Rede auf dem Internationalen Arbeiterkongress 1889 in Paris

Donnerstag, den 18. Juli – Morgensitzung
Bürger Morris gibt einen Überblick über die sozialistische Bewegung in England, ohne indessen bei der dortigen Lage der Arbeiterklasse zu verweilen, die wie anderswo, Sklavin des Privatkapitals ist. Kaum seit sechs Jahren kann von Sozialismus in England die Rede sein, wenn auch noch etwas von der Chartistenbewegung lebendig geblieben war, sowie auch vom Kommunismus Owen’s. Notwendig musste sich der Einfluss des festländischen Sozialismus fühlbar machen, aber die Bourgeoisie, durch ihre Handelserfolge hochmütig geworden, ignorierte die Lage des Proletariats, oder wollte sie ignorieren. Die grosse Masse betrachtete als das zu erstrebende Nonplusultra die Verwirklichung eines Systems heuchlerischer Formeln, welche die ganze Politik beherrschten. Die ökonomische Entwicklung hat aber jetzt diese Sachlage umgestaltet: der Sozialismus ist für das Proletariat eine Hoffnung geworden, für die Bourgeoisie ein Schrecken. Mehr noch! Manche Bourgeois erklären sich für Sozialisten unter dem Vorbehalt, dass man sie nicht zwinge, das Prinzip des Klassenkampfes anzuerkennen. Die abschreckende Gestalt, unter welcher die Armut in England zutage tritt, scheint bei diesen Leuten ein Stückchen eingeschlafenen Gewissens aufgestört zu haben, und sie unterstützen und verkündigen deshalb alle Arten von Reform. So hat denn der Staat die Auswanderung begünstigt, um das Land von einer Menge von Proletariern zu befreien; so hat man einen schüchternen Versuch gemacht, dem bäuerlichen Grundbesitz wieder aufzuhelfen und die ländliche Klein-Industrie reger zu bringen; so hat man sich bemüht um eine Arbeiter-Versicherung à la Bismarck und um eine neue günstigere Form der Produktiv-Genossenschaft. Zahlreiche Hilfsmittel sind in Vorschlag gebracht vom reinen einfachen Philanthropismus bis hinunter zum Malthusianismus und zur Fruchtabtreibung, und zwar durch Bourgeois, welche ein Bewusstsein davon haben, auf welchem Vulkan unsere Gesellschaft angekommen ist.
Bis zur letzten Zeit ist die sozialistische Bewegung fast ausschließlich im Reiche des Gedankens geblieben, unterhalten fast allein von Mitgliedern des Proletariats der Bildung. Heute hat sich das Blatt gewandt, da die Geister der Arbeiter durch die ökonomische Entwicklung zur Aufnahme und Annahme der sozialistischen Lehren genügend vorbereitet sind. Die Arbeiter haben den Klassenkampf als solchen erkannt; sie haben begriffen, dass das Mehr oder Weniger des Elends in ihrer Existenz von der Rolle abhängt, die sie spielen, indem sie sich dem Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise einfügen lassen. Durch einen unwiderstehlichen Antrieb werden sie dazu gedrängt, die Umgestaltung der Gesellschaft von Grund aus zu wollen.
Dieses Erwachen wird teilweise der Propaganda verdankt, welche ein Häuflein überzeugter Sozialisten an den Straßenecken vorgenommen hat. Vor nur drei bis vier Jahren wurden unsere Redner in gewissen Orten von den Arbeitern selbst ausgezischt und ausgepfiffen; heut zu Tage finden sie überall ein aufmerksames Publikum, ja man spendet ihnen sogar Beifall. In den radikalen Londoner Clubs ließ man sich früher kaum herab, Sozialisten anzuhören; heute finden die Sozialisten daselbst kaum noch Widerspruch. Besser noch: Das politische Leben im eigentlichen Sinne (wohl zu verstehen, dass der Redner damit nicht die müßigen Diskussionen – wire-pulling, d.h. Drahtzieherei – der Wahlperiode versteht) bekundet sich in diesen Clubs allein durch die Bewegung derjenigen, welche als Sozialisten auftreten. Mit einem Wort, der Sozialismus beeinflusst die politischen Parteien in solcher Weise, dass Minister Harcourt ausrufen konnte: „Wir sind alle Sozialisten!“ Das ernsthafteste Hindernis, dem die Sozialisten begegnet sind, findet sich in der Gleichgültigkeit der in bereits konsolidierten Industrien beschäftigten Arbeiter. Da England unter allen Ländern das erste gewesen ist, dem es gelang, die Großindustrie sich vollkommen zu eigen zu machen, so haben sich notwendigerweise die Arbeiter der Industriezentren seit Generationen in die äußerste Abhängigkeit vollständig ergeben müssen. Sie haben sich daran gewöhnt, sich selbst lediglich als einen Teil des Mechanismus der Fabrik zu betrachten. Der Fabrikherr ist für sie ein „paymaster“ – Zahlmeister –, mit dem sie zuweilen einen Streit haben, den sie aber darum nicht minder als unentbehrlich für ihre Existenz ansehen.
Andererseits ist die sozialistische Bewegung in England durch die Tatsache begünstigt worden, dass eine Gemeinsamkeit der Empfindungen zwischen dem Bauern, d.h. dem Landarbeiter und dem städtischen Arbeiter besteht, woran in Frankreich nicht zu denken ist und ebensowenig anderswo auf dem Kontinent – wenigstens nicht in annähernd gleichem Maß. Der Landarbeiter in England ist Sklave des Pächters und deshalb durchaus nicht konservativ, wenn es ihm auch oft widerfährt, dass er für einen Konservativen zu stimmen genötigt wird; er hat seine Meinung für sich und eine lebhafte Neigung, seine Ketten abzuschütteln.
Die Entwicklung der Parteien hat der Sache des Sozialismus gedient. So hat schon allein die irische Frage – mit der die englischen Sozialisten sich viel beschäftigt haben – alle alten Parteien in Verwirrung gebracht. Die Arbeiter, bis dahin gewöhnt, sich blindlings dem Parlament anzuvertrauen, haben von ihrem Zutrauen verloren. Es muss konstatiert werden, dass die neue Gruppe der Sozialistischen Radikalen – in der Presse vertreten durch den „Star“ – wenig Einfluss im Parlament besitzt, und dass sie auch an jenem Tage nicht mehr Einfluss besitzen wird, wenn die irische Frage gelöst oder beseitigt wird.
Wir – d.h. die Socialist League, in deren Namen ich spreche – wir, sage ich, beglückwünschen uns zu dieser Lage, denn wir glauben bestimmt, dass die Arbeiter ihre Zeit und Mühe unnütz opfern, wenn sie sich anstrengen, eigene Vertreter ins Parlament zu bringen. Wir sind deshalb weit davon entfernt, die geringen Resultate zu bedauern, welche mit den erwähnten Versuchen erreicht wurden. Dagegen zeigen die neuerdings in den großen Städten und besonders in London eingeführten City-Councils – Grafschaftsräte –, sehr gegen die Absichten der Tories, eine starke Neigung zum Sozialismus. Man darf hoffen, sie werden eines Tages ein Sammelpunkt sein für das der zentralistischen und bürokratischen Parlamentsmacht widerstrebende Volk; denn diese Parlamentsmacht ist in England, – und kann dort nur sein – reaktionär, weil sie unter dem unbrechbaren Bann steht, ein Verteidigungs-Ausschuss zu sein für das hochheilige Recht des Privateigentums, das die Sozialisten angreifen. Dieser Ausschuss, Parlament geheißen, hat es sich nicht verdrießen lassen, in seine Mitte einige Angehörige der ausgebeuteten Klasse aufzunehmen, deren Anwesenheit auf ein doppeltes Ziel absieht: als Sicherheitsventil zu dienen für die Unzufriedenheit des Volkes und als Anzeiger für die Richtung der Arbeiter-Beschwerden, ja auch dafür, innerhalb welcher Grenzen die bürgerliche Heuchelei sich freie Bewegung gönnen dürfe.
Alles in allem, die Lage der Bewegung in England ist sehr ermutigend. Die öffentliche Meinung sucht mit immer größerem Eifer danach, wo die Wahrheit ist, und wenn auch die Organisation der Partei noch ungenügend sein mag, so kann man doch sicher sein, dass sie aus sich selbst heraus und in unwiderstehlicher Weise weiter kommen wird.
Vergessen wir nicht zu erwähnen, dass der Sozialismus sich mehr und mehr in Australien ausbreitet, nicht in dem Sinne, wie wir ihn sich in Amerika entfalten sehen, sondern vielmehr in einer der englischen Bewegung nahekommenden Art.
Übrigens die Tatsache selbst, dass der Sozialismus in England als eine Bewegung der Gedanken zuerst aufgetreten ist, rechtfertigt die Hoffnung, dass seine Fortschritte nicht ins Stocken geraten. Der Idealismus, der hierdurch bedingt ist, ist das unerlässliche Element jeder Bewegung, die sich durchsetzen will. Es ist ohne Zweifel gefährlich, unsere Hoffnung auf ökonomischen Fatalismus zu gründen, auf die andauernde Verkümmerung des bürgerlichen Elements. Notwendigerweise verpflichtet uns die logische Entwicklung der Produktion und der Gesellschaft, diese Tatsachen in Erwägung zu nehmen; indessen die historische Verschiebung der Zustände kann den Lauf jener Entwicklung unterbrechen und der Übermacht des Bürgertums eine weitere Lebensfrist bewilligen. England kann möglicherweise noch eine Periode großer Handelsblüte genießen; in Folge des Anreizes, den diese Blüte auf die Entdeckungen und die Begeisterung der Mechanik üben muss, werden aber die Arbeiter noch geringeren Anteil an dem sogenannten Nationalreichtum haben als selbst in der gegenwärtigen Industrieperiode.
Was auch kommt, wir werden nicht aufhören Sozialisten zu sein. In der Tat, wir können besser genährte Sklaven, angenehmer situierte Schmarotzer werden – aber damit sollten wir zufrieden sein? Nein! Die Bewegung im Reiche der Gedanken, welche sich weiter vollziehen muss, wird uns nicht erlauben, mit einem Zustande zufrieden zu sein, der nicht die volle und ganze Verwirklichung unseres Ideals ist. Wir wissen, dass wir die vollkommene Gleichheit der Lebensbedingungen für alle Menschen zu fordern haben, und dass dies ein sehr wohl zu realisierbares Ideal ist. Wir werden niemals die mühsam erlernte Lektion vergessen; wir werden daran zu denken wissen, dass, wie auch immer das Schicksal einiger Individuen sich gestalte, der „Bodensatz“, wenn auch mit Verbesserungen, doch immer jener Bodensatz bleibt, von welchem John Bright mit solch satter Selbstgefälligkeit gesprochen hat, – und dass er es bleiben wird, bis wir unsere ganze Forderung durchgesetzt haben. Die Arbeiter, auch die am besten daran sind, hängen sie nicht immer von ihren Lohnherren ab? Und wenn wir den Sachen auf den Grund gehen, von dem Herrn ihrer Herren, dem internationalen Markt? Der englische Arbeiter wird mit Zähigkeit die Forderung seiner vollen Rechte verfolgen, und er wird nicht stillstehen auf dem Wege, das wissen wir, bis dass er sie ganz erobert hat. Bei alledem wird die sozialistische Partei, erkennen wir es an, durch eine Periode der Enttäuschung bedroht, wenn sie zu einer rein politischen Partei ausartet. In diesem Falle wird sie das Spiel einer Handvoll von Abenteurern und Stimmenfängern werden, die nichts im Auge haben als ihr persönliches Interesse. Zu diesem Behufe werden sie die Hoffnungen des Proletariats nähren und dasselbe durch eine verlogene Agitation zu Gunsten einiger Palliativ-Mittel betrügen, die ein Bourgeois-Parlament nicht verfehlen wird zu bewilligen, da ein solches sehr gut weiß, dass diese Palliativ-Mittel, sollten sie wirklich durchgeführt werden, der Menge des Volkes niemals mehr geben werden, als die Freiheit zu stimmen und – Hungers zu sterben.
Zwei Dinge muss man den englischen Sozialisten zur Ehre nachsagen. Erstens sind, ungeachtet gewisser Meinungsverschiedenheiten, die englischen Sozialisten – einige Ausnahmen abgerechnet – gründlich international. Sie verurteilen mit der äußersten Energie den Chauvinismus (Jingoismus) – welche Erscheinungsform er auch annehme. Das Wort „Nationalität“ hat für sie nur eine geographische Bedeutung. Das „Britische Reich“, keineswegs ein Gegenstand der Liebe und des Stolzes für sie, gilt ihnen nur als eine Macht des Unheils, eine auf Ungerechtigkeit und Gewalttat beruhende Herrschaft, die demnach der Abscheu jedes anständigen Menschen verfallen ist. Zweitens haben die englischen Sozialisten, Kraft ihres Idealismus, sich als die besondere Mannschaft der ästhetischen Seite des Sozialismus konstituiert. Ohne die Utopien von Charles Fourier anzunehmen, sind sie, meistens ohne es selbst zu wissen, die Erben seiner Idee von der anziehenden Arbeit (Forderung, die Arbeit in der sozialistischen Gesellschaft so zu gestalten, dass sie aufhört, lästig zu sein und den Arbeiter als ein Vergnügen anziehe). Dieser Punkt hat seine Wichtigkeit. Alle Sozialisten wollen, dass alle Menschen zur Arbeit angehalten werden, aber wenn sie dies Ziel erreicht haben, werden sie sich dem Satz anschließen, dass die Arbeit weniger eine peinliche Mühe als eine reizvolle Obliegenheit ist. Trotz unvermeidlicher Fehlgänge hat die sozialistische Bewegung Englands dem gesamten Sozialismus greifbare und nützliche Dienste geleistet, indem sie den Arbeitern das zu erreichende Ziel zeigte: ein schönes und vollkommenes Leben.
Die sozialistische Bewegung Englands hat eine beachtenswerte Literatur erzeugt. Neben mehreren täglichen Arbeiterblättern bemerkt man zwei sozialistische Wochenschriften: „Justice“, Organ der „Social Democratic Federation“ und „Commonweal“, Organ der Socialist League. Die Sozialisten veröffentlichen auch Streitschriften, Broschüren, Flugblätter; indessen fehlen auch gewichtigere Werke nicht. Ein charakteristisches Zeichen ist, dass unsere Romanschriftsteller es gut finden, ihre Bücher mittelst eines gewissen Zusatzes von Sozialismus zeitgemäß zu machen. Der Sozialismus ist Mode geworden!
Der Sozialismus ist also in England eine kräftige Pflanze, die lebensfrische Sprossen treibt, freilich noch jung, so jung, dass sie noch weder Blumen noch Früchte hervorgebracht hat. (Lebhafter Beifall.)

Aus: Protokoll des Internationalen Arbeiterkongress in Paris, 1889. Herausgegeben von Wilhelm Liebknecht, Nürnberg, 1890.
Der Kongress befasste sich hauptsächlich mit den Fragen des Arbeitsschutzes und proklamierte den 1. Mai als Internationalen Feiertag der Arbeiterklasse. Auf diesem Kongress waren noch verschiedene Strömungen vertreten.
Max Nettlau (als Delegierter der Norwich-Branch der Socialist League dort anwesend) berichtet in Band IV seiner Geschichte der Anarchie ausführlich über diesen Kongress, der durch Machenschaften der marxistischen Richtung geprägt war. Es gab parallel einen Kongress, der von den „Possibilisten“ organisiert wurde. William Morris und die Socialist League nahmen nach Nettlau an dem einen Kongress teil, „um dem Marxismus die Stirn zu bieten“ und weil sie den anderen Kongress als zu gemäßigt ansahen. Auf dem Kongress wurde tagelang die Zeit vergeudet und Morris reiste vorzeitig ab, um noch die Kathedrale von Rouen zu sehen.

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