Da nun Lärm und Gerassel der Demonstration des 4. Mai vorüber sind, lohnt es sich zu überlegen, was die große Versammlung gefordert hat und wie wahrscheinlich es ist, das zu erreichen.
Aber als erstes müssen wir festhalten, dass die Demonstration des 4. Mai nicht zum Ziel hatte, irgendwelche Sympathie mit der Arbeiterbewegung der ganzen Welt zum Ausdruck zu bringen. Tatsächlich war es eine englische Gewerkschaftsveranstaltung und verschieden von den Veranstaltungen, die auf dem Kontinent und in London am 1. Mai abgehalten wurden, obwohl es nur die Agitation auf dem Kontinent war, die sie ermöglichte. Die englischen Arbeiter, wenn wir dem Star glauben (der jetzt eine ausgesprochen reaktionäres Blatt ist), hatten sich zu einer mächtigen Demonstration versammelt, die, obwohl nur ein Anhängsel der revolutionären Versammlungen anderer Länder, jede Solidarität mit denen ablehnt, die die Bewegung gestartet haben und die es der englischen Presse erlaubt, sie ohne Zurückweisung mit Jingo-Mist zu beschmutzen.
Das Acht-Stunden-Gesetz ist also das, was am 4. Mai gefordert wurde. Ich bestreite nicht, dass viele Teilnehmer viel weiter gehen wollen aber ein großer Teil von ihnen geht nicht so weit und dieser hat nur sehr nebelhafte Ideen darüber, was er will.
Darüberhinaus lag im Geist dieser Demonstration eine Art Botschaft an das Parlament. Praktisch sagte es: „Wir wollen den Achtstundentag; Du, das Parlament musst ihn für uns durchsetzen und festlegen, wie es sein soll.“
Dass das der Geist war, wird deutlich genug aus der Tatsache, dass keinerlei Hinweis auf eine Aktion gegeben wurde, die der Demonstration folgen sollte. Bei einem solch klar definierten und scheinbar kleinem Ziel vor Augen, hätte man zum Beispiel erwarten können, dass die Führer der Bewegung einen Kongress einberufen – zumindest der Londoner Arbeiterschaft – um einen Aktionskurs festzulegen, um das Parlament vorwärts zu drängen zu einigen wirkungsvollen Schritten zur Erfüllung der Anliegen der Arbeiter: aber wie oben schon gesagt, nichts geschah in diesem Sinne und damit wird toleriert, dass sich die Sache abkühlt. Und damit bekommt die kapitalistische Presse ihre Spielzeit und zeigt mit einer Mischung aus Wahrheit und Falschheit, die unter diesen Umständen leicht ist, dass die Begrenzung der Arbeitsstunden unmöglich ist und wenn sie möglich wäre, den Arbeitern keine Vorteile brächte. Natürlich führen diese kapitalistischen Agenten die Sache nicht von einem kommunistischen Standpunkt aus weiter, wie es dieser Artikel im Folgenden tut: alles worauf sie hinaus wollen ist, wo immer möglich Widerstand leisten gegen Verbesserungen für die Arbeiter, und das ist die große Aufgabe der modernen Politiker.
Schauen wir uns diese Acht-Stunden-Forderung näher an und versuchen wir herauszufinden, was sie bedeutet. Zuallererst würde niemand, der kein Sklavenausbeuter ist (und die meisten Mittelklasse-Leute sind Sklavenausbeuter) leugnen, dass es für sich genommen eine gute Sache wäre, die Maximal-Arbeitszeit pro Tag auf acht Stunden zu begrenzen, obwohl es auf der anderen Seite nicht einmal ein Schritt in Richtung Sozialismus wäre. Aus dieser Sicht wäre es nicht mehr als eine Verbesserung des Loses – von Sklaven, so wie eine Lohnerhöhung für Lohnarbeiter eine Erhöhung ihrer Sklavenration darstellt. Nun, man muss sagen, dass diese Art von Verbesserung genau das Ding ist, das er nur durch die Anwendung jenes Mittels der Selbsthilfe erringt, das Generalstreik genannt wird. Und wenn sie auf diese Art errungen wird, wäre sie so lehrreich, dass der Erfolg eine sehr verschiedene und viel größere Bedeutung hätte, als wenn sie dem Volk vom Parlament hingeworfen würde wie die Tonne dem Wal.
Nun, was den Gewinn aus einem Acht-Stunden-Gesetz betrifft, was würde herauskommen? An erster Stelle, würde die Situation der Gesamtheit der Arbeitenden sich verbessern oder nur von einem Teil? Darauf gibt es offensichtlich nur eine Antwort. Zum Beispiel, wie würde so ein Gesetz mit den Landarbeitern verfahren? Und ich möchte nebenbei bemerken, dass diese Gruppe der Arbeiter, gleichermaßen die nützlichste und am meisten ausgenützte Gruppe, allgemein in der Kälte stehengelassen wird, wenn es um die Frage dieser partiellen „Verbesserungen“ geht – außer es ist offensichtlich beabsichtigt, sie für einen politischen Trick zu instrumentalisieren. Viele andere Beispiele von Arbeitenden, die nichts von dem Acht-Stunden-Gesetz hätten, werden jedem arbeitenden Menschen sofort einfallen.
Noch einmal, vorausgesetzt das Gesetz geht durch, dann wird sofort ein Kampf zwischen den Herren und Arbeitern um die Löhne beginnen, die für den kürzeren Arbeitstag zu zahlen sind. Wird sich das Parlament mit dieser Schwierigkeit abgeben, frage ich? Ich will gleich demonstrieren, was es auf sich hat, wenn es das tut. Vorher behaupte ich, dass die Leute dabei dann zum Streik greifen müssen, d.h. dass sie die ganze Schlacht noch einmal von vorne beginnen müssen. Noch einmal, wenn die Kapitalisten durch die Änderung einen Verlust haben, werden sie jeden Muskel anstrengen, den Verlust wieder reinzubringen und ein offensichtliches Mittel das zu tun ist die Intensivierung der Arbeit. Verbesserte Organisation (d.h. Sklavenantreiberei) in der Werkstatt, verbesserte Maschinerie in der Fabrik bringt den Kapitalisten wieder in die Oberhand und zwingt die Arbeiter, mehr pro Stunde zu produzieren – d.h. ihre körperlichen und geistigen Kräfte noch mehr zu verschwenden.
Sicher muss gegen diese Dinge in jedem Fall mit den bekannten Methoden des Arbeitskampfes vorgegangen werden, und der bloße Mechanismus eines Gesetzes wird auf diesen Kampf nur wenig Einfluss haben. Warum dann, wenn die Arbeiter notwendigerweise das neue Gesetz selbst in der Praxis durchsetzen müssen, sollten sie nicht Zeit und Mühe sparen und die noch ungeschriebene Einführung selbst festsetzen? Welchen Nutzen hätte die Verzierung durch einen legalen Akt, wenn sie das, was sie wollten, ohnedies bekommen haben? Und denken wir daran, dass jeder Erfolg, der durch den Zusammenschluss der Arbeit gewonnen wird, das Kommen des Tags beschleunigt, an dem die hassenswerten Klassenunterschiede beseitigt werden.
Aber manche Leute werden sagen „das könnte wahr sein, wenn wir bei einem Acht-Stunden-Gesetz stehen bleiben, aber wir wollen noch viel mehr“. Ganz richtig, jeder Sozialdemokrat, der die Ziele seiner Partei kennt, weiß, dass ein gesetzlicher Achtstundentag ohne gesetzlichen Mindestlohn in allen großen Industriezweigen (was ist mit den kleinen?) nicht funktioniert und dass dieser wiederum sinnlos wäre ohne den Erlass von Maximalpreisen der allgemeinen Konsumgüter. Und diese Gesetze würden es notwendig machen, staatliche Werkstätten zu gründen, um den Profit der Kapitalisten auszuschalten. Das bedeutet kompletten Staats-Sozialismus, mit dem wir Kommunisten nicht einverstanden sind, weil wir glauben, dass die damit verbundenen Schwierigkeiten so groß sind, dass die Verwirklichung des Kommunismus auf der einen Seite auch nicht schwieriger wäre, auf der anderen Seite aber eine ganze Revolution wäre und nicht der fruchtbarste Gebärer der Konterrevolution: eine halbe Revolution.
Aber davon abgesehen, glaubt irgendjemand ernsthaft, dass irgendein Parlament in England (oder der Welt) einen Moment zögern würde in der Entscheidung, ob eine Acht-Stunden-Gesetz Abfallpapier werden soll oder daraus die logischen Konsequenzen zu ziehen? Unsere kunstfertigen sozialdemokratischen Freunde würden herausfinden, dass sie mit dem Hämmern ihrer Hände auf die schmale Seite des Keils sich nur selbst verletzt haben und von Neuem zu beginnen hätten, obwohl sie Macht genug hätten, den kapitalistischen Feind zu zwingen, seine zu Unrecht bekommenen Gewinne aus Furcht vor noch Schlimmeren auszuspucken.
Wir können sicher sein, welchem Teil der sozialdemokratischen Forderung das Parlament auch zustimmt, es wird gegeben mit der Intention entweder einer Nichtigkeit oder eines Köders, um eine mögliche Revolution verstummen zu lassen.
Eine Sache, die die Demonstration am 4. Mai forderte, werden sie in einer bestimmten Art bekommen: den Achtstundentag in Regierungsfabriken. Aber er wird nur, wenn überhaupt, in der Erwartung gegeben, dass er wie kleine Bestechung funktioniert. Der zu bezahlende Preis wäre die Ruhigstellung, die Ent-Revolutionierung der da angestellten Arbeiter. Es ist wirklich zu hoffen, dass dieser Preis nicht bezahlt wird. Aber genau das ist es, was die parlamentarischen Kapitalisten wollen. Sie denken, ein großes sozialistisches Werk vollbracht zu haben und sie werden darauf achten, nicht mehr Sozialismus zuzulassen, bis die Revolution an ihre Türen pocht und niemand mehr darauf einen Knopf gibt, was sie tun.
Und währenddessen, um die fadenscheinige Fabel weiterzuspinnen, wenn das Gebirge der harten Lohnarbeit diese lächerliche Maus geboren hat, werden ihre fiepsigen Töne uns kaum für alle Mühen und – unseren schleichenden Gang – entschädigen. Staats-Sozialismus? – ich bin mit ihm nicht einverstanden; ich denke, dass diese beiden Worte sich geradezu widersprechen und dass es die Aufgabe des Sozialismus ist, den Staat zu zerstören und eine Freie Gesellschaft an seine Stelle zu setzen. Aber der Staatssozialismus in den Händen einer bürokratischen Direktion – das ist wahrlich eine befremdliche Geburt aus Kompromiss und „Mäßigung“.
“The ‘Eight Hours’ and the Demonstration”, Leitartikel des Commonweal vom 17. Mai 1890
Ein zweiter lesenswerter Leitartikel von Morris vom Samstag vor diesem 4. Mai: „Labour Day“, Artikel des Commonweal vom 3. Mai 1890
Auf dem internationalen Sozialisten-Kongress von Paris im Juli 1889 wurde der 1. Mai als Tag der Arbeiterklasse aus der Taufe gehoben. Dieser Kongress (dominiert von der deutschen Sozialdemokratie) wurde im Nachhinein zum 1. Kongress der II. Internationale. Morris war auf diesem Kongress berichterstattender Delegierter für England (Rede von William Morris). Morris wollte eine sozialistische Resolution einbringen, scheiterte damit aber bei den deutschen Parteiführern. Er war bereits auf der Rückreise, als beschlossen wurde: „Es ist für einen bestimmten Zeitpunkt eine große internationale Manifestation zu organisieren, und zwar dergestalt, dass gleichzeitig in allen Städten an einem bestimmten Tage die Arbeiter an die öffentlichen Gewalten die Forderung richten, den Arbeitstag auf acht Stunden festzusetzen (…). In Anbetracht der Tatsache, dass eine solche Kundgebung bereits von dem amerikanischen Arbeiterbund (…) für den 1. Mai 1890 beschlossen worden ist, wird dieser Zeitpunkt als Tag der internationalen Kundgebung angenommen.“
Die Socialist League führte dementsprechend am 1. Mai eine Demonstration vom Embankment zum Hydepark durch, siehe Bericht vom 1. Mai in London. Der Socialist League war aber der internationale und sozialistische Aspekt an diesem Tag wichtiger, weshalb sie eben am 1. Mai, einem Arbeitstag, und deshalb nur mit wenigen Tausend und getrennt von denen, die den darauffolgenden Sonntag wählten, auf die Straße ging. (Viel erfolgreicher noch wurde der 1. Mai an diesem Arbeitstag in Österreich/Wien, Belgien und anderen Ländern zu einer machtvollen Kundgebung der Selbständigkeit des bewussten Teils der Arbeiterklasse.) Die Socialist League stellte ihre Versammlung unter den Geist folgender Resolution:
Diese Versammlung begrüßt mit Freude das Erwachen der Arbeiter in der ganzen zivilisierten Welt; sie erklärt die Notwendigkeit der Vereinigung der Arbeiter aller Länder um die volle Freiheit vom Monopol der Kapitalisten zu erreichen; sie erklärt, dass die einzig mögliche Abhilfe gegen Armut und Elend der Arbeiter der freie Zugang zu den Ressourcen der Natur ist und die Leitung der Organisation der Arbeit durch die Arbeiter und sie ruft alle Arbeiter auf, die Erringung dieser Freiheit als höchste Aufgabe zu übernehmen.
Die Trade Unions der bessergestellten Arbeiter und die Sozialdemokraten riefen am arbeitsfreien Sonntag in den Hydepark und teilten sich das Publikum von mehreren Hunderttausend, von dem ein großer Teil bitterarme Arbeiter des Eastend waren, die gerade erst aktiv geworden waren („The Great Unrest“). Morris setzt sich in dem hier übersetzten Leitartikel nach der Sonntagskundgebung vor allem mit der Forderung nach einem gesetzlichen Achtstundentag auseinander, der zum gemeinsamen Motto der meisten Trade Unions und den kleinen marxistisch/sozialdemokratischen Gruppen Londons geworden war. Parallel dazu sollte man unbedingt den Artikel von Friedrich Engels (siehe unten) über denselben Tag lesen. Dann wird die komplett gegensätzliche Wahrnehmung auffallen. Engels vermeinte (und gleitet am Ende ins autoritäre Schwadronieren ab), dass seine marxistische Richtung die Trade Unions ausgestochen und an diesem Tag die Führung der Massen übernommen habe, während Morris den Trade Unions ihre nationale Borniertheit vorwirft und gegen die marxistische Richtung mit ihrer Gesetzesforderung argumentiert. Wir finden, dass Morris hier beschreibt, was sich damals andeutete und sich seitdem hundert Mal abgespielt hat – man denke nur zuletzt an den gesetzlichen Mindestlohn oder das Grundeinkommen – der vermeintlich leichtere Weg über das Parlament und den Staat. Es ist aus diesem Text nicht herauszulesen, dass Morris die Verkürzung des Arbeitstages gering geschätzt hätte. Es ist ein Grundsatzstreit, ob der beste Weg des Kampfes der Arbeiter staats- und parlamentsorientiert oder im Vertrauen auf die eigene direkte Aktion zu suchen ist. Der Kampf um Verkürzung der Arbeitszeit wurde damals in vielen Ländern auf verschiedene Weise geführt; ihn zu erreichen über gesetzliche Einführung durch das Parlament war die Spezialität der Marxisten und der deutschen Sozialdemokratie und folgte ihrer Strategie des „politischen“ Kampfes, die Morris hier deutlich ablehnt. (Das Kapital Bd. I: „Zum ‚Schutz‘ gegen die Schlange ihrer Qualen müssen die Arbeiter ihre Köpfe zusammenrotten und als Klasse ein Staatsgesetz erzwingen, ein übermächtiges gesellschaftliches Hindernis, das sie selbst verhindert, durch freiwilligen Kontrakt mit dem Kapital sich und ihr Geschlecht in Tod und Sklaverei zu verkaufen. An die Stelle des prunkvollen Katalogs der ‚unveräußerlichen Menschenrechte‘ tritt die bescheidne Magna Charta eines gesetzlich beschränkten Arbeitstags, die endlich klarmacht, wann die Zeit, die der Arbeiter verkauft, endet und wann die ihm selbst gehörige Zeit beginnt“. ML-Werke) William Morris sieht ein Gesetz des Parlaments realistisch als Mogelpackung und Verstärkung des Reformismus und sein Rat, die wirtschaftlichen Kämpfe direkt mit den Kapitalisten, am besten in einem Generalstreik auszufechten, verweist auf den Syndikalismus, der auch zu dieser Zeit entstand.
Auf einer der Plattformen im Hyde-Park stand am 4. Mai auch Friedrich Engels, Redner waren u.a. Edward Aveling, Eleanor Marx und Paul Lafargue. Eleanor Marx sagte in ihrer Rede: „Die unter uns, die alle Beschwernisse des Docker-Streiks und insbesonderes des Gasarbeiter-Streiks mitgemacht haben und die Männer, Frauen und Kinder gesehen haben, die um uns standen, haben genug von Streiks und wir sind entschlossen, den Achtstundentag durch gesetzliche Einführung zu erkämpfen; wenn wir das nicht tun, wird er uns bei erster Gelegenheit genommen werden. Wir können nur uns selber verantwortlich dafür machen, wenn wir diesen Sieg nicht erreichen, den dieser Tag uns so leicht geben kann.„
Artikel von Engels – Brief von Engels an Bebel (Seite 399) – Rede von Eleanor Marx
1892 muss sich die Kundgebung im Hyde-Park ganz ähnlich, aber mit noch mehr Teilnehmern wiederholt haben. An die 500.000 Menschen demonstrierten und die Forderung nach einem gesetzlichen Achtstundentag war als Hauptparole durchgesetzt … zur Freude und Selbstbestätigung der deutschen Sozialdemokraten, wie zu lesen auf dieser Seite des Wahren Jakob:
Zum Ausklang ein Artikel zum 1. Mai 1912 von Gustav Landauer. Auch zum Achtstundentag, aber von der Seite des Lebens her, ganz im Sinne von William Morris:
Gustav Landauer: Der Arbeitstag