Gert Selle: William Morris und sein Roman

Vorbemerkung: Nach der kulturellen Katastrophe der Nazizeit verging lange Zeit bis 1974, als William Morris in Deutschland wieder publiziert wurde. Mit dieser Ausgabe von News from Nowhere erschien auch die folgende Einführung von Gert Selle, mit der William Morris in seinem gesamten Wirken, als Künstler und Sozialist vorgestellt wurde. (In der staatsbürokratischen DDR wurden Bücher von Morris nicht wieder aufgelegt und man kann sich denken warum.) Der Text wurde auch in weitere Ausgaben übernommen, z.B. eine des Schwarzwurzelverlags.
News from Nowhere war in der ersten „Welle“ der Publizierung in Deutschland (ab 1892) hauptsächlich von Menschen aus der Arbeiterbewegung gelesen worden; Werkbund und Jugendstil knüpften an Morris‘ Auffassung von Kunst und Arbeit an (um sie wieder fallen zu lassen); sein buchkünstlerisches Schaffen inspirierte die Buchgestaltung und Typographie – nach 1974 dann (auch das zu Recht) wurde er wiederum mehr als „Vorläufer“ der Ökologiebewegung wahrgenommen. Was im Sinne dieser Einführung von Gert Selle wiederum nicht den ganzen William Morris erfasst …


DuMont-Selle-MorrisKunde von Nirgendwo
wurde deutschen Sozialisten erstmals 1892/93 durch ›Die Neue Zeit‹ bekannt, jene von Karl Kautsky redigierte ›Revue des geistigen und öffentlichen Lebens‹, in der die deutsche Sozialdemokratie noch auf marxistischer Grundlage diskutierte. Die utopische Erzählung findet sich im knappen Feuilleton des ersten Bandes zum 11. Jahrgang dieser Zeitschrift als Fortsetzungsroman.
Unter dem Originaltitel News from Nowhere war sie bereits 1890 für englische Arbeiter und Sozialisten in ›Commonweal‹ erschienen, einem radikalen Blatt, das William Morris selbst herausgab und für das er zwischen 1885 und 1890 eine Reihe von politischen Beiträgen verfasst hat. dass er News from Nowhere am Ende seiner Herausgebertätigkeit für ›Commonweal‹ schrieb und veröffentlichte, nachdem der Höhepunkt seiner politisch-kämpferischen Laufbahn bereits überschritten war, und dass Kautsky den Roman wenig später für ›Die Neue Zeit‹ übernahm, lässt auf besondere Gründe schließen. Wilhelm Liebknecht, von dessen Frau Natalie der größere Teil der Übersetzung stammt, hat ein Vorwort zur deutschen Fassung geschrieben, das zwar utopisches Denken relativiert, diesem Zeugnis der utopischen Literatur vor allen anderen Beispielen der zeitgenössisch verbreiteten Gattung aber besonderen Rang zuerkennt.
William Morris ist heute in Deutschland nur als Erneuerer des Kunsthandwerks und Vorläufer der Jugendstilbewegung bekannt, als eine bedeutende Figur der Kunst- bzw. Designgeschichte, und damit ohne politisches Gewicht. Von der bürgerlichen Kunstwissenschaft ist sein Wirken als überzeugter Sozialist (er selbst bezeichnete sich als Kommunist) teils als vorübergehender ›Irrtum‹ übergangen, teils verdunkelt worden. Seine kulturrevolutionäre Theorie der künstlerischen Arbeit erlitt das Schicksal, das ihr in der warenproduzierenden Gesellschaft vorgezeichnet war; sie wurde im Jugendstil und in der frühen Werkbund-Ära nur noch unvollständig oder abgefälscht rezipiert. dass seine politische Utopie 1902, also mitten in der Stilkunstepoche, in neuer Übersetzung bei einem bürgerlichen Verlag nochmals in Buchform erschien, hat daran nichts mehr zu ändern vermocht; Morris war indessen schon als Künstler etikettiert.
Die Aufnahme seiner Utopie in eine Parteizeitschrift, deren Tendenz von Autoren bestimmt war, die mit künstlerischer Erneuerung wenig im Sinn haben konnten, verwundert zunächst und passt nicht in das deutsche Morris-Bild. Bebel, Bernstein, Engels, Lafargue, Liebknecht, Mehring, Schippel, Sorge und andere bestimmen den Inhalt des Blattes; sie befassen sich mit dem konkreten Zeitgeschehen, mit Außen- und Innenpolitik, mit Fragen der politischen Ökonomie und der realen Klassenlage, mit marxistischer Theorie. So schreibt Engels in diesem Band über historischen Materialismus und trägt eine ethnographische Notiz über die Gruppenehe bei. Aveling kommentiert kritisch den Kongress der britischen Trade Unions, Bebel berichtet über einen internationalen Kongress für den Achtstundentag und begründet die Bedeutung des Maifeiertags; v. Vollmar und Kautsky diskutieren widersprüchliche Definitionen des Staatssozialismus; Lafargue schreibt über den Streik von Carmaux und liefert eine bissige Dokumentation zum Panamaskandal in der französischen Regierung und Finanzwelt; Lande veröffentlicht eine Arbeit über Mehrwert und Profit.
Auf den ersten Blick muss ein utopischer Roman in diesem Rahmen fremd wirken. Aber gerade im Realzusammenhang mit dem Inhalt mancher Beiträge der Zeitschrift und mit der Arbeiterbewegung am Ende des Jahrhunderts gewinnt diese Utopie ihre eigene Dimension von Aktualität; sie ist Komplement der Geschichte, sie weist auf das Ziel des Klassenkampfes, auf den möglichen widerspruchsfreien Zustand einer künftigen Gesellschaft hin.

News from Nowhere ist kein idealistisches Jugendwerk. Morris war schon Mitte fünfzig, als er den Roman schrieb, also in einem Alter, das eher durch Skepsis und Lebenserfahrung gekennzeichnet ist. Voraus gingen Jahre der angestrengten politischen Agitations- und Kampfpraxis und die bemühte Aneignung fundierter Kenntnisse der Ökonomielehre und Werttheorie von Marx. Das ›Kapital‹ hat Morris sich zweimal zu erarbeiten versucht (1883 und 1887) und dabei seine Schwierigkeiten offen einbekannt. E. B. Bax half bei den ersten ökonomischen Artikeln für ›Commonweal‹, wofür Morris dankbar war: » … but I am glad of the opportunity this gives me of hammering some Marx into myself.«
Dieser Hintergrund ist bedeutsam für seinen Roman, aber auch die Lehre utopischer Sozialisten und Vorläufer wie Fourier und die intuitive Erkenntnis bzw. Fähigkeit zur anschaulichen Umsetzung dessen, was aus Gedanken des jungen Marx zum Problem der entfremdeten Arbeit als Folgerung für eine veränderte Praxis zu ziehen war. Die Lösung des Entfremdungsproblems geriet Morris zum zentralen Motiv seiner Utopie, wie schon der Lösungsversuch in seiner künstlerischen Theorie und Praxis angelegt war.
Der sowohl künstlerische wie politische Erfahrungsbereich hat den besonderen Utopiecharakter von News from Nowhere erkennbar und durchgängig geprägt. Morris war sowohl Künstler wie Sozialrevolutionär; er hat beide gesellschaftlichen Funktionen letztlich als Einheit verstanden.
Weshalb hier nicht aus seinen theoretischen Schriften publiziert, sondern sein Roman bevorzugt wird (dessen Wiederentdeckung in der vorliegenden Fassung der Herausgeber einem Hinweis in Egon Steins Dissertation verdankt), hängt damit zusammen, dass die künstlerische Form und Ausdrucksweise das eigene Medium von Morris war. Vermutlich zeugt die von ihm geleistete literarische Verarbeitung und Umsetzung von Theorie in die bildhafte Plastizität der sozialutopischen News from Nowhere vom Humanismus seines marxistischen Denkens besser als jeder andere Text aus seinem Werk.
Zwar hat das in dieser Utopie entworfene nachrevolutionäre Arkadien schon Ernst Bloch verstimmt, so wie einige Charaktermerkmale des Genossen der ersten marxistischen Generation Engels veranlasst haben mochten, Morris, den er persönlich kannte, einen »Gemütssozialisten« zu nennen. Doch News from Nowhere ist kein Stück bloß sozialromantischer Literatur.
Die fiktive Gesellschaftsform, die der Roman schildert, ist nicht eine beliebige, privat konstruierte, sondern die nach der proletarischen Revolution vermutete. Obwohl der Gegenstand der Erzählung noch außerhalb der Geschichte zu liegen scheint, folgt diese Utopie einer geschichtlichen Tendenz, der Zielrichtung des Klassenkampfes auf ein endliches Resultat, das in aller Konsequenz vorweggenommen wird. Wegen dieser Konsequenz des Geschichtsbewusstseins haben gerade Marxisten News from Nowhere hervorgehoben, ohne sich wie Bloch von den ästhetischen Merkmalen der Utopie irritieren zu lassen.
Noch John Ruskin, dem Morris viel verdankt, träumte sich in eine mittelalterlich-vorindustrielle Gesellschaftsform im Grunde aristokratischer Ordnung zurück. Morris träumt nach vorn in eine nachindustrielle Zeit, in der nicht eine Produktionsweise restauriert, sondern auf der Grundlage revolutionärer Umwälzung eine neue gefunden ist, der ›mittelalterlichen‹ ähnlich, nicht aber mit ihr identisch. Er träumt nach vom in jenen Zustand der gewordenen kommunistischen Gesellschaft, in der sowohl jede Ungleichheit und Ausbeutung abgeschafft als auch die moderne Technik völlig in den Hintergrund getreten ist in der Weise, dass sie die Menschen von der Fron aller rein mechanischen Arbeit enthebt, gleichsam unauffällig sich auf ein gesellschaftlich notwendiges Maß beschränkt, so dass alle andere Arbeit in Freiheit und musse die Fähigkeiten aller Menschen in schöpferischer Selbstverwirklichung freisetzt und eine wahrhaft soziale Kultur sich zu verwirklichen vermag. Dabei entsteht in dieser Utopie – und das ist wohl nicht inkonsequent – auch ein ästhetischer Zustand von Gesellschaft. Deren Details freilich werden zeitgemäß und nach Morris‘ persönlicher Vorstellung ausgestaltet.
Was mag ihn bewogen haben, eine solche Utopie in ›Commonweal‹ zu publizieren, was Liebknecht, sie zur Lektüre für deutsche Sozialisten durchzusehen und zu empfehlen? Man darf vermuten, dass nicht Künstlerehrgeiz den einen, interesseloses Wohlgefallen an schöner Literatur den anderen angetrieben haben, sondern eher Erfordernisse praktischer Politik, der Wunsch, für den Klassenkampf beispielhaft-verständlich ein utopisches Zeichen der Zielorientierung zu setzen, den Abglanz des noch nicht Gewordenen in die Gegenwart zu projizieren, das Fernziel heranzuholen in der poetischen, d. h. sinnlich wahrnehmbaren Antizipation.
Der Vorwurf ästhetisierenden Literatentums kann Morris, dem Gründer und Mitstreiter der ›Socialist League‹, hierbei kaum treffen. Von seinen politischen Erfahrungen zeugt das 17. Kapitel des Romans, das von der Geschichte des Umschwungs handelt und die mögliche revolutionäre Wende unter Rückbezug auf tatsächliche Ereignisse in der Geschichte der englischen Arbeiterbewegung konstruiert. Der Realismus dieses Kapitels von Klassenkampf und Bürgerkrieg als Voraussetzungen zum Anfang des neuen Lebens relativiert die romantisierenden Partien des Romans. Hier ist Morris ganz dicht an seiner Zeit, steht er nochmals in unmittelbarer Erinnerung und Solidarität an der Seite seiner wirklichen Kampfgenossen. Hier entwirft er die fiktive, durchaus nicht unwahrscheinliche Geschichte einer proletarischen Revolution, beinahe eine Art Theorie der Revolution für sein Land, aus der Sicht seiner persönlichen Erfahrung.
Schließlich hat er, obwohl bürgerlicher Herkunft (die er für seine politische Rolle durchaus kritisch reflektierte) und selbst kleinkapitalistischer Kunstunternehmer, jahrelang unmittelbar im Kampf gestanden, als Demonstrant, Redner, Agitator, Straßenverkäufer der ersten sozialistischen Wochenzeitung ›Justice‹, Gründer einer Zelle der ›Democratic Federation‹ in Hammersmith. Richtungskämpfe haben ihn nicht verschont; er selbst vollzog die Abspaltung der ›Socialist League‹ von der ›Democratic Federation‹ (später ›Social Democratic Federation‹).
Doch Morris erreichte die Klasse, die er vertrat, er fand – als Redner wie als Schriftsteller – bei Arbeitern Gehör. In Newcastle, wo er 1887 anlässlich eines Streiks agitiert und wie so oft ›open air‹ gesprochen hatte, sollen sich, wie Laski berichtet, etwa fünfzig Jahre später während einer Krise noch Kopien von The Dream of John Ball und News from Nowhere in zahlreichen Arbeiterwohnungen befunden haben, deren Mobiliar größtenteils schon versetzt war. Engagement und persönliche Integrität haben Morris wohl auch Anerkennung über fraktionelle Unterschiede hinweg verschafft, in den Räumen der ›Social Democratic Federation‹ hing sein Bild neben dem von Marx sicher zu Recht. dass er als politischer Dichter bei Arbeitern beliebt war, hat wohl nicht nur mit der revolutionären Thematik seiner beiden utopischen Erzählungen, sondern vor allem auch mit der Sprachform zu tun, die er für die politischen Inhalte fand. In News from Nowhere ist alle Theorie, alle Kritik an den bestehenden Verhältnissen und ihren Ursachen umgesetzt in das überzeugende Gegenteil, in die Vorwegnahme der Erfahrung des veränderten Zustands von Gesellschaft. Dies geschieht in einfachen Bildern, ohne besondere literarische Ambition, nachvollziehbar und – gerade durch den Kontrast zu den realen Lebens-und Arbeitsverhältnissen der Leser – in der antizipatorischen Phantasie stark erlebbar.
Morris entwirft ein vollkommenes Gegenbild, zeigt aber unmissverständlich auch den Weg, der seiner Auffassung nach nur dorthin führen kann. Beide Komponenten erscheinen thematisch ausgewogen, die Vision des geschichtlichen Ziels und die Betonung von Klassenkampf und Revolution als dem einzig möglichen Weg zu diesem Ziel. Man wird daher nicht fehlgehen in der Annahme, dass eines der Motive, die News from Nowhere zu schreiben, aus erzieherischen Absichten herrührte. Der Wunsch, über die weit gesteckten Ziele des Sozialismus aufzuklären, gleichzeitig aber auch der unmittelbare Zwang, an der Organisation der Arbeiterschaft zur Durchsetzung ihrer Rechte hier und jetzt taktisch mitzuarbeiten und die Umwälzung geduldig vorzubereiten, standen bei Morris jedoch etwas im Widerstreit. Er hatte eigentlich keine Geduld, ging lieber aufs Ganze: »Finding a satisfactory balance between purism and practical agitation was to be the fundamental problem of Morris‘ whole work as a socialist.«
Morris sah anfangs die Revolution sehr nahe, und dies mag bewirkt haben, dass er mit ihrer Utopie auf vertrautem Fuße stand. Verfrühte Hoffnung hat zu seiner Zeit wohl mehr Sozialisten gekennzeichnet als nur ihn, den zunächst Liberalen, der sich am Studium von Owen und Marx radikalisierte, und zwar so gründlich, dass er nach kurzer Mitgliedschaft in der ›Democratic Federation‹ 1884 selbst die radikalere ›Socialist League‹ gründete und sogleich mit großem Elan für sie arbeitete. Er wirkte als Organisator, Vorsitzender, Schatzmeister und Redner der ›League‹, gab ›Commonweal‹ heraus, reiste als Agitator im Lande umher, gründete Gruppen in verschiedenen Distrikten und veranstaltete ›outdoor meetings‹ in großer Zahl. Vor allem 1885/86 sprach er oft (meist sonntags) zu Arbeitern.
Ein Höhepunkt der politischen Auseinandersetzungen (und wahrscheinlich ein Schlüsselerlebnis für Morris) war der ›blutige Sonntag‹ im November 1887, als die Polizei auf dem Trafalgar Square eine Demonstration brutal auseinander trieb. Es gab mehrere Tote und viele Verletzte. Morris war in der darauffolgenden Begräbnisdemonstration an herausragender Stelle, als Bahrtuchträger und Autor des ›Death Song‹ wiederum dabei. Der blutige Zusammenstoß mit der herrschenden Gewalt hat sich ihm eingeprägt und ist später ein Gegenstand des Revolutions- und Kernkapitels in News from Nowhere geworden. Anfangs voller Hoffnung, noch zu seinen Lebzeiten werde manches wahr werden, was der Sozialismus sich zum Ziel setzte, muss Morris die Gewalt und Stärke des Kapitalismus seiner Zeit bewusst geworden sein. Der Umschwung kommt zwar durch die Revolution, aber seine Utopie datiert ihn auf 1952. Ob dies ein Anzeichen der Resignation oder beginnender realistischer Einschätzung der Lage war, steht dahin. In seiner Parteiarbeit hatte Morris sich zunehmend mit anarchistischen und idealistischen Strömungen auseinanderzusetzen, er spricht einmal brieflich von »bombastic revolutionary talk« und »metaphysical subtleties«, die ihn gestört haben müssen, während er in der ›Erziehung zur Revolution‹ eine mögliche Praxisstrategie sah.
Persönlich war er finanziell durch die Parteiarbeit belastet; er konnte sich in diesen Jahren wohl kaum voll um ›Morris & Co.‹ (sein kunstgewerbliches Unternehmen) kümmern und hatte allein für die ›League‹ und ›Commonweal‹ im Jahr um die 500 Pfund aufzuwenden.
1890 lösten ihn anarchistische Genossen in der Herausgebertätigkeit für ›Commonweal‹ ab, jedoch endete damit – im Gegensatz zu Behauptungen seines ersten Biographen Mackail seine militante Phase als Sozialist nicht. Morris redete, agitierte und schrieb weiter, unter anderem für die ›Social Democratic Federation‹ und die ihm nahestehende ›Hammersmith Socialist Society‹, der er auch im Roman ein Denkmal gesetzt hat. Paul Thompson führte sein allmähliches Nachlassen nicht auf Desillusionierung und abnehmendes Interesse an der Arbeiterbewegung, sondern auf seinen seit 1891 sich verschlechternden Gesundheitszustand und diesen auf den schonungslosen Einsatz der vergangenen Jahre zurück.
Es scheint, dass Morris mit News from Nowhere 1890 nicht nur sich und andere am utopischen Bild des Fernziels wieder aufrichten wollte, sondern dass dieses Bild auch korrigieren, Überzeugungen befestigen, Denkprozesse beeinflussen sollte.
So gehen aktuelle Überlegungen zum Staatssozialismus und zur Bedeutung von Streikbewegungen in die Erzählung ein, die insgesamt Morris‘ persönliche Vorstellung eines ›anarchischen‹ Kommunismus spiegelt. An seiner Radikalität lässt er keinen Zweifel, ohne Kampf und Revolution, d. h. ohne den gewaltsamen Zugriff des Proletariats auf alle Produktionsmittel und ohne die Auflösung der herrschenden Institutionen der Bourgeoisie wird das Ziel nicht erreicht; ein ›chilenischer Weg‹ scheint für Morris unvorstellbar gewesen zu sein. Er zeigt aber auch indirekt die revolutionäre Begrenztheit eines bloß ökonomischen Machtwechsels, d. h., er setzt quasi als selbstverständlich voraus, dass diesem Machtwechsel die volle Umwälzung als Kulturrevolution erst folgt. Der Entwurf solcher (heute durchaus wieder aktueller) Perspektiven und sein beharrliches Festhalten am Fernziel weisen Morris nicht gerade als Parteitaktiker aus. Taktik war nie seine Stärke, sie entsprach als Verhaltensweise auch nicht seinem Elan, seiner Persönlichkeitsstruktur, seiner Emotionalität. Man könnte ihm vorwerfen, die Zusammenarbeit der radikalen Sozialisten mit den Trade Unions als einer Voraussetzung zur Formation einer Labour Party vernachlässigt, den direkten Weg in die Revolution überschätzt zu haben. Seine Abneigung gegen Anpassung und Umwege galt auch der ›Fabian Society‹ mit ihrer abwartenden Taktik der Unterwanderung, ihrer ›Revolution ohne Revolution‹. Mit legaler, parlamentarisch-reformerischer Politik hatte Morris wenig im Sinn:
»The true weapon of the workers as against Parliament is not the ballot-box but the Boycott. Ignore Parliament; leave it alone, and strengthen your own organizations to deal directly with your masters«, schreibt er 1890 als ein früher Vertreter der außerparlamentarischen Opposition.
Dies alles – hier allzu knapp skizziert und vorzugsweise an neuerer englischer Sekundärliteratur zu differenzieren – muss als Hintergrund der News from Nowhere gesehen werden, die ein Zeitdokument sozialistischer Literatur ebenso wie ein persönliches Dokument des politischen Denkens von Morris darstellt.
Er hat seine politische Erfahrung und seine Überzeugungen, Praxis und Theorie in den Roman eingebracht, aber dazu auch die Erfahrung des Künstlers. Die zunächst befremdlichen präraffaelitischen, ästhetischen Momente seiner Utopie bilden tatsächlich mit den politischen und revolutionären eine unauflösliche Einheit. Ernst Bloch hat Morris einmal pauschal abqualifiziert unter Hinweis auf das Geschmäcklerische an der »gleichzeitig naiven und sentimentalischen Intellektuellen-Mischung von Neugotik und Revolution, an einen so kleinen Kreis gewandt«. Diese Wertung wirkt historisch nicht gerecht (es verwundert gerade am Verdikt Blochs, wie geschichtliche Entwicklung hier ›überflogen‹ wird); sie scheint auf unvollständigen Voraussetzungen, ungenauer Kenntnis der historischen Rolle von Morris in der englischen Arbeiterbewegung zu beruhen.
Morris‘ Utopie muss zweifellos, ebenso wie jene frühe von Morus, die Kautsky einer eingehenden historischen Analyse für wert befand, als ein geschichtliches Produkt, gleichzeitig aber auch unter einem kulturrevolutionären Aspekt neu bewertet werden, abgesehen davon, dass der ›Kreis‹, an den diese Utopie sich wandte, so klein nicht gewesen sein kann.
Ohne Zweifel ist Morris von Carlyle und Ruskin früh beeinflusst worden, und dieser Einfluß hat seine politische Theorie der künstlerischen Arbeit in einer bestimmten Weise vorgeformt. Sie hat sich aber mit der Kenntnis von Marx und vor dem Fond eigener politischer Praxis vertieft und ausgestaltet, so dass Morris den begrenzten Kreis des künstlerisch-sozialen Denkens seiner präraffaelitischen Freunde später mit Sicherheit überschritten hat, obwohl z. B. Madox Brown und Rossetti (der schon mit Ruskin an einer Arbeiterfortbildungsschule unterrichtete) keineswegs dem Sozialismus so fern standen, wie man angesichts ihres künstlerischen Werks vermuten möchte. Morris‘ persönliche Leistung bestand unter anderem in dem Versuch, als Künstler nicht nur mit dem Proletariat zu sympathisieren, sondern sich mit dessen (freilich vom eigenen Klassenstandpunkt vorausgesetzten) Bedürfnissen zu identifizieren. Dem kam entgegen, dass er schon habituell, im Gegensatz zu seiner Jugendzeit als Maler, kein bürgerlicher Intellektueller oder Künstler mehr war, eher der ›fine arts workman‹, der Handarbeiter, der, einfach gekleidet, oft Spuren der Arbeit sichtbar an sich trug und sich äußerlich wenig von den Werktätigen unterschied.
Die ästhetische Auflehnung gegen die victorianische Gesellschaft, in der er sich mit seinen Künstlerzeitgenossen und Weggefährten identifizierte, war schon als eine Vorform des sich bildenden revolutionären bewusstseins zu interpretieren. Obwohl dieses revolutionäre bewusstsein sich bei Morris viel weiter und konsequenter ausfaltete als bei seinen Künstlerfreunden, bleiben seine künstlerischen Wertvorstellungen freilich erhalten, sie bleiben notwendig bürgerlich, weil es noch keine proletarische Kunst geben kann. Seine Utopie ist an ihrer ästhetischen Oberfläche daher notwendig ›präraffaelitisch‹, nicht proletarisch.
Doch daran Kritik festzumachen, ist nicht gerechtfertigt. Es würde dabei der historische Standort vergessen, der eine andere äußere Gestalt der Utopie nicht entstehen lassen konnte, damit aber auch die Tatsache, dass Morris sich nur der bestimmten ästhetischen Form als zeitgemäßem und verständlichem Medium seiner utopischen Botschaft bedienen konnte, jedoch die zeitbedingte ›Schönheit‹ des neuen Lebens ihm eher Gleichnis als für alle Zeiten festgeschriebene Form war. Darauf hat Liebknecht andeutend schon in seinem Vorwort von 1892 hingewiesen: »Heute würde er (Morris) uns einen anderen Zukunftsstaat schreiben – und morgen wieder einen anderen.«
Auch der Spötter Bernard Shaw, der beinahe sein Schwiegersohn geworden wäre, ironisiert nicht den ›ästhetisierenden‹ Politiker Morris, er bezeugt vielmehr seine Radikalität, und distanzierende Anmerkungen gelten der schweigsam-kühlen Schönheit von Mrs. Morris, die so wenig Verständnis für politisches Engagement aufgebracht haben soll, dass später viele Sozialistenfreunde dem Begräbnis ihres Mannes fernblieben, um die Witwe nicht durch Anwesenheit zu kränken.
Tatsache ist, dass die bildhafte neue Welt in News from Nowhere vom präraffaelitischen Schönheitsideal, gemildert durch die Morris eigene natürliche Sinnlichkeit, von allen Anzeichen der künstlerischen Handarbeit im Stil der Antivictorianer, von neugotischer Architektur und einem eigentümlichen, mittelalterlich-idyllischen Flair bestimmt wird. Doch müssen dies nicht Indizien eines restaurativen Sozialromantizismus in der Tradition Ruskins sein. News from Nowhere ist deutlich ein Produkt zeitgebundenen Kulturverständnisses, was die Ästhetik betrifft, aber die Utopie weist tendenziell über die Zeit und Kultur hinaus, innerhalb deren sie entsteht, als Vorgriff auf eine veränderte gesellschaftliche und damit auch veränderte kulturelle Praxis.
Eigentlich stellt dieser Roman eine Utopie der befreiten menschlichen Arbeit dar, weniger eine Staatsutopie wie teilweise noch jene von Morus; der Staat ist bei Morris abgestorben, der Kommunismus voll entfaltet.
Morris begreift menschliche Umwelt als eine auch ästhetisch vollkommene Lebenseinheit, die aus der Kultur der Arbeit erwächst, die Produktion und Genuss der gegenständlichen Welt ebenso umfasst wie die Verhaltensformen und Interaktionsweisen im Zustand von Gleichheit und Freiheit. Warenfetisch und Geld sind dieser Gesellschaft unbekannt; in der Schaffung und im reinen Genuss von Gebrauchswerten reproduziert sich frei ihre Bedürfnisstruktur. In Bezug auf die menschliche Arbeit ist für Morris das ›Mittelalter‹, dem seine ästhetische Sehnsucht zu gelten scheint, wiederum mehr Gleichnis oder Beispiel als rückrufbare Realität für Arbeitsverhältnisse, die er im Industriekapitalismus schmerzlich vermissen muss. Paul Thompson stellt mit einem eingeschlossenen Zitat den kulturrevolutionären Kerngedanken heraus, der in Morris‘ Hinweis auf historisch überholte Produktionsformen die Aufhebung der entfremdeten Arbeit als Forderung enthält:
»Medieaval craftsmen were ›all more or less artists‹ because ›they themselves were masters of their time, tools and materials … There was little division of labour; ›the unit of labour was an intelligent man‹.«
Morris genoss das Privileg (und war sich dieses Vorzugs seiner Klassenlage durchaus bewusst), sich zeitlebens in seiner Arbeit persönlich verwirklichen zu können, als der vielseitigste Künstler-Handwerker seiner Zeit, als Dichter, als Kunsttheoretiker und Kunstschriftsteller. Er war bis ins Alter ein unermüdlicher Autodidakt, rastlos planend und realisierend, immer kreativ, so dass ihm sein eigenes Leben trotz der Begrenzung seiner Kunst durch den ihr notwendig noch anhaftenden Warencharakter den Sinn einer freien, den Menschen gleichzeitig individuell verwirklichenden und vergesellschaftenden Arbeit dereinst im Sozialismus deutlich gemacht haben dürfte. News from Nowhere ist sein Traum einer Arbeitskultur jenseits jeder Entfremdung, jenseits jeder Verdinglichung am Warenfetisch.
Dabei entsteht in seiner Utopie ein seltsam modernisiertes ›Mittelalter‹ ohne Not, Repression, soziale Unterschiede, aber eben nicht bloß die kunstgewerbliche Utopie, »homespun-city«, wie Bloch vermutet. Freilich gibt es keine Eisenbahnen mehr, die ›hässlichen‹ eisernen Brücken sind durch hölzerne oder steinerne ersetzt. Auf der Themse, in der man wieder Lachse fischen kann, bewegt man sich im Ruderboot. Die Fabrikstädte sind verschwunden (natürlich auch London), das locker besiedelte Land erscheint als eine Art großzügig angelegte, mit viel Natur durchsetzte Gartenstadt; der Gegensatz von Stadt und Land ist aufgehoben. Die Menschen leben frei ihrer nach Neigung, Fähigkeit und Bedürfnis gewählten Arbeit – ohne Trennung von Kopf- und Handarbeit; die Arbeitsteilung ist weitgehend aufgehoben. Arbeit ist grundsätzlich mit Lebensfreude verbunden und zeigt, wo immer sie in Gemeinschaft getan wird, festlichen Charakter. ›Freizeit‹ kennen Morris‘ Utopier ebenso wenig wie Geld (von dem sie nur durch Münzsammlungen in ihren Museen wissen), der Wechsel von einer Arbeit zur anderen sorgt für physischen und psychohygienischen Ausgleich; im Juli ziehen die Gelehrten freudig zur Heuernte aus. Das Arbeitsglück, das wie ein roter Faden den ganzen Roman durchzieht, wird ergänzt durch ein neues inniges Verhältnis der Menschen zueinander und zur Natur, die nicht mehr toter Gegenstand der Ausbeutung ist.
Wenn man so will, trifft man in dieser Utopie auf einige Momente der chinesischen Kulturrevolution ebenso wie auf einen Gegenentwurf zur politischen Ökologie des Kapitalismus, der die Erde unbewohnbar zu machen sich um 1890 schon angeschickt hatte.
Zunächst aber gemahnt die ästhetische Form der Arbeit an Fourier, dessen Gemeinwesen, die Phalansterien, ein Paradies abbilden, in dem gern gearbeitet wird. Zwar ist bei Fourier die Ausbeutung abgeschafft, jedoch noch nicht Geld und Privateigentum, und sein Gedanke der harmonischen Arbeit umfasst sowohl das beste Wohlbefinden der Arbeitenden wie die höchstmögliche Arbeitsproduktivität. In News from Nowhere ist von Arbeitsfreude viel, von Arbeitsproduktivität aber wenig zu spüren. Sie ist – und das verweist wiederum auf einen neuen Standort utopischen Denkens – wie die Produktivkraft Technik hinter den Horizont der Erzählung verlagert. Paul Thompson bemerkt mit Recht, dass ›Elektrizität‹ hinter der Szene verborgen sei. So ist in der vorliegenden Übersetzung vom »großen Wechsel in der Benutzung mechanischer Kraft« die Rede, doch bleibt die Andeutung leider unverständlich, da eine deutlichere Anspielung einer Raffung des Textes in der Übersetzung zum Opfer gefallen ist.
Morris hat in der Tat die Bedeutung der Technik als Produktivkraft und als eine Vorbedingung befreiter Arbeit im Sozialismus nicht geleugnet, sie war ihm durchaus Voraussetzung für die humane, schöpferische Arbeit, die er als das Hauptziel einer kulturrevolutionären Veränderung ansah. In News from Nowhere sind notwendige Gebrauchsgüter in reichem Maße, gleichmäßig verteilt, vorhanden, und der Überschuss an Produktivität gilt der Qualität der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion – daher die ästhetische Komponente.
Der postume Vorwurf liegt in der Luft, weshalb denn Morris nicht versucht hat, den Kunstarbeitern seines eigenen Unternehmens wenigstens einen Vorgeschmack jener Arbeitsfreude zu verschaffen, die er für die sozialistische Zukunft voraussah, zumal es in England ja durchaus eine Tradition der ›praktischen‹ Utopie seit Owen gab. Tatsächlich ging Morris in seiner Unternehmerpraxis nicht über ein liberales Maß an Zugeständnissen für Arbeitnehmer hinaus.
Er hat das einerseits damit begründet, dass, ließe er sie quasi utopisch ihre Arbeit selbst organisieren, sie dadurch unfähig gemacht würden, jemals außerhalb seines Betriebes ihre Arbeitskraft zu verkaufen und ihr Leben zu fristen. Andererseits war er eben Unternehmer, der einigen Mitarbeitern zwar einen Bonus zugestehen konnte, jedoch selbst Gewinn abschöpfen musste. Er hatte Familie und brauchte Geld nicht zuletzt für seine Parteiarbeit und Herausgebertätigkeit; er war endlich der Meinung, dass es nur ungerechtfertigt auf Kosten seiner Unterstützung der gesamten sozialistischen Sache gehen würde, wenn etwa durch seine Hilfe »ein paar Individuen mehr« aus dem Proletariat »in den Mittelstand kriechen« wollten.
Morris konnte sehr realistisch denken und handeln; er kannte die Funktionsgesetze des Kapitalismus nicht nur aus der eigenen kleinen Kunstunternehmerpraxis, sondern auch als einer der Direktoren der Devon Copper Company (1871-1876), mit deren Aktien sein Vater ein Vermögen gemacht hatte. Er ging nicht so weit wie Ruskin, unter Vermögensopfern Produktionskommunen ins Leben zu rufen, auch nicht so weit wie Ashbee noch 1902 mit der Produktionsgenossenschaft der Guild of Handicraft, einem nach dem Umzug von London aufs Land auf handwerklicher und landwirtschaftlicher Arbeit basierenden Mitbestimmungs- und Anteilsmodell. Mögen auch Nachklänge des Owenismus, ein Hauch von New Harmony in News from Nowhere zu spüren sein, so hat Morris von ›praktischer‹ Utopie als einer modellhaften Vorwegnahme veränderter Lebens- und Arbeitsbedingungen innerhalb des umgebenden, unveränderten kapitalistischen Produktionssystems offenbar nichts gehalten.
Auch seiner eigenen kunstgewerblichen Entwurfsarbeit stand er gelegentlich distanziert gegenüber; denn er wußte sehr wohl, dass nichtentfremdete Arbeit in der Profitgesellschaft (»profitgrinding society«) eine Fiktion und Arbeitsfreude im künstlerischen Schaffensprozess nur subjektiv, eingeschränkt und privilegiert erlebbar war, dass das Arbeitsprodukt des Entwerfers seinen sozialen Zielen (etwa einer Kunst für alle) nicht entsprechen konnte. »Ministering to the swinish luxury of the rich«, war einmal, befragt, woran er gerade arbeite, seine unmissverständliche Antwort.

News from Nowhere kann weder ohne die zeitgeschichtlich politischen Bezüge noch ohne den Hintergrund der Biographie ausreichend verstanden werden. Morris hat diese Utopie zu einer Zeit geschrieben, in der ein Lebenswerk, politische Kämpfe, Hoffnungen und Erfahrungen bereits hinter ihm lagen. Er schildert sich selbst im Roman als alternden Mann; die Erzählung wirkt wie ein Atemschöpfen, ein wenig Sehnsucht nach Jugend und Leben ist ihr beigemischt. Das Motiv der Langlebigkeit in der neuen Gesellschaft ist offenbar von Fourier übernommen, vielleicht für Morris ein willkommenes, situations- und altersspezifisches Motiv. Er möchte wohl, wennschon die Utopie für ihn nicht mehr erlebbar erscheint, sie wenigstens perfekt vorweggeträumt haben.
Was auch alles im Kapitalismus zerstört worden ist an Umwelt und menschlichen Beziehungen, es ist neu und schöner wieder aufgebaut. Weder Raubbau am Menschen noch Raubbau an der Natur finden mehr statt, jegliche entfremdete Arbeit ist aufgehoben, die Produktivkraft Technik wird nicht mehr missbraucht.
Mit der Abschaffung des Kapitalismus und der Einführung sozialistischer Arbeitskultur wird gleichsam auch die Negativität des technischen Zeitalters überwunden, d. h. dass in der Utopie der im Kapitalverwertungsprozess zur Destruktivkraft entstellte technische Fortschritt auf seinen menschlichen Zweck zurückgeholt ist. Für Morris hat die Maschine nur den einen Zweck:
»Machines of the most ingenious and best approved kinds will be used when necessary, but will be used simply to save human labour.« ›Menschliche Arbeit‹ aber ist ihm identisch mit künstlerischer, mit einer Arbeit, deren Prozess und Produkt nicht unter Verwertungsinteresse stehen, sondern unter dem menschlichen Interesse individueller und gesellschaftlicher Entfaltung und des Lebensgenusses.
Dass Morris in seiner News from Nowhere weder seinen politischen noch seinen künstlerischen Standpunkt aufgibt, lässt einen utopischen Umweltentwurf von besonderer Totalität, Sinnlichkeit und Sensibilität entstehen, einen vor allem ästhetisch erfahrbaren. Es wäre aber allzu billig, Morris als einem ›Ästheten‹ von einer neoradikalen Position aus mit Achselzucken zu begegnen. Er hat als Künstler wie als Sozialist an seinem historischen Ort gekämpft, und bei seinem Temperament muss es bisweilen ein zähneknirschender Kampf gewesen sein, den er gegen den langsamen Gang der Geschichte focht.
Schon in der Tradition Ruskins war ihm Erziehung zur Kunst und durch Kunst gleichbedeutend mit der Wiederherstellung menschlicher Arbeit in einer neuen Gesellschaft. Doch deren als Erwartung in der Geschichte angelegtes Bild wuchs ihm aus dem erkenntnisleitenden Interesse der marxistischen Lehre zu. Das erklärt die Mischung von Konservatismus und Progressivität in seinem Werk, das einerseits bewahrend in die Geschichte zurück, andererseits revolutionär verändernd in die Geschichte nach vorn zu greifen versuchte. Die Verbindung von Ruskin und Marx (sehr vereinfacht ausgedrückt) oder von Kunst und Arbeit in seiner Theorie der künstlerischen Arbeitskultur ist nicht ohne revolutionäre Brisanz. Es war schließlich nicht die ›Häßlichkeit‹ des Kapitalismus, die er – wie Bloch unterstellt – bekämpfte.
In seiner im Gegensatz zu der mittelalterlich-restaurativen Tendenz Ruskinscher Gedanken deutlich marxistisch orientierten Idee der schöpferischen Handarbeit steckt die Utopie nach vorn, die Aufhebung von Ausbeutung und Entfremdung durch die proletarische Revolution, durch die materielle und kulturelle Emanzipation des Proletariats in der selbstbestimmten Arbeit, durch die Verwirklichung des lebendigen Menschen in der Arbeitstätigkeit. Die proletarische Revolution verstand Morris eindeutig als Kulturrevolution, nicht bloß als Wechsel der Besitzverhältnisse an den Produktionsmitteln. Was ihn von den bürgerlichen Erben seiner kunsthandwerklichen Erneuerungsidee krass unterscheidet, ist eben dieser Standpunkt der Arbeitskultur, der sich auf die lebendige Arbeit bezieht, während das bürgerliche Denken sich notwendig auf das verwertbare Arbeitsprodukt, auf tote Arbeit, auf Produktkultur beschränken muss, die schließlich nichts anderes als eine besondere Ausdrucksform des Warenfetischismus darstellen kann. Morris‘ Utopie der Arbeitskultur behält auch gegenüber den noch warenproduzierenden sozialistischen Übergangsgesellschaften ihren revolutionären Stachel, sie hat an Aktualität nichts eingebüßt.
Edward P. Thompson nennt Morris wohl ohne Übertreibung »the greatest moral initiator of Communism within our tradition«. Offenbar konnten sich schon Liebknecht und Kautsky diesem Eindruck nicht entziehen, den der erste bedeutende politische Künstler nach dem Kommunarden Courbet hinterließ. Gewiss war Morris keine Leuchte des wissenschaftlichen Marxismus, aber ihn zeichnete eine ausgeprägte Sensibilität für alles aus, was dereinst im Sozialismus ›anders‹ sein könnte, und er verfügte über eine bildhafte Sprache, die zu überzeugen vermochte, die jedermann verstand. Dem Stil seiner utopischen Botschaft entspricht das einfache sozialistische Bekenntnis:
»Was ich unter Sozialismus verstehe, ist ein Gesellschaftszustand, in dem es weder Reiche noch Arme, weder Herren noch Knechte, weder Faule noch überarbeitete, weder geisteskranke Hirnarbeiter noch gemütskranke Handarbeiter geben darf. Mit einem Wort, wo alle Menschen in gleicher Lage leben und ihre Angelegenheiten pfleglich führen würden, mit dem vollen bewusstsein, dass der Schade eines der Schade aller wäre – kurz, die Verwirklichung der Bedeutung des Wortes Gemeinwesen.«
Ein solches Gemeinwesen freiester Art wird in News from Nowhere als durchaus individualistisch und gesellschaftlich offen organisiert beschrieben, und zugleich werden alle wesentlichen Formen, Gewohnheiten, Verhaltensweisen, die Kultur der gewordenen kommunistischen Gesellschaft entworfen und anschaulich gemacht. Dabei zeichnet sich dieser Roman vor einer anderen, tatsächlich im Mittelalter spielenden utopischen Erzählung (The Dream of John Ball), die in ›Commonweal‹ vorausging, durch ständig vergegenwärtigte Gegenwart aus. Paul Thompson vermutet darin einen Kunstgriff, mit dem Morris erreichen wollte, unmittelbar zeitverbunden zu bleiben, z. B. um ein unmissverständliches Zeichen des freien Sozialismus gegen den Staatssozialismus zu setzen oder um der Meinung entgegenzutreten, dass der Sozialismus die menschliche Individualität abtöten würde. So ist die News from Nowhere nicht nur ein historisches Beispiel sozialistischer Erbauungsliteratur in poetischer Form (in welche Ecke der Literaturgeschichte bürgerliche Leser wie Marxisten diesen Roman vielleicht zu stellen geneigt sein werden), sondern auch Spiegelung aktueller theoretischer Auseinandersetzungen und Irritationen.
Dass viele Motive der Erzählung marxistische Theorie umhüllen und plastisch greifbar machen in einer Weise, die heute immer noch diskutabel ist, wird der Leser ohne Zweifel sofort bemerken. Die revolutionäre Aktualität dominiert gewiss die antiquierten ästhetischen Züge der Utopie. dass sie einst um ihrer Direktheit und Plastizität, ja auch um ihrer gelegentlich würdevollen Umständlichkeit, schließlich aber um der Unfähigkeit des Autors willen, sich selbst und sein Beteiligtsein hinter einer anfangs angedeuteten Rahmenkonstruktion zu verstecken, von Arbeitern gern gelesen wurde, kann nur vermutet werden.
Obwohl der Roman auch in Buchform früh Verbreitung fand, handelt es sich nicht eigentlich um ein Kunstwerk im Sinne der bürgerlichen Literatur. Als bürgerlicher Künstler hat Morris eine Fülle anderer Stoffe literarisch bearbeitet, in seiner News from Nowhere spricht er als Politiker, der sein Künstlertum nicht verleugnen kann. Die Erzählung ist von manchmal berückender, keineswegs bloß frühjugendstilhaft steifer Schönheit. Sie ist geprägt vom Reichtum der sozialistischen Lehre und von einer eher naiven als sentimentalischen Sinnlichkeit der Anschauung, ein wenig überschattet vom Schmerz des bewusstseins vom noch nicht Gewordenen, aber mit einer Art von Nostalgie nach vorn, der man sich schwerlich entziehen kann. Man vergibt sich nichts in der Feststellung, dass ohne die gelegentliche Gegenwärtigkeit solcher Phantasie revolutionäres Pathos glanzlos würde, ja – dass dieses historische Gegenbild zur unveränderten Realität heute noch trägt.
Es gibt in diesem Roman partielle Parallelen zu einem bedeutenden Stück in der spätbürgerlichen Literatur, eine Verwandtschaft von Bildern, Motiven, Metaphern, die sich gegenseitig enthüllen – zu Tanz und Flussfahrt in Gottfried Kellers ›Romeo und Julia auf dem Dorfe‹, jener melancholischen, äußerst kunstvoll novellistisch-ironisch abgefangenen Elegie auf die Ausgesetztheit des Einzelnen in der bürgerlichen Stumpfheit und Kälte. Konsequent muss diese Novelle ohne Hoffnung enden, außerhalb der Gesellschaft, die geflohen werden muss, tragisch in Innerlichkeit und Tod als der letzten Möglichkeit zur Selbstverwirklichung. Dahinter steckt eine ironische, umgekehrte, noch verkapselte Utopie einer versöhnenden Aufhebung der Widersprüche in der Form von Kunst.
Morris flieht in die Gesellschaft, in Leben, Freiheit und Kultur und entwirft ein fernes und schönes Gegenbild zur gesellschaftlichen Realität; er übersteigt ihre Grenzen, das ist sein Traum, aber dieser Traum macht wach. Morris hat eine romantisierende, sehr persönliche, gleichwohl aber immer noch die modernste und wohl auch eine in ihrer Humanität kaum zu übertreffende Utopie des erreichten Ziels der proletarischen Revolution geschrieben. Sie sei nachfolgend in Erinnerung gebracht.
Der Herausgeber hält die deutsche Fassung von 1892 einer getreuen Dokumentation für wert, trotz einiger Raffungen gegenüber dem englischen Original und einer weiteren deutschen Übersetzung, die zehn Jahre später in Buchform erschien. Um dieses Beispiel der Literatur für Arbeiter nicht zu verfälschen, wurde außer der veralteten Rechtschreibung nichts verändert; auch die heute teilweise überflüssig erscheinenden Fußnoten der Übersetzerinnen (oder Liebknechts) wurden beibehalten.

Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Verfassers, 2015

Der Text enthält auch viele weiterführende Anmerkungen, die sie hier nachlesen können.

Gert Selle (* 1933 in Saarbrücken) ist ein deutscher Kunstpädagoge und Gestaltungstheoretiker. Er prägte den Begriff der ästhetischen Bildung und schrieb Standardwerke zur Designgeschichte. 1960–1967 war er Kunsterzieher in Frankfurt am Main. Anschließend bis 1972 Dozent an der Werkkunstschule, spätere Fachhochschule in Darmstadt tätig. 1973 erfolgte die Berufung auf den Lehrstuhl Bildende Kunst – Visuelle Kommunikation an der PH Niedersachsen am Standort Braunschweig, später TU Braunschweig. Selle wechselte 1981 auf die Professur für Theorie, Didaktik und Praxis ästhetischer Erziehung an die Universität Oldenburg. 1999 wurde er emeritiert. (Wikipedia)

Selle_Jugendstil

„Die Bedeutung von Morris’ gesellschaftspolitischem Engagement liegt vielmehr in seiner Tätigkeit als Entwerfer und Revolutionär der angewandten Künste: Die Gebrauchsgegenstände des alltäglichen Lebens sollen ästhetisch durchgestaltet sein und in ihrer Schönheit die Lebensqualität heben. Gerade das Kunsthandwerk avanciert so zur Leitgattung der Künste um 1900.“ Aus dem Katalog zur Ausstellung Die große Utopie im Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg, 2015/2016

„Die kunstgewerbliche Bewegung um 1900 gerät zu einer komplexen Fallstudie des bürgerlichen Problembewußtseins gegenüber den Folgen der eigenen Produktionsweise, die so nicht beseitigt, wohl aber mit Ästhetik, Ideologie und Waren übertüncht werden können.“ Gert Selle in „Jugendstil und Kunstindustrie“

Was nun? Steht das schöne Produkt im Vordergrund oder täuscht es uns über das Nichterreichen der wesentlichen Sache hinweg? War mit dem schönen Produkt, wie es Arts and Crafts, Modernisme oder Jugendstil schufen, schon das Ziel der Morris’schen Bestrebungen erreicht? Die Kunstreformer wurden von der Maschinen- und Ausbeutungsgesellschaft überrollt, nicht nur einmal sondern vielmal und immer vernichtender – bis heute. Wenn die soziale Frage nicht gelöst, wenn die Arbeit nicht befreit wird, kann die Kunst nicht siegen, das sah Morris voraus und predigte es. Der Kern der Sache ist die Achtung vor der Natur, das einfache Leben, die Verwandlung der Arbeit in freudebringende Betätigung und die Gleichheit unter den Menschen. Wenn Morris gern und oft als liebenswerter Anwalt der Schönheit für alle dargestellt wird, der gescheitert sei, weil er sie nicht billig machen konnte, dann fällt dieses Klischee (Nikolaus Pevsner) nicht auf Morris sondern auf die, die wohlgefällig Jugendstilvasen betrachten, sich aber mit dem Dreck, der Verschwendung, der Umweltzerstörung und der weiterbestehenden Klassenspaltung der Gesellschaft abfinden.
Gert Selle hat 1974 parallel auch ein Buch geschrieben über das Aufgehen des Jugendstils in der Kunstindustrie, von dem Sie das zusammenfassende Schlusskapitel Das Beispiel Jugendstil hier lesen können.

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