Anti-parlamentarisch

Die meisten Menschen, die diese Zeitung in die Hand bekommen, werden davon wissen, dass der Commonweal als Organ der Socialist League für das Fernhalten vom Parlament eintritt; dass die Socialist League weder Kandidaten aufstellt noch ihren Mitgliedern vorschlägt, diesen oder einen anderen Kandidaten zu wählen; dass die Leser dieser Spalten dennoch das Parlament erwähnt finden, aber niemals mit Respekt und meist nur, um auf die korrumpierte Moral in diesen letzten Tagen des Kapitalismus zu zeigen. Unsere Politik ist, kurz gesagt, das Fernhalten von allen Versuchen, die konstitutionelle Regierungsmaschinerie zu benützen, während einigen Sozialisten dies als das einzige Mittel erscheint, um uns bis an den Beginn der sozialen Revolution zu bringen. Unsere Leitlinie kommt einigen rein verrückt vor und vielleicht können andere sie nicht verstehen. Lasst uns also versuchen, sie zu erklären und überlassen wir es anderen, uns Narren zu nennen wenn sie es durchaus zu meinen müssen, nachdem sie unsere Erklärung angehört haben.

Was ist das Ziel sozialistischer Propaganda? Sicher versucht sie, allen arbeitenden Schichten klar zu machen, dass die (sogenannte) Gesellschaft, wie sie jetzt existiert, auf der Beraubung der „unteren“ Klassen durch die „oberen“ Klassen, der Nützlichen durch die Nutzlosen, der Vielen durch die Wenigen, begründet ist; dass solange dieses Vorrecht zum Berauben weiterbesteht, jenen, die alle nützliche Arbeit verrichten, fortwährend die schönen Dinge des Lebens vorenthalten werden, von denen man sagt, dass sie den Unterschied zwischen zivilisierten Menschen und Wilden ausmachen; während ihr Leben um so viel arbeitsreicher und vergnügungsloser ist als das Leben der meisten Wilden. Kurz, tief gehende Unzufriedenheit mit ihrer Lage und ein Sinn für die Unfairness ist das erste, was wir dem Geist der Arbeiter einprägen wollen.

Als nächstes wollen wir ihnen klar machen, dass diese Lage als Sklaven, die Unfairness, die sie so elend und bitter macht, keine notwendige Bedingung für die ist, die leben um den Reichtum des Landes produzieren (ihre einzigen Bewohner, die die Chance haben, ehrenwert zu sein); dass diese Männer und Frauen der Arbeit auch arbeiten, leben und nützlich sein können, wenn sie füreinander arbeiten; damit ist gesagt, für ihre Freunde und nicht für ihre privilegierten Herren, d.h. ihre Feinde.

Wiederum haben wir es den Arbeitern klar zu machen, dass dieses Vorrecht für Wenige, die Vielen zu einem elenden Leben zu zwingen, nur eine Umschreibung des Ausdrucks der Institution des Privateigentums ist. Wer sagt, die Privilegien abschaffen zu wollen, sagt damit, die Institution des Privateigentums abschaffen zu wollen. Und wer die Institution des Privateigentums verteidigen will, verteidigt damit die Vorrechte, die riesige Ungleichheit von Reich und Arm, das daraus folgende Elend aller wirklich Arbeitenden und die daraus folgende Erniedrigung der Menschen aller Klassen. Machen wir es klar verständlich, dass nur zwei Systeme von Gesellschaft möglich sind, Sklaverei und Kommunismus; alle die das ABC des Sozialismus kennen, wissen dass es sich so verhält. Unser Ziel ist der Kommunismus oder die Abschaffung des individuellen Eigentums am Reichtum der Gesellschaft, das Ziel aller wirklichen Sozialisten.

Wird das Parlament uns helfen, dieses Ziel zu erreichen? Nehmt eine andere Frage als Antwort auf diese erste Frage: Was ist das Ziel des Parlaments? Die Erhaltung der Privilegien, der Gesellschaft von Reich und Arm, der Gesellschaft der Ungleichheit und dem daraus folgenden Elend der Arbeiter und der Erniedrigung aller Klassen.

Wenn das sein Ziel ist, der Grund für seine Existenz, dann wird es sein Ziel sicher nur dann gegen unseres austauschen, wenn es dazu gezwungen wird oder aber wenn es darin getäuscht wird.

Kann es dazu gezwungen werden? Nun, das Parlament steht über der Exekutive, d.h. der brutalen Gewalt, die die nützlichen Klassen zwingt, auf ihre elende Weise zu leben. Es wird diese brutale Gewalt anwenden, solange es kann, um diese Klassen untergeordnet zu halten. Wenn es das nicht mehr länger kann, wird es praktisch aufhören zu existieren. Nun sage ich für meinen Teil, wie ich immer gesagt habe, dass im letzten Schritt der Revolution die Sozialisten die Form des Parlaments nützen können, um den Widerstand der Reaktionäre zu schwächen, indem sie sie formal illegal stellen und so den bewaffneten Arm unwirksam machen, auf dem die Macht des Parlaments und der Gesetzgebung letztlich beruht. Aber das kann erst im letzten Akt geschehen, wenn die Sozialisten stark genug sind das Parlament zu erobern, um ihm und dem Privileg ein Ende zu machen und die Revolution wird gemacht werden oder wenigstens nahe sein. Bis dahin ist klar, dass wir das Parlament nicht zwingen können, sich selbst ein Ende zu setzen oder tatsächlich irgendetwas zu tun, was nicht der Stabilität des Privilegs und der Sklaverei der Arbeiter dient.

Nun, also, können wir das Parlament zum Sozialismus, zum Kommunismus hin überlisten? Das scheint mir ein allzu hoffnungsloses Unternehmen. Wir würden es nicht schwer haben – vielleicht – soviel Druck zu machen, dass es Maßnahmen zur „Verbesserung des Loses der arbeitenden Klassen“ beschließt. Aber was wird das bedeuten, außer dass den Sozialisten eine Schüssel mit Futter vorgesetzt wird? – Wenn sie da nicht aufpassen –wer wird bemerken, dass sie, anstatt selbst das Parlament zu benützen, von ihm benützt werden? Lasst uns nicht vergessen, dass das Wissen über den Sozialismus mit großer Geschwindigkeit zunimmt und dass sogar Parlamentsmitglieder und ihre Strippenzieher bald wissen werden, was er bedeutet und dann ihren Erfindungsgeist anstrengen werden, um allen Maßnahmen, die äußerlich sozialistisch aussehen, den Stachel zu ziehen. Oder sie werden schließlich und vielleicht für lange, die harte Linie fahren und alles ablehnen, was nur nach Sozialismus aussieht. Der misslungene Versuch der parlamentarischen Sozialisten, den Star zu übernehmen, sollte ihnen eine ausreichende Lektion der Macht der Reaktionäre (Liberale wie Konservative) sein und der Art, wie sie sich dagegen wehren werden, in die Ecke gedrängt zu werden.

Also, wenn wir das Parlament nicht zwingen können, seine Funktion als Verteidiger des Privilegs als beendet zu erklären, da es offensichtlich kraftstrotzend am Leben ist; wenn wir es nicht dahin bugsieren können, genau die Sache zu fördern, die es am meisten hasst und am meisten Grund hat zu hassen – den Sozialismus eben – was können wir tun? Nichts, sagen unsere parlamentarischen Freunde. Ich kann dem nicht zustimmen. Ist es nichts, sich lebendig zu erhalten und die Unzufriedenheit mit der niederträchtigen Sklaverei von heute zu mehren? Ist es nichts, den Unzufriedenen zu zeigen, wie sie selbst diese Sklaverei zerstören können? Ist es nichts, ihnen aufzuzeigen, was jenseits der Periode des Kampfes liegt und wie die Arbeiter glücklich leben können, wenn sie nicht mehr aller Freuden des Lebens beraubt werden durch die Müßiggänger, die von ihrer Arbeit leben?

Darüber hinaus: die Ereignisse der letzten zwölf Monate erzeugen einen anderen Geist unter der Masse der Arbeiter und sie beginnen jetzt Erfahrungen zu sammeln, sich ernsthaft zusammenzuschliessen. Es gibt jetzt viel mehr Hoffnung als vor fünf Jahren, ihre Aufmerksamkeit weg vom Parlament ihrer Herren auf ihre eigene Organisierung lenken zu können. Kurz: die wirkliche Waffe der Arbeiter gegen das Parlament ist nicht die Wahlurne, sondern der Boykott. Ignoriert das Parlament, lasst es allein und stärkt eure eigenen Organisationen, um euch in der Gegenwart direkt mit euren Herren auseinander zu setzen. Lernt jetzt und für die Zukunft eure Angelegenheiten selber in die Hand zu nehmen, habt das ständig vor Augen und arbeitet für den Tag, an dem ihr die große Waffe benützen werdet, die euch genau eben die elende Lage der unbelohnten Plackerei in die Hand gibt: die Waffe des Generalstreiks. Schaut darauf und lasst die Politiker Politiker wählen, lasst die Oberklasse und die Mittelklassen selbst für sich die Mitglieder auswählen für das Komitee zur Aufrechterhaltung der Sklaverei, wie der richtige Name für das Unterhaus lauten sollte und ihr werdet sehen, welchen Schrecken ihr in den Herzen der scheinheiligen Heuchler auslöst, die sich Staatsmänner nennen. Ein Schrecken, der durch die Ereignisse vollstens eingelöst werden wird, denn ein solcher antiparlamentarischer Boykott wird eure Entschlossenheit zeigen, frei zu sein und gibt euch das Instrument, um eure Freiheit zu erreichen.

„Anti-Parliamentary“, Commonweal vom 7. Juni 1890
Eigene Übersetzung, 2013

Kommentar des Übersetzers:  Morris schrieb diesen Artikel bevor sich die Linie des Parlamentarismus in der englischen Arbeiterbewegung durchsetzte, bevor es die ersten Abgeordneten gab. Ein unterschwellig zorniger Ton (und eine gewisse Verzweiflung) ist spürbar, denn für Morris schien wohl ein Zug abzufahren, der die von ihm mit entfachte sozialistische Begeisterung auf ein totes Gleis ziehen würde. Die Argumentation von Morris ist von strenger und unerbittlicher Logik und baut auf dem Gegensatz von Arbeit und Kapital auf. Er konnte nur einen Blick in die Zukunft wagen. Aber Logik ist in den gesellschaftlichen Kämpfen nicht alles und die Zukunft kann immer anders kommen als gedacht. – Und heute nach so langer Zeit? Nach einer Wahl ist sicher ein passender Moment, über Sinn und Zweck der Beteiligung am Parlament nachzudenken. Die Partei „DIE LINKE“ setzt auf das Parlament und führt die Tradition ihrer Vorgänger fort. Verschlingt die Energien vieler sozialistisch denkender Menschen und enttäuscht viele andere, die von „Linken“ erhoffen, dass sie endlich einmal was eigenes zustande bringen. Überraschungen bietet sie nicht, sondern bestätigen die Vorahnung von William Morris, dass Sozialisten im Parlament eher von diesem benützt werden, als dass sie selbst das Parlament nützen, um für die Arbeiter Vorteile zu gewinnen und ihr Bewusstsein der Lage zu schärfen.

Dazu auch: Rosa Luxemburg über Sozialdemokratie und Parlamentarismus, 1904:
http://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1904/12/sozdemparl.htm

Dieser Beitrag wurde unter Texte von William Morris veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.