An den Herausgeber des Daily Chronicle,
Sir, es sei mir erlaubt, ein Wort der Ergänzung ihrem Absatz über meine Ansichten über die Zukunft der schönen Künste hinzuzufügen. Sie haben darin angedeutet, dass ich in dieser Frage ein Pessimist sei. Das ist nicht der Fall, aber ich finde es wichtig, dass es keine Illusionen über die Zukunft der Kunst geben sollte. Ich glaube nicht an die Möglichkeit, eine kräftige Kunst am Leben zu erhalten durch noch so energische Aktivität einiger Gruppen besonders begabter Menschen und ihrem kleinen Kreis von Bewunderern, wenn die allgemeine Öffentlichkeit unfähig ist, ihre Arbeit zu verstehen und sich an ihr zu erfreuen. Ich bin der festen Meinung, dass alle wertvollen Schulen der Kunst in der Zukunft, so wie sie es in der Vergangenheit waren, ein Ergebnis des Strebens des Volkes nach Schönheit und wahrem Lebensgenuss sein müssen. Und weiter, nachdem durch die Demokratie eine neue Ordnung aufgebaut wird, die langsam aus der Konfusion der Periode des Kommerz steigt, kann dieses Streben des Volkes nach Schönheit nur aus dem Zustand der praktischen Gleichheit der ökonomischen Bedingungen für die gesamte Bevölkerung erwachsen. Schliesslich, ich vertraue so sehr darauf, dass diese Gleichheit errungen werden wird, dass ich bereit bin, als Konsequenz dieser Entwicklung das anscheinende Verschwinden der uns noch verbliebenen Kunst zu akzeptieren; weil ich mir sicher bin, dass es nur ein zeitweiliger Verlust sein wird, auf den eine wirkliche Neugeburt der Kunst folgen wird und sie wird der spontane Ausdruck der Lebensfreude sein, die allen Menschen eingeboren ist.
Das ist die Kunst, die ich kommen sehe – nicht als vager Traum sondern als praktische Gewissheit, gegründet auf das allgemeine Wohlergehen des Volkes. Es ist wahr, dass ich ihr Erblühen nicht erleben werde, deshalb kann ich dafür entschuldigt sein, mich ähnlich wie andere Künstler durch die Kunst von heute auszudrücken, die für uns nur ein Überleben der organischen Kunst der Vergangenheit ist, an der das Volk teil hatte, was immer die anderen Nachteile ihrer Lebensbedingungen sein mochten. Denn das Gefühl für Kunst in uns Künstlern ist unverfälscht und aufrichtig, obwohl wir mitten unter dem Bildungsmangel der einen leben, die ihr ganzes Leben mit der Schaffung von Kunstwerken verbringen sollten (also die Produzenten der Güter) und unter den albernen Vorspiegelungen jener, die keine Gebrauchswerte herstellen, sondern nur vorgetäuschte Güter.
Wenn wir (diejenigen unter uns, die in meinem Alter sind) die Neue Kunst nicht sehen sollten, den Ausdruck der allgemeinen Freude am Leben, so sehen wir jetzt wenigstens schon die Saat, die zu keimen beginnt. Da authentische Kunst unmöglich ist ohne die Hilfe der nützlichen Klassen, wie können diese ihre Aufmerksamkeit darauf richten, wenn sie mit erbärmlichen Sorgen leben müssen, die auf sie drücken, Tag für Tag? Der erste Schritt zur Geburt einer neuen Kunst muss deshalb eine deutliche Erhöhung der Lebensbedingungen der Arbeiter sein, ihr Lebensstandard muss (um das Minimum zu sagen) weniger knausrig und weniger prekär sein, ihre Arbeitsstunden müssen weniger werden und diese Verbesserungen müssen allgemeiner Art sein und gegen die Einflüsse des Marktes durch die Gesetzgebung garantiert sein.
Aber noch mal, diese Veränderung zum Besseren kann nur durch die Anstrengungen der Arbeiter selbst erreicht werden. „Durch uns und nicht für uns“ muss ihr Motto sein. Dass sie das selbst herausfinden und danach handeln, macht dieses Jahr zu einem wirklich erinnerungswürdigen, sei ihr aktuell gefordertes Ziel auch klein. So „stimme ich nicht nur zu“, sondern erkenne mit Freude die Tatsache, „dass die Bergleute die Grundlagen für etwas Besseres legen.“ Der Kampf gegen die schreckliche Gewalt der Profitschneider wird jetzt von ihnen ganz praktisch zu einer prinzipiellen Sache erhoben und bleibt damit nicht länger ein Disput darüber, was möglich wäre. Und wenn die Bedeutung davon auch hier und dort anerkannt wird, wird sie doch noch unterbewertet. Für meinen Teil sehe ich ein zügiges Fortschreiten zur Gleichheit hin als jetzt gewiss an. Was diese standhaften Bergleute getan haben angesichts ihrer ungemein schlechten Chancen, das können und werden andere Arbeiter auch tun und wenn das Leben leichter ist und mehr Freude bietet, werden die Leute Zeit haben, sich umzusehen und dann herausfinden, was sie in Fragen der Kunst erhoffen und sie werden auch die Kraft haben, ihren Wunschvorstellungen eine Richtung zu geben. Niemand kann heute sagen, welche Form diese Kunst dann annehmen wird, aber so gewiss es ist, dass sie nicht von den Launen weniger Personen abhängig sein wird, sondern von gemeinsamem Wollen, so gewiss kann gehofft werden, dass sie schließlich nicht hinter der Kunst vergangener Zeiten zurückstehen wird, sondern sie übertreffen wird in dem Maße, in dem das Leben mehr Freude zeigen wird durch das Verschwinden von Gewalt und Tyrannei – trotz der und nicht wegen ihr unsere Vorfahren die Wunder der Volkskunst hervorbrachten, von denen uns die Zeitläufe einige wenige übrig gelassen haben.
I am, Sir, yours obediently
William Morris
„The deeper meaning of the struggle“, Daily Chronicle, 10. November 1893
Eigene Übersetzung, 2013
Den Artikel, auf den sich Morris bezieht, kennen wir leider nicht.
Im Vormonat, im Oktober 1893, hatte in London die vierte Ausstellung der Arts and Craft Exhibition Society stattgefunden. Morris hatte in dem Jahr den Vorsitz der Gesellschaft von Walter Crane übernommen und zur Ausstellung erschienen die Arts and Crafts Essays. In den Ausstellungsräumen stand die Morris’sche Druckerpresse in Betrieb und die Firma von Morris stellte Teile des großen Zyklus der Wandteppiche mit der Geschichte der Gralssuche aus. Die Ausstellung wurde von der bürgerlichen Öffentlichkeit, Besuchern vom Kontinent und der Presse stark beachtet und der Daily Chronicle brachte am 9. Oktober 1893 ein Interview mit Morris in Art eines Werkstattgesprächs.
https://williammorristexte.files.wordpress.com/2013/11/dc.pdf (englisch)
Wahrscheinlich in diesem Kontext greift Morris mit obiger Zuschrift weit über den eingeengten Bereich der Gegenwartskunst hinaus (die wie auch sein eigenes Werk von den gesellschaftlichen Verhältnissen abhängig ist) und zeigt auf den zur gleichen Zeit stattfindenden ersten landesweiten achtwöchigen Streik der englischen Kohlebergleute als Zeichen der Hoffnung für eine Neugeburt der Kunst.