William Morris unternahm über Jahre hinweg viele Reisen, um in England, Schottland und Irland für den Sozialismus zu werben. Einmal war sein Ziel auch die Textilarbeiterstadt Huddersfield in Yorkshire, auf halber Strecke zwischen Manchester und Leeds. Darüber schrieb 1996 der Lokalhistoriker Alan Barnes diesen Artikel, den wir auf seiner Webseite http://undergroundhistories.wordpress.com gefunden haben:
Der Abend der Veranstaltung am Dienstag, den 8. November 1887 war winterlich und nass. Vielleicht wurden einige Leute durch das Wetter abgehalten. Die Victoria Hall in der Buxton Road, ein neoklassisches Gebäude mit einem von ionischen Säulen gesäumten Portal, war weniger gefüllt als erwartet, bedenkt man, dass als Redner ein gefeierter Künstler und Schriftsteller angekündigt war.
Aber William Morris, bekannt wegen seines Gedichtbands „The Earthly Paradise“ war nicht nach Huddersfield gekommen, um über Literatur zu sprechen. Noch über künstlerischen Entwurf und die Herstellung von Tapeten, Stoffen und Buntglasfenstern, für die er sehr bekannt war. Sein Besuch war nicht der des Sprechers und Gründers der Society for the Protection of Ancient Buildings, einer Sache, die ihm sehr am Herzen lag.
Die Einladung erhielt Morris von einem lokalen Wolle-Fabrikanten, dem 45 Jahre alten George Thomson der Woodhouse Mills in Deighton, einem Anhänger der Ideen des Kunstkritikers und Sozialphilosophen John Ruskin. Ein Jahr zuvor hatte Thomson seinen Familienbetrieb in ein Kooperationsunternehmen umgewandelt, das es den Arbeitern ermöglichte, an der Leitung der Firma und an den Gewinnen teilzuhaben.
Von seinem Zuhause in Hammersmith aus antwortete Morris – selbst ein Firmeninhaber – am 12. September und machte deutlich, dass er ein solches Projekt für unzureichend hielt: „Noch so viel (sogenannte) Kooperation oder Gewinnaufteilung wird sich nicht als die Lösung der Arbeiterfrage erweisen, solange sich Land und Kapital in individuellem Eigentum befinden.“ Er warnte schon vorab, dass, käme er nach Huddersfield, „ich ein kompromissloser Sozialist unter Euch sein werde, die Ihr versucht, einen Kompromiss zu bewerkstelligen.“
Wie sich zeigte war dieser Vorbehalt für Thomson annehmbar und so trafen sie also auf der Plattform der Victoria Hall zusammen. Dabei war ein weiterer prominenter Mitwirkender, der radikale Liberale und spätere Bürgermeister von Huddersfield, Owen Balmforth, benannt nach dem Anführer einer früheren Generation von Sozialisten, Robert Owen. Ein führender lokaler Liberaler übernahm das Präsidium: Ernest Woodhead, der freigeistige Sohn des Besitzers der Zeitung von Huddersfield, der zwei Jahre später mit erst 28 Jahren Herausgeber des Huddersfield Examiner wurde.
Morris selbst war auch ein Zeitschriften-Herausgeber und Journalist. Sein Journal war aber ganz anders als der Examiner! Der Commonweal war das revolutionäre Organ der Sozialist League, von Morris mit anderen zusammen gegründet, unter ihnen die Tochter von Karl Marx, Eleanor Marx.
Morris begann sein politisches Leben als radikaler Liberaler. 1876, entsetzt über die von türkischen Truppen in Bulgarien angerichteten Gräuel, wurde er Schatzmeister der Eastern Question Association, die die Kampagne des liberalen Parteiführers Gladstone gegen die pro-türkische Politik der Tory-Regierung unterstützte. Nachdem Premierminister Disraeli britische Schiffe zur Verteidigung Istanbuls gegen Russland aussandte, gaben die Liberalen vor einer nationalistischen Hysterie klein bei und Morris kehrte, enttäuscht von der Politik, zu seinen Werkstätten und Studien zurück.
1883 trat er der Democratic Federation bei, die bald in Social Democratic Federation umbenannt wurde; eine entschieden revolutionäre politische Organisation. Mit 49 Jahren hatte Morris die große Sache entdeckt – eine, die Hoffnung auf Rettung von all der Hässlichkeit, der Armut und den Leiden der modernen Gesellschaft versprach, die er seiner Liebe zu Wahrheit und Schönheit so entgegengesetzt empfand. Frustriert von der selbstherrlichen Führung der SDF durch Henry Hyndman, half Morris Ende 1884 bei der Gründung der Socialist League und wurde ihr Schatzmeister. Er warf dieselbe Energie und Begeisterung in diese Bewegung wie in seine Kunst und bereiste das Land, um auf hunderten von Veranstaltungen Vorträge zu halten. Er gab nicht nur den Commonweal heraus, sondern schrieb viele der Artikel und hier wurden einige seiner politischen Gedichte und Romane in Fortsetzungen erstveröffentlicht.
Ernest Woodhead stellte Morris vor und scherzte dabei über ihr gemeinsames Interesse an der Literatur und beschrieb ihn als „nicht nur der Dichter, der das irdische Paradies besungen hat, sondern einer, der auch wünsche, dass alle eine Ecke in diesem irdischen Paradies finden sollten.“ Obwohl mit Morris in verschiedenen Punkten nicht einer Meinung, sei er auch einer, „der wolle, dass etwas getan wird, das die Wunden der Gesellschaft heilen könne, sehr auf den Beitrag zu der Sache gespannt sei, den Morris uns vortragen wird.“
Morris sprach über eine Stunde und legte in einer einfachen, manchmal humorvollen Art die Grundprinzipien des Sozialismus dar. Obwohl Dichter und Künstler, benützte er kleine blumige Rhetorik um das Publikum einzuwickeln. Stattdessen fesselte er das Publikum durch eine zielgerichtete geerdete Sprache und die Stärke seiner Überzeugung. Es sei falsch wenn Kapitalisten von Profiten leben, die aus der Arbeit anderer gezogen werden, behauptete er. Alle produktiven Reichtümer sollten von den Arbeitenden selbst besessen und verwaltet werden, so dass der Wohlstand gleich verteilt werden könne. Darauf folgten einige nachbohrende Fragen der Zuhörer, unter denen viele respektable Leute aus der Mittelschicht waren, darunter mindestens ein Geistlicher. In seinen Antworten betonte er, dass Sozialismus die Vergesellschaftung des Bodens sowie aller anderen Produktionsmittel voraussetze.
Ernest Woodhead bedankte sich bei Morris und gab einige Kommentare dazu. Zur Erheiterung des Publikums witzelte er, dass er als unparteiischer Chairman gut geeignet sei, weil er wenngleich Sohn eines Arbeitgebers zugleich einer von den Arbeitnehmern sei. Er habe die Ferse der Tyrannen im Nacken gespürt, er kenne die Bitterkeit darin, weniger Lohn zu bekommen, als ihm zustehe. Seine Haupteinwand gegen Sozialismus sei, dass „ein Leben unter Herrn Morris‘ Bedingungen“ zuviel der Gemeinschaft gebe und zuwenig dem Individuum. Morris, geschockt von der Weise, wie die industrielle Produktion menschliche Kreativität zerstöre und die Menschen den Maschinen unterordne, erwiderte scharf, „es ist das gegenwärtige System, das alle Individualität erdrückt.“
Im Examinier setzte Woodhead die Debatte fort. Das Editorial vom 10. November zollte der Ernsthaftigkeit und Offenheit von Morris Respekt und stimmte zu, dass die existierende Verteilung des Reichtums nicht so fair sei, wie es sein sollte. Dennoch ignoriere Herr Morris die Vorteile des Kapitalismus und die Tatsache, dass Armut manchmal die Folge von Untätigkeit, Extravaganz und Trunksucht sei.
Trotz seiner Opposition gegen die Sozialisten sprach er sich dagegen aus, wenn sie Opfer von Ungerechtigkeit wurden. Genau an dem Tag, als Morris in Huddersfield war, entwickelte sich in London eine Reihe von Ereignissen, die einen tiefen Eindruck in der Arbeiterbewegung hinterlassen sollten.
Über zwei Jahre lang war der Unmut über Arbeitslosigkeit angewachsen, über die Unterdrückung in Irland und die polizeiliche Behinderung von Open-Air-Kundgebungen der Sozialisten. Am 8. November erließ der Chef der Metropolitan Police, Sir Charles Warren, eine Proklamation, die Veranstaltungen am Trafalgar Square verbot. Am Sonntag, den 13. November riegelten Tausende von Polizei und Heer, die letzteren mit aufgepflanztem Bajonett und scharfer Munition, den Trafalgar Square ab, als Tausende Radikaler, irischer Nationalisten und Sozialisten dorthin marschierten, um das Recht auf Versammlungsfreiheit einzufordern. Morris feuerte das Kontingent aus Clerkenwell mit einer Rede an – die nach dem Examiner „von entschiedenem Charakter“ war – in der er die Freilassung des inhaftierten irischen Parlamentsabgeordneten William O’Brien verlangte. Er stand im Gewühl des Kampfes mit der Polizei, die bald die unbewaffneten und unorganisierten Protestierenden zerstreute. Hunderte wurden verletzt, zwei kamen ums Leben. Der Tag ging in die Annalen der Arbeiterbewegung als „Bloody Sunday“ ein.
Das Editorial des Examinier vom Samstag, den 19. November verurteilte die Panik der Regierung, die die Tragödie herbeigeführt habe: „Der Vorwurf jener, die sagen, dass durch die Unterdrückung der Redefreiheit und Versammlungsfreiheit in Irland die Existenz derselben Freiheiten in England direkt gefährdet sei, hat sich voll bestätigt.“ Das Verbot sei ein unverantwortlicher Verstoß gegen das Recht der Engländer, für legitime Ziele Veranstaltungen unter freiem Himmel abzuhalten.
Am nächsten Tag versuchten die Londoner Arbeiter erneut, ihr Versammlungsrecht auf dem Square zu beanspruchen und wieder trieb die Polizei sie von der Straße. Ein Dabeistehender, Alfred Linnell, wurde von einem Polizeipferd niedergetrampelt und tödlich verletzt. Er erhielt Unsterblichkeit durch das Gedenken in dem „Death Song“, geschrieben von William Morris, der auch am Grab eine tief bewegende Trauerrede hielt.
Die Ereignisse am Bloody Sunday und danach überzeugten Morris, dass der Sozialismus immer auf gewaltsamen Widerstand stoßen werde und dass die Arbeiter besser vorbereitet sein müssen, wenn sie dem Staat gegenübertreten. Andere wie George Bernhard Shaw zogen andere Konsequenzen: die Arbeiter könnten niemals durch Gewaltanwendung siegen und der Sozialismus müsse graduell eingeführt werden. Morris blieb seinen revolutionären Ansichten bis zu seinem Tode 1896 treu, obwohl eine anarchistische Übernahme der Socialist League und des Commonweal, zusammen mit abnehmender Gesundheit ihn zwangen, einen weniger aktiven Anteil am politischen Leben zu nehmen.
Als Morris 1887 Huddersfield besuchte, gab es nach Zeugnis des Anführers der Gewerkschaft der Weber und des Unterstützers der Socialist League, Ben Turner, nur eine Handvoll Sozialisten in der Gegend. Fünf Jahre später aber spielte die Stadt und ihre Umgebung, besonders die Dörfer des Colne Volley, eine wichtige Rolle im Wiedererwachen des Sozialismus und bei der Gründung der Independent Labour Party. Es ist unmöglich zu sagen, ob hier der Besuch von Morris oder seine Schriften weitere Sozialisten inspirierten. An jenem Abend in der Victoria Hall waren vielleicht viele Leute genauso vor ein Rätsel gestellt, so wie es jetzt weiterhin die Experten im hundertsten Todesjahr von Morris 1996 sind: wie konnte ein Genie mit dieser romantischen, künstlerischen Sensibilität ein revolutionärer Sozialist sein?
Für Morris aber waren Kunst und Sozialismus untrennbar voneinander. Die in seinem Roman „News from Nowhere“ entworfene Zukunft war nicht die Schöne Neue Welt aus Stahl und Beton eines Stalin. „Es ist unsere Aufgabe zu versuchen, diese Erde zu einem schönen und fröhlichen Ort zu machen“, sagte er beim Begräbnis von Alfred Linnell. Hundert Jahre später, nach einem turbulenten Jahrhundert technologischer Hässlichkeit und Destruktion, die selbst er nicht erwartet hätte, sind die Hoffnungen von Morris auf eine schöne friedliche Welt von größerer Bedeutung und Inspiration denn je.
Wiedergebenswert ist zusätzlich auch der Brief, den Morris an Thomson sandte. Er ist in Band II der Gesammelten Briefe von William Morris abgedruckt und lautet so:
Morris hakt sich hier an einem Punkt fest, den er als guter Beobachter schon in den Ansätzen, die zu seiner Zeit stattfanden, erkennen konnte. Dem Profitsystem ist eben durch etwaige Gesetzmäßigkeiten kein enger Weg vorgeschrieben, der über Verelendung, Wirtschaftskonzentration, Krisen usw. unvermeidlich im Scheitern an sich selbst endet. Hier ist eine gravierende Fehlstelle in den Schriften von Karl Marx, auf die kürzlich auch Yanis Varoufakis hingewiesen hat. Es mag im Menschen liegen, dass erstmal nur wenige zu „kompromisslosen Sozialisten“ werden, die den Kern der Sache suchen und durch die Ereignisse und Kämpfe ihrer Zeit hindurch beharrlich daran arbeiten, diese Einstellung an ihre Mitmenschen weiterzugeben – Agitate, Educate, Organise. Aus diesem Brief spricht, wie Morris versuchte, alle Klassen anzusprechen und insbesondere die Arbeiter und wie er überlegte, seine Möglichkeiten so effizient wie es geht einzusetzen. Damit haben die orthodoxen Marxisten, die an der Schrift kleben, bis heute zu kämpfen; sie drehen ihre Runden und orakeln von der kommenden Krise des Kapitalismus, der sich unterdes durch durch Privilegien und Einbindung von Teilen der Arbeiter neue Lebenskräfte verschafft. Die Leninisten fanden einen fatalen „Ausweg“, indem sie mit der Kaderpartei eine neue Elite erfanden, die die unmündige Arbeiterklasse dirigieren solle. Morris setzte auf die Fähigkeit der Arbeiter und der breiten Bevölkerung, zu lernen, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln – bei den Sozialisten bleibt die Aufgabe, ihre Überzeugungsarbeit gut zu machen.
Eigene Übersetzung, 2015