Maria Mies: „Ein Arbeitsbegriff, in dem Last und Lust nicht mehr voneinander getrennt sind…“

Vorbemerkung: Keine gesellschaftliche Frage kann heutzutage mehr ohne Berücksichtigung der Sicht von Frauen gedacht oder gelöst werden. Das gilt insbesondere für die Arbeit. Durch den Feminismus wurde ein Erkenntnisfortschritt gewonnen, der in vielem über die Zeit von Morris und sicher auch Morris selbst hinausgeht. Deshalb sind wir dem rotpunktverlag aus Zürich sehr dankbar für die Genehmigung des Abdruck dieses Auszugs aus Patriarchat und Kapital von Maria Mies. Nach unserer Meinung ist da sehr viel Übereinstimmendes zwischen Maria Mies und William Morris. Sie sollten dieses Buch erwerben um darin weiter zu lesen!

Aus: Patriarchat und Kapital,
7. Auf dem Weg zu einer neuen Gesellschaft

Ein anderer Arbeitsbegriff

Der Umsetzung dieser Einsichten und Prinzipien in gesellschaftliche Praxis stehen grosse theoretische und praktische Hindernisse entgegen. Eins der wichtigsten theoretischen ist der heute gültige Arbeitsbegriff. Zwar haben die neuen sozialen Bewegungen ihre utopischen Hoffnungen in dem Slogan zusammengefasst: Anders leben, anders arbeiten. Aber sie haben bisher keine durchgängige Kritik des Arbeitsbegriffs geleistet. Was den herrschenden Arbeitsbegriff in den kapitalistischen wie in den sozialistischen Ländern prägt, ist die Tatsache, dass Arbeit nur als notwendige Last angesehen wird, die so weit wie möglich durch die Entwicklung der Produktivkräfte, durch Technik und Maschinen reduziert werden soll. Freiheit, menschliches Glück, die Verwirklichung unserer schöpferischen Fähigkeiten, Freude an der Natur, am Spiel von Kindern, freundliche, warme Beziehungen zu den Mitmenschen, Liebe und Freundschaft – all dies ist ausgeschlossen aus dem Reich der Arbeit, aus dem „Reich der Notwendigkeit“, und ist möglich nur im Reich der Nicht-Arbeit, die als „Reich der Freiheit“ angesehen wird. Alle Arbeit, die notwendig ist, um die menschlichen Grundbedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Wohnen) zu befriedigen, gilt als notwendige und gerade darum lästige Arbeit. Besonders diese notwendige Arbeit soll von Maschinen übernommen werden. Nach diesem Arbeitsbegriff wird „Fortschritt“ definiert als die fortschreitende Verringerung der notwendigen Arbeitszeit und die Zunahme der Freizeit. In dieser „Freizeit“ sollen dann die Menschen die „höheren“ menschlichen Bedürfnisse (nach BiIdung, Kultur, Kreativität, Glück, Liebe usw. befriedigen). In beiden Utopien, der bürgerlichen wie der marxistischen, verrichten Maschinen alle notwendige Arbeit, und die Menschen können sich konsumptiven und sogenannten kreativen Tätigkeiten hingeben.

Ehe wir uns einem neuen öko-feministischen Arbeitsbegriff zuwenden, mag es nützlich sein, den Marx’schen Arbeitsbegriff noch einmal genauer anzusehen, denn im Unterschied zum bürgerlichen Arbeitsbegriff sieht Marx in der Arbeit nicht nur die notwendige Tätigkeit unserer Existenzsicherung, sondern auch den Motor, der die Menschheit zum Übergang zur wahren kommunistischen Gesellschaft antreiben wird. Arbeit hat also auch eine utopische Dimension. Im dritten Band des „Kapital“ schreibt Marx:

„Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äussere Zweckmässigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muss es der Zivilisierte, und er muss es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als Basis aufblühn kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.“ (MEW, Bd.25: 828)

Der wichtigste Gedanke in diesem Zitat ist der, dass das „Reich der Freiheit“ nicht kommen wird, ehe die Arbeit, die „durch Not und äussere Zweckmässigkeit bestimmt ist“, nicht aufhört. Darum ist es nach Marx das Ziel aller ökonomischen, politischen und wissenschaftlichen Bemühungen, den Arbeitstag zu kürzen als Voraussetzung für die Ankunft des Reiches der Freiheit, oder wie Alfred Schmidt schreibt: „Das Problem der menschlichen Freiheit reduziert sich für Marx auf das der freien Zeit“ (Schmidt, 1978: 146). Die Verkürzung der notwendigen Arbeitszeit wird auch dann noch ein zentrales gesellschaftliches Ziel bleiben, wenn das Privateigentum und die Warenproduktion abgeschafft sind. Marx schreibt darüber folgendes in den „Grundrissen“:

„Gemeinschaftliche Produktion vorausgesetzt, bleibt die Zeitbestimmung natürlich wesentlich. Je weniger Zeit die Gesellschaft bedarf, um Weizen, Vieh etc. zu produzieren, desto mehr Zeit gewinnt sie zu anderer Produktion, materieller oder geistiger. Wie bei einem einzelnen Individuum, hängt Allseitigkeit ihrer Entwicklung, ihres Genusses und ihrer Tätigkeit von Zeitersparnis ab. Ökonomie der Zeit, darein löst sich schliesslich alle Ökonomie auf.“

Die Verringerung der „gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit“ und der Sprung ins „Reich der Freiheit“ werden durch zwei Prozesse bewirkt: 1) die stets fortschreitende Entwicklung der Produktivkräfte, 2) die Abschaffung des Privateigentums, der Klassengesellschaft und durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die freie Assoziation der Produzenten. Der erste Prozess wird nicht nur zur Reduzierung der notwendigen Arbeit führen, sondern auch zur Rationalisierung der assoziierten Produzenten selbst, deren Herrschaft über die „blinden Naturkräfte“ solcherart enorm erweitert wird. Diese „Rationalisierung“ bedeutet aber nicht nur Herrschaft und Kontrolle über die äussere Natur, sondern mehr noch, die Unterdrückung unserer „Instinkte“, der blossen „Natur“ oder der „blinden animalischen Natur“ im Menschen. Diese Kolonisierung der „niederen“, „wilden“ Natur im Menschen – und ausserhalb – ist sowohl eine Voraussetzung für die wie eine Folge der fortschreitenden Entwicklung von Wissenschaft und Technik, oder, wie Marxisten sagen, der Produktivkräfte. Im „Anti-Dühring“ schreibt Engels über das Verhältnis Mensch–Natur in der kommunistischen Utopie:

„Mit der Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft ist die Warenproduktion beseitigt und damit die Herrschaft des Produkts über die Produzenten. Die Anarchie innerhalb der gesellschaftlichen Produktion wird ersetzt durch planmässige Organisation. Der Kampf ums Einzeldasein hört auf. Damit erst scheidet der Mensch, in gewissem Sinn, endgültig aus dem Tierreich, tritt aus tierischen Daseinsbedingungen in wirklich menschliche. Der Umkreis der die Menschen bis jetzt umgebenden Lebensbedingungen, der die Menschen bis jetzt beherrschte, tritt jetzt unter die Herrschaft und Kontrolle der Menschen, die nun zum ersten Male bewusste, wirkliche Herren der Natur, weil und indem sie Herren ihrer eigenen Vergesellschaftung werden“.

Während Engels den Sprung ins Reich der Freiheit von der Abschaffung des Privateigentums und dem weiteren Fortschritt der Wissenschaften erwartete, war Marx etwas skeptischer, denn er erwartet nicht, dass auch die Höchstentwicklung des technischen Fortschritts die Arbeit als Last, das Reich der Notwendigkeit ganz abschaffen würde.
Marx war mehr ein Materialist als Engels in dieser Beziehung, doch beide Männer waren optimistisch und idealistisch in Bezug auf das Potential von Wissenschaft und Technik, Natur und Gesellschaft zu transformieren, insbesondere in Bezug auf die Überwindung der verschiedenen Arbeitsteilungen, die sie in den Frühschriften als eine der Hauptursachen der menschlichen Entfremdung ansahen: die Arbeitsteilung durch die Klassengesellschaft, die Arbeitsteilung im kapitalistischen Produktionsprozess, die Entfremdung des Arbeiters von seinem Produkt und die Arbeitsteilung zwischen Kopf und Hand. Die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern erwähnen sie nicht, denn sie betrachten sie ja als naturwüchsig. Ihre kommunistische Utopie ist eine, in der die notwendige Arbeit fast auf Null reduziert ist, wo der Mann/Mensch Freizeit in Fülle hat, um sich selbst zu verwirklichen durch die Entwicklung seiner reichen Individualität.

Ich habe mich etwas länger bei dem Arbeitsbegriff von Marx und Engels und ihrer Sicht von Technik, Wissenschaft und Naturbeherrschung und ihrer Vision einer zukünftigen Gesellschaft aufgehalten, weil diese Ideen auch heute noch von vielen Sozialisten, auch sozialistischen Feministinnen, von Grünen und Alternativen geteilt werden. Dass sie aber im Widerspruch zu dem Ziel einer ökologischen und nicht-patriarchalischen Gesellschaft stehen, wollen viele nicht sehen. Sie wollen „zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen“ (vgl. Sarkar, 1988): die Natur retten und gleichzeitig das Industriesystem mit seinem materiellen Warenreichtum erhalten. Vor allem die Auffassung, dass grenzenloser Fortschritt der Produktivkräfte (Wissenschaft und Technik) eine Art naturgesetzliche Triebkraft sind, die die menschliche Gesellschaft von selbst verändern wird, ist für viele ein Glaubenssatz. Sie gründen ihre Entwürfe für eine andere Gesellschaft immer noch auf die „Wunder“ der Technik und auf die technische Verringerung der notwendigen Arbeit. So ist zum Beispiel für Andre Gorz bereits jetzt die Zeit gekommen, spornstreichs in das Marx’sche Paradies, das heisst das „Reich der Freiheit“ voranzuschreiten, weil Mikroelektronik, Computer, Roboter und Automaten die durchschnittliche notwendige Lebensarbeitszeit auf fast 20’000 Stunden reduzieren können (Gorz, 1984). Das einzige Problem, das sich dann noch stellt, ist die Frage, wie diese übrig gebliebene Arbeit zu verteilen und wie die Fülle der freien Zeit kreativ zu gestalten sei. In ähnlicher Weise argumentiert Huber, der keine Alternative zur Industriegesellschaft sieht (Huber, 1982).
Was Männer wie Gorz und Huber jedoch systematisch aus ihrer Utopie ausschliessen, ist die Unterseite des Paradieses, nämlich die Hölle, auf der dieses Paradies erst ermöglicht wurde und weiter ermöglicht wird. Einen Einblick in diese Hölle geben uns die Analysen der Arbeit von Frauen in den Elektronikfabriken, in den Weltmarktfabriken Südostasiens, im Agrobusiness, im sogenannten informellen Sektor in der „Dritten Welt“. Es sind vor allem Frauen, die häufig unter zwangsarbeitsmässigen Bedingungen in diesem Untergrund des Paradieses arbeiten und durch ihre niedrigen Löhne die Produktivitätsfortschritte ermöglichen, auf die die bürgerlichen und linken Technopatriarchen ihre Utopie gründen. Doch selbst in den Industrieländern hat dieses Paradies, wie Claudia von Werlhof aufgezeigt hat, eine weibliche Hölle als Untergrund, in der Arbeit zunehmend hausfrauisiert wird (v. Werlhof, 1983).

Wie sollte nun ein öko-feministischer Arbeitsbegriff aussehen? Zunächst einmal müssen wir die Unterscheidung zwischen gesellschaftlich notwendiger Arbeit und Freizeit genauso zurückweisen wie die Ansicht, dass Selbstverwirklichung, Freiheit und Glück nur jenseits der Sphäre der notwendigen Arbeit zu erreichen seien, und dass die Voraussetzung dafür die Reduzierung, beziehungsweise Abschaffung der notwendigen Arbeit sei.
Für Frauen kann dies kein positiver Arbeitsbegriff sein. Denn wenn wir statt des Modellarbeiters, der diesem Arbeitsbegriff entspricht, nämlich der männliche, weisse Industriearbeiter in Europa/USA, eine Mutter nehmen, dann können wir unmittelbar sehen, dass ihre Arbeit nicht in den herrschenden Arbeitsbegriff passt. Ihre Arbeit ist notwendig, kann aber durch Maschinen nicht wesentlich verkürzt werden, denn Kinder lassen sich in ihrem Wachstum nur schwer einem Maschinenrhythmus unterwerfen. Ausserdem ist ihre Arbeit immer beides: eine Last und eine Lust, eine Mühe und eine Quelle von Freude und Kraft. Eine ähnliche Einheit von Arbeit als Lust und Last kann noch bei Kleinbauern und Handwerkern beobachtet werden, deren Arbeit noch nicht total unter das Diktat der Warenproduktion und Rentabilität subsumiert ist. Zeiten höchster Arbeitsbelastung sind dort auch häufig Zeiten höchster Lebensintensität. Ich erinnere mich an die Zeiten des Heumachens, des Kornerntens, des Dreschens auf unserem Bauernhof als glückliche Zeiten.

Eine der Hauptquellen der Lust bei diesen lästigen Arbeiten ist die Tatsache, dass die Arbeitsprozesse, bei denen Menschen noch nicht ganz durch Maschinen ersetzt sind, menschlich-gesellschaftliche Beziehungen schaffen, dass Menschen andere Menschen brauchen, um ihr Leben herzustellen und zu erhalten. Freiheit von notwendiger Arbeit bedeutet im Endeffekt aber auch Freiheit von menschlichen Beziehungen. Die Kälte, Indifferenz und das Unglück der Industriegesellschaften ist ein direktes Resultat der Übertragung aller notwendigen Arbeit an die Maschinen.
Ein neuer Arbeitsbegriff kann ausserdem nicht mehr von der Herrschaft des Menschen über die Natur ausgehen, sondern muss dieses Herrschaftsverhältnis durch ein reziprokes Verhältnis ersetzen, durch Mitwirkung mit der Natur, von der wir ja ein Teil sind. Besonders für Frauen ist ein herrschaftsbezogener Arbeitsbegriff selbstzerstörerisch, vor allem dann, wenn er auf den eigenen Körper angewandt wird. Dann „herrscht“ der Kopf über die unteren Körperteile, die zur „Natur“ erklärt werden;er „besitzt“ den Körper. Im Begriff der Mitwirkung mit der Natur ist auch angedeutet, dass die Natur nicht nur als toter Rohstoff angesehen wird, sondern als etwas Lebendiges, das eine eigene „Seele“ hat.“
Ein Arbeitsbegriff, in dem Last und Lust nicht mehr voneinander getrennt sind, führt notwendigerweise auch zu einer anderen Ökonomie der Zeit. In einer solchen Zeitökonomie kann es nicht mehr nur um die Verkürzung der Arbeitszeit oder des Arbeitslebens als Vorbedingung für Freiheit und Glück gehen. Die Vision einer Gesellschaft, in der fast alle Zeit „Freizeit“ ist, ist vor allem für Frauen eine Horrorvision. Nicht nur, weil Hausarbeit, Beziehungsarbeit und andere Nicht-Lohnarbeit nie in die herrschende Ökonomie der Zeit einbezogen wurden, wenn es um Arbeitszeitverkürzung ging, sondern vor allem auch darum, weil es Frauen sein werden, die dann den müssigen Männern ein Gefühl von Sinn, Realität und Leben vermitteln sollen. Denn von der berühmten Kreativität, die ja mit mehr Freizeit kommen soll, ist bei den Männern weiss Gott nicht viel zu sehen.
Ein neuer öko-feministischer Arbeitsbegriff müsste auch einen anderen als den herrschenden mechanischen, linearen Zeitbegriff zur Folge haben. Dieser Zeitbegriff müsste an den natürlichen Rhythmen und Kreisläufen des Lebens orientiert bleiben. Wenn Lust wieder Teil der lästigen Arbeit werden soll, dann müssten sich alle Arbeitsprozesse verlangsamen, gemächlicher werden. Dann wären auch ein langer Arbeitstag und ein langes Arbeitsleben kein Fluch, sondern bedeuteten menschliche Erfüllung und Glück.
Ein neuer Arbeitsbegriff müsste ferner die Beibehaltung der Arbeit als direkte und sinnliche Interaktion mit der Natur und mit lebendigen Organismen beinhalten. Im herrschenden Arbeitsbegriff gilt direkte sinnliche Berührung mit der Natur als „rückständig“ und soll möglichst eliminiert werden. Immer mehr Maschinen schieben sich zwischen den menschlichen Körper und die Natur (vgl. obiges Marxzitat). Diese Maschinen geben dem Menschen zwar Herrschaft über die Natur, sie zerstören aber auch zunehmend seine eigene Sinnlichkeit, die ja an seinem Körper und dessen Fähigkeit, mit anderen lebenden Körpern zu kommunizieren, hängt. Damit wird aber auch die Fähigkeit für Genuss, für sinnliche und erotische Befriedigung zerstört. Da unser Körper aber stets die Grundlage für Genuss und Glück sein wird – wir sind eben keine reinen Geister oder Maschinen –, müssen wir daran festhalten, dass die sinnliche, körperliche Interaktion mit der Natur Bestandteil der Arbeit bleibt. Ausserdem müsste in einem öko-feministischen Arbeitsbegriff darauf geachtet werden, dass die Verausgabung von Energie in der Arbeit im Gleichgewicht steht mit der Aufnahme von Energie durch Essen. Dieses Gleichgewicht ist zur Zeit in den Industrieländern absolut gestört. Es ist vor allem bei den Männern gestört. Diese grossen, dicken Männer verausgaben im Arbeitsprozess, der ja zunehmend von Maschinen geleistet wird, nur einen Bruchteil der Energie, die sie durch Essen und Trinken aufnehmen. Das ist ein weiterer Grund dafür, dass sie diese Energie durch Gewalttätigkeit vor allem gegen Frauen abreagieren. Frauen sind nicht unschuldig an der wachsenden körperlichen Differenz zwischen Männern und Frauen, denn sie sind es, die als Mütter und Hausfrauen die Männer so herausfüttern, dass diese sehr viel stärker sind als sie selbst. Schon allein um die Männergewalt zu bekämpfen, müssen Feministinnen daran interessiert sein, dass in der Arbeit der grösste Teil der Energie verausgabt wird, der durch die Nahrung aufgenommen wird, und umgekehrt, dass nicht mehr Energie konsumiert wird, als durch Arbeit verausgabt wird. Alles, was darüber hinausgeht, ist gefährlich für Frauen und zerstörerisch für die Natur.
Ein neuer Arbeitsbegriff muss ferner daran festhalten, dass Arbeit einen Sinn und einen Zweck behält. Das heisst, es reicht nicht, dass die Verausgabung von überschüssiger Energie und sinnliche Interaktion mit der Natur durch Sport und Hobbies gewährleistet werden. Hobbies und Sport können auf Dauer den Menschen nicht das Gefühl vermitteln, dass ihr Leben und ihr Arbeiten einen Sinn haben. Nur wenn wir wissen, dass unsere Arbeit notwendig ist, dass sie für uns und andere nützlich ist, werden wir nicht am Sinn unseres Lebens verzweifeln. Die Herstellung von blossem Krimskrams, von Luxusprodukten oder gar von schädlichen Produkten (Rüstung) können dieses Gefühl der Notwendigkeit, des Sinns und der Nützlichkeit nicht vermitteln. Ein ganz grosser Teil der heutigen Produktion ist aber in diesem Sinne überflüssig, schädlich und sinnlos.

Eine andere Wirtschaft und Gesellschaft 

Es ist klar, dass ein solcher Arbeitsbegriff den Rahmen einer Wirtschaft und Gesellschaft sprengt, deren zentrales Ziel Kapitalakkumulation und stets steigender Warenausstoss ist und in der die Erhaltung des unmittelbaren Lebens nur ein Nebeneffekt der unendlichen Geldvermehrung ist. Ein anderer Arbeitsbegriff bedingt eine andere Wirtschaft. Wie könnte sie aussehen? Diese neue Wirtschaft müsste wieder eine „moral economy“ werden, eine moralische Wirtschaft, die nicht mehr auf der sogenannten Rationalität des Geldes und auf dem angeblich objektiven Mechanismus von Angebot und Nachfrage beruht, sondern auf bestimmten ethischen Prinzipien. Einige dieser Prinzipien wurden vorhin schon genannt: Absage an Ausbeutung, Anerkennung der Endlichkeit unserer Erde, Absage an dualistische Abspaltungen und Kolonisierungen. Zentrales Ziel einer solchen Wirtschaft muss wieder die unmittelbare, nicht über die Warenproduktion vermittelte Herstellung und Erhaltung des Lebens sein. Wir nennen das auch Subsistenzproduktion oder Produktion des Lebens (v. Werlhof u.a., 1983).
Eine solche Wirtschaft muss notwendigerweise die natürlichen Kreisläufe respektieren, denn sonst können in einer bestimmten Region weder die Menschen noch die anderen Lebewesen überleben. Zwar leben die Menschen von Tieren und Pflanzen, aber sie müssen lernen, dies wieder in reziproken Verhältnissen zu tun. Wo sie etwas nehmen, müssen sie wieder etwas geben. Das erste grundlegende Erfordernis einer solchen Wirtschaft ist, dass sie in Bezug auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse unabhängig ist von anderen Wirtschaftsregionen. Eine solche Wirtschaftsregion wird häufig nicht identisch sein mit dem Territorium eines Nationalstaates. Kriterium für die Begrenzung solcher Regionen müsste die Frage sein, ob sich innerhalb dieser Region sich selbst erhaltende Überlebenssysteme aufbauen liessen, und ob sie für die dort lebenden Menschen überschaubar wären. Solche Regionen wären zu einem hohen Grade selbstversorgend oder autark. Nur Gesellschaften, die in Bezug auf die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse unabhängig sind von anderen Regionen, können sich langfristig vor Hunger, Armut und politischer Erpressung schützen.
Da das Hauptanliegen der Ökologiebewegung jedoch die Erhaltung der Lebensgrundlagen und die Rückkehr zu natürlichen Kreisläufen ist, muss das Land die Basis für eine Veränderung der Wirtschaft sein. Jedes ökologische Programm müsste daher eigentlich von der Umgestaltung des heutigen Stadt-Land-Verhältnisses ausgehen. Denn es sind ja die urbanen Zentren, die sich überall auf Kosten des Landes und der Ökologie entwickelt haben. Selbst die kapitalistische Landwirtschaft, die die Ökologie zerstört, ist an einer städtischen Käuferschicht orientiert.
Doch selbst viele, die einen Ausweg aus der Krise suchen, bleiben weiterhin fixiert auf die Perspektive von Menschen, die in Städten leben, einer wie immer gearteten Lohnarbeit nachgehen, die bei Erwerbslosigkeit vom Staat alimentiert werden und für die das Land nur aus der Sicht des Touristen und des Konsumenten „gesunder Nahrung“ interessant ist.
Eine Wirtschaft wie die der BRD, in der jeder dritte Arbeitsplatz vom Export abhängt, in die die lebensnotwendigen Dinge zunehmend importiert werden, wo demnächst kaum noch 5 Prozent der Bevölkerung ihren Arbeitsplatz in der landwirtschaftlichen Produktion haben, ist nicht nur unvereinbar mit den oben genannten Prinzipien und Einsichten, sondern ist auch sehr krisenanfällig und erpressbar. Eine andere Wirtschaft muss daher zunächst wieder ein ökologisch „richtiges“ Verhältnis zwischen Stadt und Land herstellen. Dabei können wir nicht von der Frage ausgehen: „Wie hätten sie es denn gerne, bitte schön?“, sondern von der Frage: „Was ist in einer gegebenen Region ohne Ausbeutung der Erde, der Frauen und fremder Völker möglich„? Das heisst, diese Gesellschaft müsste erst einmal von dem vorhandenen Land, den vorhandenen Bodenschätzen, klimatischen Bedingungen, den vorhandenen Menschen und ihren Fähigkeiten ausgehen.
Es ist klar, dass dann die Landwirtschaft als Quelle aller Lebensmittel wieder eine weit wichtigere Rolle einnehmen müsste, als dies heute der Fall ist. Die Industrie würde nur so weit entwickelt werden, wie sie die Selbstversorgung dieser Region ohne Ausbeutung sichern könnte, nicht aber, um als eigenständiger Sektor über die Bedürfnisse dieser Region hinaus zu „wachsen“.
Eine weitere Konsequenz einer solchen Selbstversorgungswirtschaft wäre eine drastische Reduzierung überflüssiger Arbeit, vor allem im Dienstleistungssektor und eine Neuzusammensetzung der Arbeiterschaft. Dabei würde sicher das heutige Verhältnis von Arbeitenden in der Industrie und in den Dienstleistungsberufen zu denen in der Landwirtschaft grundlegend verändert. Wenn Menschen in einer Region hauptsächlich von den dort vorhandenen natürlichen und menschlichen Ressourcen leben wollen, ist es zwingend, dass sehr viel mehr Menschen als heute in der Landwirtschaft und in der Nahrungsmittelproduktion arbeiten.
Innerhalb einer solchen Region würden sie aber auch sehr viel sorgfältiger mit der Natur und der Umwelt umgehen und sie nicht gedankenlos zerstören, weil sie wüssten, dass ihr Überleben von dieser Umwelt abhängt.
Die Verringerung des Einsatzes von Maschinen, chemischem Dünger, Pestiziden und Herbiziden könnte durch den Einsatz tierischer und menschlicher Energie kompensiert werden. An die Stelle eines kapital- und chemieintensiven Agrobusiness träte eine arbeitsintensive, umweltschonende Landwirtschaft. Sie würde nicht in Agrarfabriken stattfinden, sondern in dezentralisierten Kleinbetrieben. Solche regionale Selbstversorgungswirtschaften würden notwendigerweise auch zu einer Veränderung der internationalen Arbeitsteilung, zu einer allmählichen Abkoppelung vom Weltmarkt führen. Erst dann hätten die Länder der Dritten Welt eine realistische Chance, auch wieder zu Selbstversorgungswirtschaften zu werden, was sie vor der Ankunft der weissen Kolonisatoren ja waren. Für diese Länder würde das zunächst einmal das Ende der sie ruinierenden Exportproduktion bedeuten.
Sie könnten ihre Menschen, ihr Wissen, ihre Naturschätze zum Wohle der eigenen Bevölkerung nutzen und müssten sie nicht zur Luxusproduktion für die Überreichen und Übersatten und zur Zurückzahlung ihrer Schulden an die Industrieländer ausbeuten. Zum ersten Mal hätten wir ein einheitliches Konzept der Entwicklung, das sowohl für die derzeitigen Industrieländer als auch für die „Dritte Welt“ gilt. Selbstversorgung hier hätte die Selbstversorgung der „Dritten Welt“ zur Folge und umgekehrt. Es bleibt aber eine zynische Heuchelei, der „Dritten Welt“ Selbstversorgung und Selbsthilfe zu predigen, wenn wir hier alle fortfahren, weit über unsere Verhältnisse zu leben und den ganzen Reichtum der Welt zu verprassen.
Erst auf der Basis eines solchen Selbstversorgungskonzeptes wäre neu zu überlegen, wie und wieweit international Austausch und Handel zu organisieren wären. Erst auf dieser Basis könnte dann auch so etwas wie eine wirkliche internationale Solidarität entstehen.
Malcolm Caldwell hat in seinem Buch „The Wealth of Some Nations“ (1977) nachgewiesen, dass eine solche Selbstversorgungswirtschaft in England auf der Grundlage der heutigen Bevölkerung und des zur Verfügung stehenden Landes schon jetzt möglich wäre. Sie wäre auch in jedem anderen Land Europas und Nordamerikas möglich. Sie würde ausserdem einen grossen Teil der Probleme, die wir zur Zeit haben, beseitigen.
Sie würde nicht nur sparsam mit Energie umgehen, die Natur schonen, die „Dritte Welt“ von unserer Ausbeutung befreien, sondern auch die Überproduktion und den Überkonsum und die damit zusammenhängenden Krankheiten und Süchte beenden. Caldwell betont, dass eine solche radikale Umstrukturierung nicht nur ein schöner „utopischer“ Traum ist und auch nicht ein Fall von bIoßem Predigertum, sondern dass sie zunehmend zu einer notwendigen Überlebensstrategie wird (Caldwell, 1977). Das gilt zunächst für viele Menschen in der „Dritten Welt“, wo das Modernisierungsprogramm schon zusammengebrochen ist und wo den Arbeitern gar nichts anderes übrig bleibt, als wieder aufs Land zu gehen und zum Beispiel Mais und Bohnen für sich selbst anstatt Erdnüsse für den Export anzubauen. Die meisten Menschen denken, eine solche „Rück-Entwicklung“ käme für die Industrieländer nie mehr in Frage. Sie haben vor wenigen Jahren ja auch nicht daran geglaubt, dass einmal das Ende der Vollbeschäftigung kommen könnte.
Angesichts der EG-„Agrarkrise“, der „Stahlkrise“, der „Kohlekrise“ und zunehmender Automatisierung und weitergehendem Abbau sozialstaatlicher Leistungen ist eine solche Perspektive auch für ein Land wie die BRD nicht mehr nur Science Fiction. Hier geht es aber darum, eine solche „Schrumpfung“ der Industrie und eine mögliche Re-Ruralisierung nicht nur als Unglück zu sehen, sondern als Chance, um zu einer wirklichen Umstrukturierung zu kommen.

mmMaria Mies
Patriarchat und Kapital
rotpunktverlag, Zürich
fünfte Auflage, Mai 1996
ISBN 3-85869-050-3
18 Euro

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