Hans-Christian Kirsch: aus „William Morris – ein Mann gegen die Zeit“

HCKAus dem ersten Kapitel, „Annäherungen“:
Hier ist der Punkt erreicht, an dem es nützlich erscheint, einen Überblick über das zu geben, was man Morris‘ Grundansichten nennen kann; denn er hat nie so etwas wie ein System oder gar eine geschlossene Lehre entwickelt.
Es sind vielmehr einige Schlüsselworte, die er, immer wieder ansetzend, mit sehr persönlicher Bedeutung erfüllt hat. Gerade weil ihre terminologische Bedeutung für das Verständnis des Morris’schen Denkens fast unerlässlich ist, und auch, weil von diesen Schlüsselworten her klar wird, was dazu verlocken könnte, die eigene Position an der von Morris zu messen, scheint es sinnvoll, diese zunächst als nüchterne Definitionen vorzugeben.
Später wird man dann miterleben, wie sich diese Ansichten im Zusammenhang mit der jeweiligen Lebenssituation herausgebildet haben.
Wichtigstes Vorbild für alle vom Menschen geschaffene Schönheit ist für Morris die Natur. Zerstörung von Natur ist somit gleichbedeutend mit Zerstörung der Grundlage und des Ausgangspunktes von Schönheit. Die in der Natur vorgefundenen Muster soll der Künstler stilisieren und nachbilden. Auf die Formen der Natur sollten die Ornamente verweisen und somit die Schönheit der Natur für den Menschen auch dort sichtbar werden lassen, wo dieser von der Natur abgetrennt ist.
Auch der Wert oder Unwert von Architektur generell erweist sich nach Morris daran, ob sie sich dieser Zusammenhänge bewusst ist oder nicht. Zeit seines Lebens hat es Morris beunruhigt, dass sich Arbeit und Kunst in zwei voneinander getrennten Sphären abspielten, dass es zu einer scharfen Trennung von Hand- und Kopfarbeit gekommen war und Kopfarbeit ein höheres Prestige als Handarbeit genoss. All dies, so ergab sich für ihn durch einen „Blick in die Geschichte“, war nicht immer so gewesen. Es hatte Zeiten gegeben, da Handarbeit für die sie Ausführenden die Möglichkeit bot, das nach Morris‘ Meinung jedem Menschen innewohnende Bedürfnis nach Schönheit zu befriedigen. Das Mittelalter war seiner Meinung nach eine solche Zeit gewesen. Durch das Aufkommen des Kapitalismus war es zu Veränderungen in den Organisationsformen der Arbeit gekommen. Intellektuelle Kunst und angewandte Kunst hatten sich immer weiter voneinander entfernt. Die Verfeinerung der einen war mit einem zunehmenden Qualitätsverlust der anderen bezahlt worden. In diesem Prozess sah Morris eine Fehlentwicklung der Zivilisation, die verändert werden musste.
Es ist klar zu erkennen, wie auch er selbst durch den Blick in die Geschichte, zu dem er andere immer wieder aufforderte, von dem unauflösbaren Zusammenhang von sozial-politischer und ästhetischer Entwicklung überzeugt worden ist.
Als erstrebenswert sah er für die Zukunft einen Zustand der Gesellschaft an, in dem sich Handarbeit nicht mehr im Zeichen von Profit, das heißt hier rücksichtsloser und menschenverachtender Gewinnmaximierung, vollzieht, sondern dabei dem Bedürfnis des Menschen nach Assoziation Rechnung getragen wird, nämlich nach gemeinschaftlicher Arbeit, die an den tatsächlichen menschlichen Bedürfnissen orientiert ist, und bei der dann Kunst in die hergestellten Dinge eingeht. Unter solchen Bedingungen würde Kunst, die er zu seiner Zeit in die Isolation gerückt sah, sich wieder in den Alltag zurückholen lassen. Der Abgrund zwischen der Sphäre des Alltäglichen und der von ihr entrückten Sphäre der Kunst wäre so überbrückt. Die alltäglichen Dinge erhielten dann, seiner Meinung nach, das notwendige Maß an Schönheit zurück, würden zum Anlass der Freude für viele Menschen.
Die entscheidende Rolle im Prozess des Verfalls angewandter Künste, und damit des Verfalls der Schönheit der alltäglichen Dinge, spielten also nach Morris‘ Ansicht die für das Zeitalter des Kapitalismus charakteristischen Produktionsbedingungen: die Arbeitsteilung durch den immer mehr zunehmenden Einsatz der Maschine, die verhängnisvolle Mechanisierung der Arbeitsabläufe, deren Schnelligkeit. Der Mensch verwandelt sich so selbst in ein Werkzeug. Seinen Schönheitssinn in der Arbeit mit zu verwirklichen: dazu bleibt ihm keine Zeit mehr.
Trotz solcher Kritik an den negativen Auswirkungen des technischen Fortschritts ist Morris kein „Maschinenstürmer“. Er will Maschinen nicht grundsätzlich abgeschafft sehen. Er ist nur entschieden der Meinung, dass mit Maschinen keine Kunst, und keine Dinge, die Schönheit haben, hervorzubringen seien.
Unter den Produktionsbedingungen des Kapitalismus, so Morris‘ Kritik, würden Maschinen lediglich dazu benutzt, möglichst rasch große Mengen von Waren herzustellen. Diese Maschinisierung ergäbe sich beinahe zwangsläufig durch die sich aus dem freien Spiel von Angebot und Nachfrage innewohnenden Tendenz zur Verschwendung. Morris vergleicht die frühkapitalistische Wirtschaftsordnung seiner Zeit, deren Maxime „laisser faire, laisser aller“ war, mit einem ständig geführten Krieg. In seinem zunächst als Vortrag gehaltenen, 1886 erschienenen Aufsatz „Wie wir leben und wie wir leben könnten“ begründete er diese Vorstellung durch eine modellhafte Darstellung des Marktgeschehens wie folgt:
„Nach einem Ausblick auf den Wettbewerb der Nationen wollen wir nun die Konkurrenz unter den ‚Organisatoren der Arbeit‘, den großen Firmen, den Aktiengesellschaften, kurz gesagt, unter den Kapitalisten, noch etwas näher betrachten. Wir wollen uns ansehen, wie der Wettbewerb die Produktion stimuliert, denn hier trifft diese Behauptung zu. Aber was ist das für eine Produktion? Nun, die Produktion von etwas, das sich unter Gewinn verkaufen lässt oder sagen wir: die Produktion von Gewinnen, und beachtet doch bitte, wie ein Krieg dabei als Stimulanz des Handels wirkt. Nämlich so: Ein bestimmter Markt zeigt einen Bedarf nach Gütern. Es gibt, wollen wir einmal annehmen, hundert Hersteller dieser Art von Gütern. Jeder von ihnen würde gern diesen Markt für sich behalten und kämpft deshalb darum, sich einen möglichst hohen Marktanteil zu erobern. … Mit dem verständlichen Resultat, dass augenblicklich der Markt übersättigt wird. Der Markt ist überschwemmt, alle Wut der Fabrikanten wird zu kalter Asche. Kommt Euch das nicht wie Krieg vor? Wird Euch die Verschwendung dabei nicht klar: Verschwendung von Arbeitskraft, von Geschicklichkeit, von menschlichem Einfallsreichtum, kurz gesagt, die Verschwendung von Lebensenergie. Nun könnte jemand sagen, dadurch werden aber die Güter billiger. In gewissem Sinn stimmt das, aber nur scheinbar. Da die Löhne des gewöhnlichen Arbeiters die Tendenz haben, proportional mit den Preisen zu sinken, muss man auch dazu sagen, um welchen Preis die Güter billiger werden! Einfach ausgedrückt: auf Kosten der Tatsache des Betrugs am Verbraucher, auf Kosten der Verarmung des tatsächlichen Herstellers und zugunsten eines Glücksspielers, der Verbraucher und Hersteller als seine Milchkühe betrachtet.“
Es ist klar, dass damit ein polemisches und an den Zuständen des 19. Jahrhunderts orientiertes, die komplizierten Wirtschaftsmechanismen in manchen Punkten auch ungebührlich vereinfachendes Bild gezeichnet wird. Es ist aber auch klar, dass dabei Probleme eingekreist werden, die immer noch unsere Probleme sind. Und vielleicht ist das Wichtigste dies: der Zusammenhang zwischen Kunst und Arbeit im Sinn von Produktionsbedingungen wird von Morris immer wieder als untrennbar vor Augen geführt.
So betrachtet ist der Kapitalismus für Morris der Produzent von Hässlichkeiten: von zu vielen, zumeist hässlichen Dingen, von hässlichen Lebensumständen bestimmter Gruppen von Menschen. Einen Großteil der Maschinenwelt sieht er im Dienst der Verschwendung und der Hässlichkeit. Würde sich der Mensch auf seine „echten“ Bedürfnisse besinnen, wäre die ständige Weiterentwicklung der Technik wahrscheinlich nicht nötig. Maschinen möchte Morris vor allem dazu eingesetzt sehen, um den Menschen von solchen Arbeiten zu befreien, die mühsam und deswegen eigentlich dem Menschen unzumutbar sind.
Es sind dies kritische Einwände in einer vom Erfolg des technischen Fortschritts faszinierten Zeit, die erst wir, hundert Jahre später, recht zu begreifen und zu schätzen wissen. So hat Morris schon 1883 vor einer falsch verlaufenden Automation im Produktionsprozess gewarnt und auf mögliche Missstände hingewiesen, die uns heute erschreckend vertraut vorkommen:
„Wenn dieser Prozess (der zunehmenden Verbesserung der Maschinen) abgeschlossen ist, wird der erfahrene Arbeiter nicht mehr vorhanden sein. An seine Stelle werden Maschinen treten, aufgestellt und eingerichtet von gut trainierten und sehr intelligenten Experten und bedient von Männern, Frauen und Kindern, die für ihre Arbeit weder Geschicklichkeit noch Intelligenz nötig haben.“
Wenn Morris im Bereich der Arbeit von „sinnloser Schinderei“ zu „an den Bedürfnissen des Menschen orientierter Tätigkeit“ kommen möchte, so stellt er „menschenverachtendem Gewinnstreben“ den utopischen Begriff und die Zielvorstellung des „wahren Reichtums“ gegenüber. Er ist davon überzeugt: „Nicht all die Entdeckungen der Wissenschaft, nicht die gewaltige Organisation des Fabrikwesens und des Marktes werden den wahren Reichtum hervorbringen, solange das Ende und Ziel von alldem die Produktion von Profit für die privilegierten Klassen ist.“
Morris‘ Erwartungen als Sozialist im Hinblick auf eine klassenlose Gesellschaft haben sich im Laufe der Jahre verändert. Er scheint zunächst noch an einen reformerischen Übergang geglaubt zu haben. In einer zweiten Phase war er der Meinung, er werde einen grundlegenden, sich in einer Revolution vollziehenden Wandel der gesellschaftlichen Zustände noch erleben. Schließlich, gegen sein Lebensende hin, sah er die große Revolution, die ihm weiterhin unvermeidlich erschien, in weite Ferne gerückt.
Zwangsläufig musste sich ihm damit auch die Frage stellen, was denn den Kapitalismus, trotz der ihm offensichtlich innewohnenden Widersprüche und Konflikte, so lange am Leben erhalte. Von dieser Frage her fällt sein Blick auf den Expansionszwang des kapitalistischen Systems, der ja gerade in einem Land wie England, das zu dieser Zeit immer noch Gebiete als Kolonien annektierte und mit dem Begriff des „Commonwealth“ diesem Vorgang eine staatspolitische Sinngebung zu verleihen versuchte, besonders deutlich war. Indem Morris diesen Vorgang kritisch beobachtet und analysiert, liefert er außerordentlich anschauliche Darstellungen dessen, was Kolonialsysteme bewirken:
„Schaut, wie die ganze kapitalistische Welt ihren langen Arm gegen die barbarischen Länder hin ausstreckt, wie sie sie vereinnahmt, sie an sich reißt, obwohl die Bewohner dieser Länder nicht Teil des Wettbewerbssystems werden wollen, ja, in vielen Fällen sogar lieber in der Schlacht sterben, als dass sie sich dieses System aufdrängen lassen würden. So pervers benehmen sich diese Wilden gegenüber den Segnungen der Zivilisation, die ihnen doch nichts Schlimmes antun will (aber auch nichts Besseres) als sie nur in ein eigentumsloses Proletariat zu verwandeln! Und weshalb geschieht all dies? Zur Ausbreitung der abstrakten Idee von Zivilisation, aus bloßer Wohltätigkeit, zur Ehre und zum Ruhm der Eroberer? Keineswegs, es geschieht zur Öffnung neuer Märkte, die all den neuen, durch Profit entstandenen Reichtum aufnehmen sollen, der damit jeden Tag größer wird. Es geschieht, um neue Möglichkeiten zu schaffen zur Verschwendung unserer Arbeitskraft und unseres Lebens.“
Jene Verschwendung ist es nun auch, die den Menschen im Zeitalter des sich immer weiter ausbreitenden und weiter differenzierenden Maschinenwesens dazu verleitet, die Erde selbst nicht nur hinsichtlich ihrer Bodenschätze auszubeuten, sondern mit der Umwelt, der Lebensgrundlage der Menschheit, fahrlässig umzugehen. Gier nach immer mehr Besitz, nach Verfügungsgewalt über immer mehr Dinge, ist ein anderer Grundzug der falsch verlaufenden Entwicklung von Zivilisation. Man könnte auch sagen, dass so noch einmal psychologisch-anthropologisch gefasst wird, was zuvor schon ökonomisch-politologisch ausgedrückt worden ist. Es ist vielleicht das größte Verdienst von Morris, auf die Bedrohung der Existenzgrundlage der Menschheit durch die dem Menschen innewohnende Gier hingewiesen und dabei ständig den Zusammenhang zwischen Ethik und Ästhetik im Auge behalten zu haben. Der Hinweis auf dieses Junktim ist wichtiger denn je.
Wie viele Menschen sich ein solches Bewusstsein aneignen und ob es sich als Grundhaltung bei allen Konflikten und Herausforderungen durchsetzt, könnte über den Fortbestand der Menschheit entscheiden.

Der 2006 verstorbene Schriftsteller veröffentlichte 1983 seine große Biographie über Morris. Er besorgte auch mehrere Auflagen einer kleinen Textausgabe „Wie wir leben und wie wir leben könnten“ (Diederichs, DuMont, Büchergilde Gutenberg)  – unter seinem richtigen Namen, während seine zahlreichen anderen Bücher unter dem Autorennamen Frederik Hetmann erschienen sind.

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