Ein ungerechter Krieg

unjustwarwebAn die Arbeiter von England!

Freunde und Mitbürger,
es besteht die Gefahr eines Krieges – verliert keine Zeit, diese Gefahr zu erkennen: wenn ihr zu Bett geht und noch denkt, wir wissen nicht, was da vorgeht und glaubt, die Gefahr sei noch weit weg: wenn ihr aufwacht, kann das Unheil schon über euch hergefallen sein, denn es steht bereits vor der Tür. Gebt beizeiten acht und überlegt gut, denn es wird eine harte Sache für die meisten von uns werden, die Kriegssteuern, die Kriegspreise, die Kriegsverluste an Wohlstand, an Arbeit, an Freunden und Verwandten zu tragen: wir werden teuer bezahlen und ihr, Freunde der Arbeiterklasse, werdet den teuersten Preis bezahlen.
Und was würden wir um diesem hohen Preis erkauft haben? Ruhm, Reichtümer und Frieden für die, die nach uns kommen? Nein, gewiss nicht, denn das wären die Erfolge aus einem gerechten Krieg; aber wenn wir diesen ungerechten Krieg riskieren, wozu uns Narren und Feiglinge heute einladen, wird unser Verlust an Reichtum uns weitere Verluste an Reichtum erkaufen, unser Verlust an Arbeit wird uns Verlust von Hoffnung erkaufen, unser Verlust von Freunden und Verwandten wird uns Feinde erkaufen, Väter und dann deren Söhne.
Ich sage, es ist ein ungerechter Krieg: betrügt euch nicht selbst! Wenn wir jetzt gegen Russland in den Krieg ziehen, wird es nicht deswegen sein, um sie für Schandtaten zu bestrafen oder sie an weiteren Schandtaten zu hindern, sondern nur, um den Aufstand gegen die Diebe und Mörder der Türkei zu unterdrücken; ein blasses Vergnügen in den Herzen der nichtstuenden Dummköpfe zu wecken, die ohne Sinn nach einer „schneidigen Außenpolitik“ rufen; um unsere hochbeliebte Herrschaft in Indien vor der feigen Furcht vor einer Invasion zu beschützen, die vielleicht in hundert Jahren kommt (oder nie)*; um unsere Armee und Flotte wieder einmal den staunenden Augen Europas vorzuführen; um den Besitzern türkischer Staatsanleihen etwas Zuversicht zu geben: Arbeiter Englands, welches dieser Dinge denkt ihr ist es wert, dafür zu hungern oder zu sterben? Bilden sie alle zusammen das Konstrukt eines Englischen Interesses, von dem wir nun gehört haben?
Und wer sind jene, die uns das Banner vors Gesicht wedeln, auf dessen einer Seite steht: Englisches Interesse, auf der anderen: Russische Missetaten? Wer sind sie, die uns in den Krieg führen? Lasst uns diese Retter von Englands Ehre, diese Helden von Polen, diese Geißler des russischen Unrechts anschauen! Gierige Schieber an der Börse, arbeitslose Offiziere der Armee und Marine (arme Burschen!), abgewrackte Spötter aus den Klubs, verzweifelte Verfolger von aufregenden Nachrichten am behaglichen Frühstückstisch, die bei einem Krieg nichts zu verlieren haben und schließlich auf dem Ehrenplatz, die Tories**, die wir Dummköpfe, müde des Friedens, der Vernunft und Gerechtigkeit, bei der letzten Wahl ausgewählt haben uns zu „repräsentieren“: und über allen ihr Kapitän***, der alte Postenjäger, der den Sessel eines Earls erklommen hat und auf das ängstliche Gesicht Englands herab grinst, während sein leeres Herz und sein verschlagener Kopf den Streich plant, der vielleicht unsere Vernichtung und gewiss unsere Konfusion bedeutet: Schande und doppelte Schande, wenn wir unter einer solchen Führung in einen ungerechten Krieg marschieren gegen ein Volk, das nicht unser Feind ist, gegen Europa, gegen die Freiheit, gegen alle Natur, gegen die Erwartungen der Welt.
Arbeiter Englands, noch ein Wort als Warnung: Ich weiß nicht, ob ihr euch den bitteren Hass gegen Freiheit und Fortschritt vorstellen könnt, der einem bestimmten Teil der reichen Klassen dieses Landes im Herzen steht; ihre Zeitungen verschleiern diesen Hass durch eine gewisse vornehme Sprache. Ihr müsstet sie aber hören, wenn sie unter sich sind, wie ich sie oft reden gehört habe. Und ich weiß nicht, ob Zorn oder Verachtung in Euch die Oberhand gewinnen würden über ihre Torheit und Dummheit. Diese Männer können über Eure Situation, Eure Ziele oder Eure Wortführer nicht sprechen ohne Überheblichkeit und ohne Beleidigungen. Wenn diese Leute die Macht dazu hätten (lieber möge England vom Erdboden verschwinden) würden sie Eure Zukunftserwartungen erdrosseln, sie würden Euch mundtot machen, sie würden Euch an Händen und Füßen gefesselt für immer an das verantwortungslose Kapital ausliefern – und diese Männer, ich sage es wohl überlegt, sind das Herz und die Seele jener Partei, die uns in einen ungerechten Krieg hineinziehen will: könnten die Bewohner Russlands jemals solche Feinde von Euch oder mir sein wie diese Männer, die Feinde der Gerechtigkeit in allem? Sie können uns jetzt noch wenig tun, aber wenn der Krieg beginnt, ein ungerechter Krieg mit all seinem Durcheinander und Gezeter – wer kann ihre Macht dann einschätzen, welchen Rückschlag würden wir erleiden? Mitbürger, nehmt die Sache ernst und wenn ihr bestehendes Unrecht gegen Euch beseitigen wollt; wenn ihr Eure drängendsten Hoffnungen auf die Verbesserung Eurer Lage auf friedlichem und gründlichem Wege voranbringen wollt; wenn ihr nach Muße und Bildung verlangt; wenn ihr die Ungleichheiten verringern wollt, die seit Anbeginn der Welt unser Hemmschuh sind – dann legt das Zaudern ab, schreit hinaus gegen einen ungerechten Krieg und fordert von uns, der Mittelklasse dasselbe zu tun, damit wir zuletzt alle nachdrücklich und beharrlich dagegen protestieren, in einen ungerechten Krieg hineingetrieben zu werden, bei dem wir, wenn wir siegten, Schande, Verlust und Tadel gewännen und wenn wir unterliegen würden – ja was dann?
Arbeiter Englands, ich glaube nicht, dass gegen euren energischen Widerstand, also gegen die Opposition der Menschen, die der Krieg am meisten betrifft, irgendeine Regierung Englands so verrückt sein würde, England und Europa in die Falle eines UNGERECHTEN KRIEGES zu locken.
Ein Freund der Gerechtigkeit

Dieses Flugblatt vom 11. Mai 1877 (das weit verbreitet wurde) markiert den Eintritt von William Morris in öffentliche Auseinandersetzungen. Über mehrere Jahre drohte zumindest die Gefahr einer Neuauflage des Krimkrieges, eines Krieges Englands an der Seite der Türkei gegen Russland. Dagegen wandten sich  Gladstone und die Liberale Partei, Teile des Bürgertums und der Trade-Unions. Morris warf sich mit aller Kraft in diese Sache, appellierte an die Arbeiter und sprach Klartext über die herrschende Klasse. Die Liberalen kapitulierten schließlich vor einer Welle imperialistischer Volksverdummung („Jingoismus“), zum Krieg kam es aus anderen Gründen nicht.

Eigene Übersetzung, 2013

* gemeint ist die Ausdehnung des russischen Reiches bis Indien
** im Original: „the Tory Rump“
*** Benjamin Disraeli, Premierminister

(Die von Morris angesprochene Fahne mit den nationalen Interessen auf der einen Seite und den russischen Missetaten auf der anderen wurde 1914 von den deutschen Sozialdemokraten in die Hand genommen. Damit wurde der 1. Weltkrieg möglich.)
Zur Friedensbewegung in Britannien in diesen Jahren:
Florence Boos: „Our Country, Right or Wrong“, 2008
Ersteröffentlichung des Manuskripts einer (nichtgehaltenen) Rede von Morris und Besprechung
(erhältlich über William Morris Society, London)

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