Ein Freund, R.F.E. Willis, dessen Brief wir hier abgedruckt haben, scheint geneigt, eine positive Antwort auf die Frage, ‘sollen Sozialisten in den parlamentarischen Kampf eintreten?’ zu geben. Diese Frage ist so wichtig, dass ich mich nicht dafür entschuldigen möchte, dass meine Antwort eine gewisse Länge hat.
Ich muss zugeben, dass es vom politischen Geschehen her gesehen, angeraten sein könnte, einen Glauben an einen parlamentarischen Weg der Revolution vorzutäuschen, sogar wenn wir gar nicht daran glauben und das umso mehr angesichts der kommenden Wahlen, die solche Hoffnungen in den Herzen von Demokraten wachsen liessen – Hoffnungen, die aber wahrscheinlich enttäuscht werden, sogar für die rein demokratische Seite. Aber ich bin überzeugt, dass jede solche Unehrlichkeit mit Sicherheit auf die Köpfe derer zurückfallen würde, die sie praktizieren. Und es hat keinen Sinn, neue Leute aufzunehmen, die mit uns nicht wirklich überein stimmen und wieder abfallen, wenn es zur ersten ernsten Proklamation unserer Prinzipien kommt. Deshalb denke ich, dass Sozialisten nicht zögern sollten, sich zwischen Parlamentarismus und revolutionärer Agitation zu entscheiden und dass es ein Fehler wäre, zu versuchen, auf zwei Stühlen gleichzeitig zu sitzen. Ich für meinen Teil hoffe und bin mir sicher, dass sie sich gegen den Parlamentarismus erklären, damit sie andernfalls nicht unter großem Verlust an Zeit und Mut in ihren Fußstapfen umkehren müssen.
Jetzt frage ich unseren Freund: was ist das Ziel des Sozialismus? Hoffen wir nicht darauf, die Gesellschaft umzukrempeln in etwas ziemlich Verschiedenes gegenüber dem Ist-Zustand? Auf der anderen Seite ist das Ziel des Parlamentarismus die Bewahrung der Gesellschaft in ihrer jetzigen Form – die Fehler in der Maschine zu reparieren, damit die Maschine weiter laufen kann. Die Gesetzgebung der Liberalen (und es gibt keine andere, denn die Tories sind gezwungen, Gesetze nach Art der Liberalen zu machen, wenn sie am Ruder sind) bedeutet, den Forderungen aus der Bevölkerung soweit nachzugeben, wie es absolut notwendig ist, um die Forderungen insgesamt zu vertuschen, damit das Schröpfen der Bevölkerung niemals aufhöre.
Nehmen wir die Fabrikgesetze, die unser Freund als Beispiel anführt und lasst uns sehen, wie die Sache läuft. Für unsere kapitalistischen Fabrikanten war (und ist) es notwendig, zusätzliche Arbeitskraft von Frauen und Kindern einzusetzen, um die Produktionskosten durch Absenken der Löhne der erwachsenen Männer niedrig zu halten. In den frühen Jahren der technisierten Großindustrie bedrohten der monströse, nicht mehr zu verschweigende Missbrauch der Frauen- und Kinderarbeit die Existenz dieser Art der Beschäftigung. Reine Notwendigkeit zwang daher die Fabrikanten, der Linderung des Missbrauchs zuzustimmen, so dass jetzt die Last dieser schändlichen Arbeit erleichtert und zugleich das System gerettet ist – und das heißt, dass die Frauen und Kinder unserer Fabrikarbeiter für die Fabrikanten die Arbeitskosten zum Nachteil ihrer eigenen Männer und Kinder verbilligen. Es wird noch immer eine große Menge an “zusätzlicher Arbeitskraft” eingesetzt, unangetastet von den Fabrikgesetzen, und das wird bleiben, bis der Sozialismus unsere Zivilisation umwandeln wird.
Auf der anderen Seite wird dadurch die Sklaverei der besser gestellten Arbeiter zwar gemildert – und doch bekräftigt. Daneben bleibt die Randzone der Arbeit, die für das bestehende Fabriksystem absolut notwendig ist, unberührt oder wird sogar zum Schlechteren verändert.
Das ist der reguläre Gang der parlamentarischen Gesetzgebung, die sich wie ein Doktor verhält, der den Patienten zu heilen versucht durch Angriff auf die Symptome unter Nichtbeachtung der Ursache der Krankheit. Kurz gesagt: Wenn der beabsichtigte Zweck die Unterstützung des Klassen-Staates ist, dann hat die parlamentarische Gesetzgebung ihre Berechtigung, alles andere aber wäre eine Illusion.
Gerne hätte ich es, dass unser Freund verstehen möge, wohin das ganze System der Linderung führt – nämlich zur Schaffung einer neuen Mittelklasse, die als Puffer zwischen dem Proletariat und ihren direkten und offensichtlichen Herren agieren soll. Die einzige Hoffnung der Bourgeoisie, den Vormarsch des Sozialismus aufzuhalten, liegt in diesem Mittel. Unser Freund möge sich eine Gesellschaft vorstellen, die so zusammengehalten wird. Er möge daran denken, wie kleinlaut sich die gut gestellten Arbeiter heute selber dem Schafscherer anbieten; und sollen wir etwa unseren Herren helfen, weiter neue und immer neue Herden solcher Schafe zusammenzutreiben? Was wäre das für eine Gesellschaft, deren Hauptunterstützung als arbeitende Menschen maskierte Kapitalisten wären? Soll das ultimative Ziel der Zivilisation etwa die endlose Ausdehnung der Mittelklasse sein? Ich glaube, wenn unser Freund die schreckliche mentale Rückentwicklung unserer Mittelklasse so gut wie ich kennen würde – ihren Aberglauben, ihre Feigheit, ihre Freudlosigkeit – er würde vor dem Versuch zurückschrecken, ihr geliebtes Verbessungs-Instrument zu benützen – das Parlament.
Wir arbeiten dafür, eine neue Gesellschaft zu verwirklichen und nicht um unser gegenwärtiges tyrannisches Durcheinander aufzuräumen für eine verbesserte, geschmeidigere Form derselben “Ordnung” – einer Masse von stumpfen und fremdgesteuerten Leuten, in Klassen organisiert, zwischen denen der Widerspruch so gut moderiert und verschleiert ist, dass sie sich zur Sicherung der Stabilität des Systems gegenseitig in Schach halten.
Die wirkliche tägliche Aufgabe von Sozialisten ist es, den Arbeitern die Tatsache einzuprägen, dass sie eine Klasse sind, obwohl sie die Gesellschaft sein sollten; wenn wir uns mit dem Parlament einlassen, werden wir diese Tatsache im Bewusstsein der Leute durcheinanderbringen und abdämpfen, anstatt sie klar zu machen und zu verstärken. Die Arbeit, die heute vor uns liegt, ist es, “Sozialisten zu machen”, das Land mit einem Netzwerk von Vereinigungen zu bedecken, die aus Menschen bestehen, die ihren Gegensatz zu den herrschenden Klassen fühlen und keine Neigung haben, ihre Zeit in den tausend Verrücktheiten der Parteipolitik zu vergeuden. Wenn durch Zufall irgend etwas Gutes aus der Gesetzgebung der herrschenden Klassen herauszuholen ist, werden die unumgänglichen Zugeständnisse aus ihnen viel wahrscheinlicher durch die Furcht vor so einer Bewegung herausgequetscht, als durch das Beschwatzen und die Schmeicheleien eines fortwährenden Lebens in Kompromissen, das die “parlamentarische Sozialisten” zu führen gezwungen wären und das tödlich ist für jenes Gefühl von begeisterter Hoffnung und Brüderlichkeit, das allein eine revolutionäre Partei zusammenhalten kann.
“Socialism and Politics (An Answer to ‘Another View’)”, Commonweal, Juli 1885
(Zwei Jahre später entwickelt Morris diesen Standpunkt weiter in „Die Leitlinie des Fernhaltens vom Parlament“, und in weitere zwei Jahre später in „Anti-Parliamentary“; ebenfalls auf dieser Webseite)
Eigene Übersetzung, 2013