auf eine Art zu kleiden, die den Körper zur Karikatur macht und erniedrigt. Einerseits ist sie von den Traditionen der Vergangenheit abgeschnitten, andererseits vom Leben der Gegenwart. Sie ist die Kunst einer Clique und nicht die des Volkes. Das Volk ist zu arm, um irgendwie an ihr teilzuhaben.

Als Künstler weiß ich das, weil ich es sehen kann. Als Sozialist weiß ich, dass das so lange nicht zu bessern ist, wie wir in eben diesem Zustand der Ungleichheit leben, der durch die direkte und offene Ausbeutung der Produzenten der Güter erzeugt wird; durch die Ausbeutung der Arbeiter seitens derer, die in keinem, nicht einmal im weitesten Sinn des Wortes, Produzenten sind.

Daher ist der erste Punkt des sozialistischen Kunstideals, dass die Kunst dem ganzen Volk gehören sollte. Und das kann nur geschehen, wenn anerkannt wird, dass Kunst ein unabtrennbarer Bestandteil aller hergestellten Güter sein sollte, die eine bestimmte Form haben und für eine längere Lebensdauer bestimmt sind. Mit anderen Worten: statt Kunst als einen Luxus zu betrachten, der an eine gewisse privilegierte Stellung gebunden ist, fordern Sozialisten die Kunst als Grundbedingung für das menschliche Leben, die von der Gesellschaft keinem Bürger vorenthalten werden darf. Um diesen Anspruch zu verwirklichen, fordern sie auch, dass die Menschen jede Möglichkeit haben sollten, sich der Arbeit zuzuwenden, für die sie am besten geeignet sind. Nicht nur, damit der Aufwand an menschlicher Mühe so gering wie möglich ist, sondern auch, damit diese Anstrengung mit Freude ausgeübt werden kann. Denn, ich muss an dieser Stelle wiederholen: die von Freude begleitete Ausübung unserer Kräfte ist gleichzeitig die Quelle aller Kunst und Ursache allen Glücks, das heißt, sie ist das Ziel des Lebens. Womit die Gesellschaft, die nicht allen ihren Mitgliedern angemessene Gelegenheiten gibt, ihre Kräfte mit Freude anzuwenden, das Ziel des Lebens aus den Augen verloren hat, ihre Aufgabe nicht erfüllt und daher eine reine Tyrannei ist, der an jeder Stelle Widerstand entgegengesetzt werden muss.

Außerdem sollte bei der Herstellung von Gütern etwas vom Handwerkergeist lebendig sein, unabhängig davon, ob sie von Hand gemacht werden oder mit einer Maschine, die die Hand unterstützt oder ersetzt. Zum Wesen des handwerklichen Denkens gehört nun die Fähigkeit, die Güter an sich und ihren primären Zweck als Ziel der Arbeit zu betrachten. Ihr sekundärer Zweck, die Erfordernisse des Marktes, bedeuten dem Handwerker gar nichts; es macht ihm nichts aus, ob die von ihm hergestellten Güter für den Gebrauch eines Sklaven oder eines Königs bestimmt sind, denn es ist sein Geschäft, sie so gut wie möglich zu machen; falls er sich anders verhält, so macht er Waren für Schurken, um sie an Narren zu verkaufen, und auch er selbst ist wegen seiner Komplizenschaft ein Schurke. All dies bedeutet, dass der Handwerker die Güter für sich selbst macht, zu seiner eigenen Freude bei der Herstellung und bei ihrem Gebrauch. Aber um das tun zu können, braucht er Gegenseitigkeit, sonst wird er mit schlechten Gütern versorgt sein außer denen, die er selbst herstellt. Seine Nachbarn müssen mit derselben Haltung Güter herstellen, wie er es tut; und alle werden, da sie gute Arbeiter sind, sofort die Leistung der anderen anerkennen oder Fehler bemerken; denn der primäre Zweck der Güter, ihr Gebrauch, wird nie aus dem Auge verloren werden. Auf diese Art wird der Markt der Nachbarn, der gegenseitige Austausch guter Dienste entstehen und die Stelle des gegenwärtigen spekulativen Markts und seines Knechts, des modernen Fabriksystems, einnehmen. Aber für ein solches Arbeiten, für eine solche unerzwungene und selbstverständliche Gegenseitigkeit von Leistungen braucht es natürlich etwas mehr als eine bloß herdenmäßige Ansammlung von Arbeitern. Es braucht dafür das Bewusstsein einer Gesellschaft von Nachbarn, das heißt von Gleichen: Menschen, die tatsächlich erwarten, dass sie von anderen gebraucht werden, aber nur so weit, wie die Dienste, die sie geben, ihnen selbst Freude bereiten; so weit wie es sich um Dienste handelt, deren Ausführung mit ihrem eigenen Wohlergehen und Glück in Einklang ist.

Nun, wie ich einerseits weiß, dass keine wertvolle populäre Kunst aus etwas anderem als dieser Freiheit und diesem gegenseitigen Respekt entstehen kann, so bin ich mir auch sicher, dass der Kunst diese Chance gegeben werden wird und dass sie sie auch ergreifen wird – dass dann wieder alles von Menschen Gemachte schön sein wird, seine passende Form, seine passende Verzierung haben wird und dass es die Geschichte ihrer Herstellung und die Geschichte ihres Gebrauchs erzählen wird, selbst wenn es keine andere Geschichte erzählt. Und das deswegen, weil die Menschen, wenn sie wieder Freude an ihrer Arbeit haben werden und wenn diese Freude eine bestimmte Stärke erreicht, der Ausdruck dieser Freude – der Kunst ist – nicht gebändigt werden kann, welche Formen er auch immer annehmen mag. Was die Form betrifft, so lasst uns darüber nicht den Kopf zerbrechen; zumal wenn wir daran denken, dass die früheste Kunst, von der wir wissen, schliesslich immer noch Kunst für uns ist; dass Homer nicht veralteter ist als Browning; dass immer noch angenommen wird, dass das am wissenschaftlichsten eingestellte aller Völker (beinahe hätte ich gesagt, das utilitaristischste), die alten Griechen, gute Künstler hervorgebracht hat; dass die abergläubischste Epoche der Weltgeschichte, das frühe Mittelalter, die freieste Kunst hervorgebracht hat, wofür es reichlich Gründe gibt; wenn ich nur Zeit hätte, das zu vertiefen.

Tatsächlich ist es so, wenn man das Verhältnis der heutigen Welt zur Kunst bedenkt, dass es gegenwärtig eher unsere Aufgabe ist und noch lange bleiben wird, den Boden vorzubereiten, auf dem Kunst wieder eine Chance hat, als selbst zu versuchen, voll entwickelte Kunst hervorzubringen. Wir waren solange Sklaven der modernen Praxis der endlosen Produktion von Surrogaten anstelle wirklicher Güter, dass wir ernsthaft in Gefahr sind, das eigentliche Material der Kunst zu zerstören. Es könnte sein, dass die Menschen, um überhaupt irgendeine künstlerische Wahrnehmung haben zu können, blind zur Welt kommen und ihre Vorstellungen von Schönheit vom Hörensagen aus Büchern beziehen sollten. Dieser Niedergang ist sicher die erste Sache, um die wir uns kümmern sollten; und sicherlich müssen sich Sozialisten als erste darum kümmern; wenigstens sie müssen es sehen, wie sehr andere auch ihre Augen verschliessen mögen. Denn sie können nicht übersehen, dass es vergleichbar ist, eine zahlreiche Bevölkerung zu einem Leben in South Lancashire zu verurteilen, während an nett herausgeputzten Plätzen der Kunst und Bildung gefrönt wird – wie wenn man ein Fest feiert, während in Hörweite jemand gefoltert wird.

Jedenfalls, der erste Schritt in Richtung einer kräftigen Wiedergeburt der Kunst muss zusammenprallen mit dem Privileg von Privatleuten, die Schönheit der Erde für ihren persönlichen Vorteil zu zerstören und damit die Allgemeinheit zu bestehlen. Der Tag, an dem es einer Firma von Feinden der Gesellschaft verboten wird, beispielsweise die Felder von Kent in eine weitere Ansammlung von Aschehaufen zu verwandeln, um (nicht selbst verdienten) Reichtum aus einem Haufen halbbezahlter Arbeiter herauszuschlagen; der Tag, an dem einem bis dahin allmächtigen »Geldsack« mitgeteilt wird, dass er ein altes Gebäude nicht einreißen darf, um seine Mitbürger zwingen zu können, ihm noch höhere Wuchermieten für ein Stück Land zu zahlen, das ihm nicht gehört (was so sicher ist wie bei der neuerworbenen Uhr des Straßenräubers) – dieser Tag wird den Beginn einer kräftigen Wiedergeburt der Kunst in der Neuzeit bringen.

Aber dieser Tag wird auch einer der denkwürdigen Tage des Sozialismus sein, denn es ist der Sinn und Zweck des gegenwärtigen Systems, genau dieses Privileg zu verteidigen, das nichts anderes ist als das Privileg eines bewaffneten Räubers. Und die ganze prächtige Exekutive die dahinter steht, die Armee, die Polizei, die Gerichte, sie sind nur auf dieses eine Ziel gerichtet – dafür zu sorgen, dass der Reichste herrschen und unbeschränkte Freiheit haben möge, das Allgemeinwohl bis zum vollen Umfang seines Reichtums zu schädigen.

Erschienen in „New Review“, Januar 1891, als erster von drei Artikeln, die das sozialistische Ideal behandelten.
(Teil II: Politik – G. Bernhard Shaw, Teil III: Literatur – H. S. Salt)

Mit Änderungen übernommen aus: William Morris, Kunst und die Schönheit der Erde – Vier Vorträge über Ästhetik, Reihe Querdenker, Stattbuch Verlag, 1986

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