Die Redefreiheit auf der Straße

    Der Polizei-Krieg gegen die Open-Air-Ansprachen der Sozialisten wird dieses Jahr mit großem Einsatz weitergeführt und wird, soweit wie es gekommen ist, sicher von der breiten Öffentlichkeit bemerkt werden. Wenn diese Ausgabe des Commonweal, wie schon andere, in die Hände von Nicht-Sozialisten geraten wird, dann ist es angebracht ein paar Worte über dieses Thema zu sagen, gerade weil es für uns von großer Bedeutung ist und nicht unbedeutend für die Allgemeinheit, sogar in den Tagen des Dilke-Crawford-Prozesses* und der kommenden Tory-Regierung.
    Zur Information derer, die den Verlauf der Attacken gegen uns nicht verfolgt haben, möchte ich vorausschicken, dass wir zuerst damit in Stratford zu tun bekamen, wegen Ansprachen auf einem Gelände, wo eine Versammlung von 600 Personen abgehalten werden kann ohne auf irgendeine Weise mit dem Verkehr, ob zu Fuß oder Fahrzeug zu kollidieren und wo die Gebäude auf der einen Seite außer Hörweite sind, zumindest an den Tagen, an denen Verkehr zu hören ist (unsere Versammlungen wurden an Samstagen abgehalten.) Einer unserer Redner wurde dort letztes Jahr festgenommen, aber als er dem Magistrat beweisen konnte, dass es keine wirkliche Behinderung für Fußgänger oder Fahrzeuge gegeben hatte, wurde die Strafe aufgehoben und wir konnten uns unbehelligt weiter versammeln. (…) Etwa zur selben Zeit wurde die Social Democratic Federation in Kilburn angegriffen.
    An der Kreuzung Bell Street / Edgeware Road hatten unsere Redner und die der Social Democratic Federation schon seit anderthalb Jahren die Gewohnheit, an Sonntagen ohne Probleme von Seiten der Polizei öffentliche Reden zu halten; aber am Sonntag den 4. Juli wurde einer unserer Redner arretiert und zwei weitere an den zwei folgenden Sonntagen, zusammen mit einem von der Federation.
    Dieser Ort ist gewiss nicht so verteidigungswert wie das Stück Brachland in Stratford, denn er ist nur eine Straße, aber dort ist an Sonntagen sehr wenig Verkehr und alle Sozialisten haben eifrig die Fußwege frei gehalten. Wenn es deshalb Unannehmlichkeiten gab, dann könnte es nur die Bewohner der Häuser in der Straße betreffen; aber achtzehn Monate lang gab es keine Beschwerden. Dass die Anwohner plötzlich die Untragbarkeit unserer Versammlungen ohne Anschub von aussen erkannt hätten, erscheint ziemlich als ein Wunder, das vielleicht die Polizeibehörden erklären können. Im Ganzen muss von der Bell Street gesagt werden, dass der Ort etwas weniger gut geeignet ist als Dod Street, wo die öffentliche Meinung die Polizei letztes Jahr zum Nachgeben zwang.
    Von der Harrow Road wurden unsere Redner einige Wochen vorher „wegbewegt“ und ihnen von der Polizei ein besserer Platz vorgeschlagen; wurden dort aber auch nicht in Ruhe gelassen. Am 3. Juli wurde ein Redner von uns vorgeladen, weil er dort zu einer Versammlung gesprochen hatte und seit dem wurden Versammlungen untersagt. (…)
    Nun, wir verlangen nicht die Erlaubnis, an diesen oder ähnlichen Plätzen Demonstrationen abhalten zu dürfen, sondern nur unsere gewöhnlichen wöchentlichen Treffen, die wir veranstalten um unsere Grundsätze zu vermitteln und zu diskutieren. Sie können natürlicherweise deshalb nicht zu großen Ansammlungen werden; dieselbe Gruppe von Leuten (oft würde ich das wünschen) Woche für Woche; Menschen, die beim ersten Mal angezogen werden, weil sie sehen, dass da was los ist, die zuhören und es wert finden, wieder zu kommen; im ganzen genommen also ernsthafte Leute mit gewissen politischen Neigungen. (…) Unsere Versammlungen haben eher Bildungscharakter.
    Es muss auch daran erinnert werden, dass neben dem Bestreben, unser Operationsfeld zu erweitern und an Leute heranzukommen, die vielleicht zu scheu sind, einen Lesesaal zu betreten, wir nicht immer einen Lesesaal bekommen können, weder für Geld noch aus Liebe. Wir werden strikt boykottiert. Das war der Fall in Stratford und ebenso in der Umgebung der Bell Street: in dieser Gegend wurden unserer Branch mehrere Räume nach ein oder zwei Vorträgen gekündigt, einfach nur aus dem Grund, weil wir Sozialisten sind. In solchen Bezirken sind wir deshalb geknebelt, wenn wir nicht im Freien unsere Reden halten können, und dies, obwohl zumindest in dem letzteren, die ganze Bevölkerung auf der Strasse sich mit Begeisterung auf unsere Seite stellt.
    Zu den Vorfällen, die uns die Polizei zur Last legt, sei gesagt, dass sie nach meiner Meinung komplex sind. Es gibt den verständlichen Wunsch, die Straßen so frei wie möglich zu halten: niemand kann dagegen etwas sagen außer dass es Fälle geben kann, in denen das größere Anliegen dem geringeren vorgeht. Ich stelle nur fest, dass in den letzten Jahren der luxuriösere Teil der Gesellschaft ungeduldiger wird mit den Vergnügungen und Lebensgewohnheiten der Arbeiter, wenn sie in irgendeiner Weise die Ruhe ihres Luxus beeinträchtigen. Oder deutlicher ausgesprochen: es gibt auf deren Seite eine Tendenz zu einer arroganten, spießigen Tyrannei in diesen Dingen. Wenn sie könnten, würden sie die Straßen von allem säubern, was ihre delikaten Empfindlichkeiten verletzen könnte, obwohl alles Rohe und Schmutzige nur die umgekehrte Seite des Systems ist, das ihnen ihre überlegene Position verleiht. Sie sind entsetzt über gewisse Derbheiten, sind aber nicht beschämt über ihre fortwährende Nutznießerschaft an jenen, denen sie dies aufzwingen und darüber, dass sie von ihrer unbezahlten Arbeit leben. Sie würden die Straßen von Straßenhändlern säubern, von Orgeln, Umzügen, Rednern aller Art um sie in eine Art reinlicher Gefängniskorridore zu verwandeln, auf denen die Leute zur Arbeit und wieder zurück trotten. Es ist wohl möglich, dass diese Stimmung die Polizei beeinflusst haben könnte, denn sie ist ihr direkter Diener und ich zweifle nicht, dass sie davor buckeln; abgesehen von der Frage: Sozialisten oder nicht.
    Gleichzeitig, da niemand mehr die Art und Weise, in der die Versammlungen an Straßenecken behandelt werden, bezweifelt, kann auch nicht mehr bezweifelt werden, dass sich darin eine starke Tendenz gegen Sozialisten zeigt, trotz aller plausiblen Gegenargumente. Es ist ziemlich klar, dass wenn der Polizei diese Voreingenommenheit zugestanden wird, in dem einen Fall nach den Buchstaben des Gesetzes zu handeln und im anderen nicht, dann können sie die Straßen von Sozialisten säubern und religiöse, abstinenzlerische und andere respektable Versammlungen nach Belieben gewähren lassen; daneben kann ein wenig Einseitigkeit das Weitere tun, z.B. dem Prediger des Evangeliums seine volle Stunde geben und den Sozialisten bereits nach zehn Minuten abbrechen lassen. Derlei kann gemacht und so plausibel der Öffentlichkeit erklärt werden, dass es Humbug wäre an die Rolle der Polizei als Hüter des freien Verkehrs auf den Straßen zu glauben, während sie sich in der Realität für rein parteiliche Zwecke hergibt.
    Was wir als Sozialisten verlangen ist, in Ruhe gelassen zu werden, wenn die Abhaltung einer Versammlung keine wirkliche Beeinträchtigung der Nachbarschaft darstellt. Wir glauben nicht, dass das bestehende Gesetz danach ruft, sich in solche Versammlungen einzumischen oder dass es in solcher Weise gegen irgendeine Gruppe angewendet werden sollte – ob religiös, abstinenzlerisch, säkularistisch oder anders; gleichzeitig verlangen wir, nicht schlechter behandelt zu werden als sie. Wenn auf der einen Seite die Polizei Ambitionen hat, die Zügel der Disziplin stärker anzuziehen und London zu einer Modell-Stadt dafür zu verwandeln, lasst sie nicht die anderen auf dem Umweg über uns attackieren, denn wir sind eine neue Sekte und deshalb ausgewiesen gefährlich. Auf der anderen Seite, wenn die Behörden es angebracht sehen, das Predigen unserer Grundsätze als gefährlich zu unterdrücken, dann sollen sie sich nicht hinter einer reinen Polizeianweisung zur Verkehrsregelung verstecken sondern uns offen wegen unserer Äußerungen in Wort und Schrift angreifen, die der Öffentlichkeit überall vorliegen. Die Öffentlichkeit kann dann entscheiden, ob sie im England am Ende des 19. Jahrhunderts Verfolgungen einer Meinung haben will.
    Außerdem appellieren wir an alle Menschen mit Vernunft, nicht zu erlauben, dass den Straßen alles Lebendige oder Vergnügliche entzogen wird unter dem Diktat wohlhabender Pedanten und Genussmenschen. Die Arbeiter haben nicht zu viele intellektuelle Vergnügungen. Ihre Wohnungen sind bestenfalls eng und grau; für viele ist die Straße ihr einziges Wohnzimmer. Es wäre die Frage, ob es wirklich so gefährlich ist, ihre Hirne zum Nachdenken über „gefährliche“ Lehren zu bringen statt sie durch fortwährende Unterdrückung in die Menschenunwürdigkeit zurückzutreiben. Es wäre es wahrscheinlich wert, einiges von der Schicklichkeit der Straße herzugeben für eine Extraportion Bildung in diesen Tagen der politischen Gärung. Auf der anderen Seite: wenn es irgendwelche Leute gibt, die es für möglich halten, das Aussprechen großer Prinzipien, die in der ganzen zivilisierten Welt am Werk sind, durch kleinliche Polizeiverfolgung abwürgen zu können, dann werden diese erkennen müssen, dass sie falsch liegen. Kurz: die Öffentlichkeit muss sich entscheiden, ob die Polizei ihr Diener oder ihr Herr sein soll. Um der Gefahr des letzteren zu entkommen, muss sie sich rühren und zu dem Geschehen Stellung nehmen ohne Vorurteil gegen Sozialisten wegen deren Grundsätze.

* ein damals aktueller Skandal-Prozess

„Free Speech in the Streets“, Artikel in Commonweal vom 31. Juni 1886

    Der Artikel wirft ein Schlaglicht darauf, wie hartnäckig und ausdauernd die englischen Sozialisten zu dieser Zeit (weitgehend erfolgreich) die öffentlichen Ansprachen an Straßenecken und in Parks als das Hauptmittel ihrer Überzeugungsarbeit unter der Bevölkerung verteidigten. Die verschiedenen Gruppen wetteiferten in der Anzahl und dem Erfolg ihrer Straßenpropagnada-Aktionen. Zahlreiche Redner wurden wegen Widerstands zu Geldstrafen verurteilt, denen bei Nichtbezahlung schwere Haftstrafen folgen konnten. Morris ging oft auf Polizeistationen, um für die Angeklagten Kaution und Strafe zu zahlen. Durch ihre eindeutige Haltung, trotzdem nicht nachzugeben, verschafften sie sich Respekt. Die prominenteren Mitglieder, vor deren Verurteilung die Polizei zurückschreckte, gingen an umkämpfte Orte. Dem obigen Artikel ging eine Woche vorher der Bericht eines Korrespondenten über einen Redeauftritt von William Morris voraus:

    „… Zurück zu Bell Street. Achtzehn Monate lang haben wir dort Versammlungen der Marylebone Branch der Socialist League abgehalten ohne Beschwerden irgendwelcher Art bis sich die Polizei einmischte. Seitdem gab es natürlich ein gewisses Maß an Obstruktion, wie es immer so sein wird, wenn sich die Polizei in Open-Air-Versammlungen einmischt.
    Wie angekündigt sprach William Morris letzten Sonntag zu der Versammlung in Bell Street. Nachdem er die Leute aufgefordert hatte ruhig und diszipliniert zu sein wegen der Möglichkeit des Auftretens der Polizei, sagte er, dass er nach Marylebone gekommen sei um das Recht der Sozialisten zu behaupten, ebenso wie Leute mit anderer Meinung die ihre auf der Straße öffentlich auszusprechen. Die Polizei mache unseren Open-Air-Versammlungen nur deshalb Schwierigkeiten, weil wir Sozialisten sind – weil wir die Sache des Volkes vertreten. Es sei sehr vernünftig, wenn sich die Menschen bei dem heißen Wetter an der frischen Luft treffen, um über ihre Nöte zu sprechen. Die Behörden hätten Angst vor dem Sozialismus, denn die mittleren und höheren Klassen kennen ihre eigenen Untaten und weil die Sozialisten der arbeitenden Klasse sagen, was zu ihrem Vorteil ist. Er lehne es ab, zufrieden mit den Bedingungen einer Gesellschaft zu leben, die für die Mehrheit der Bevölkerung ein ständiges Gefängnis bedeuten. Unsere bestehende Gesellschaft beruhe auf Monopol und Korruption. Polizei, Armee, Marine, Magistrate, Rechtsanwälte, Parlament usw. würden ihr Bestes tun, um diese Vorrechte und die Korruption aufrecht zu erhalten. Aller Reichtum sei das Produkt der Arbeit, deshalb gehöre aller Reichtum den Arbeitenden; jene die arbeiten, sollten den Reichtum bekommen, den sie schaffen. Jeder Arbeiter heute produziere mehr als für seine eigene bloße Existenz notwendig, aber der weit größere Teil werde ihm von einer untätigen luxuriösen Klasse weggenommen. Er fühle sich aufgerufen, an diesem Morgen zu ihnen zu sprechen, weil der aktuelle Zustand der Dinge so schlecht sei. Er sei vor einigen Tagen von einer Lady gefragt worden, warum er sich nicht an die Mittelklasse wende. Nun, die Mittelklasse habe ihre Bücher mit ausreichend Freizeit um in ihnen zu lesen, die arbeitenden Klassen haben keine Bücher, keine Freizeit. (An diesem Punkt erschien Chief-Inspector Shepherd am Rand der Menge und sagte, er könne hier nicht durchgehen. Das war allerdings falsch und die Menge machte ihm sofort den Weg frei, und murrte ihn von Herzen an, während er sich dem Sprecher näherte. Als er zu Morris trat, forderte er ihn auf, aufzuhören, was sich Morris zu tun weigerte, worauf der Inspector Namen und Adresse notierte und sich entfernte, während der Redner ohne weitere Unterbrechung fortfuhr.) Die mittleren und höheren Klassen könnten in Luxus und durch Nichtstun von der Armut und Niederdrückung der Arbeiter leben. Es gäbe nur einen Weg, auf dem dieser Zustand geändert werden könne – die Gesellschaft müsse von unten nach oben umgekehrt werden. Eine wahre Gesellschaft bedeute, dass jeder Mensch das Recht habe zu leben, das Recht zu arbeiten und das Recht, die Früchte seine Arbeit zu geniessen. Die nutzlosen Klassen müssten verschwinden, und die beiden Klassen, die jetzt die Gesellschaft bilden, müssten in einer einzigen großen nützlichen Klasse aufgehen indem die Arbeiterklasse die ganze Gesellschaft wird. Abschließend rief er alle auf, das ihnen Mögliche für die Sache zu tun; sich zu bilden, die sozialen Probleme mit ihren Kollegen zu besprechen und sich für die große soziale Revolution vorzubereiten.
    Die Rede von Morris dauerte dreißig Minuten und seinen Worten wurde immer wieder applaudiert. Die Leute gingen dann ruhig weiter, nachdem sie sich in den Verteidigungsfond eingeschrieben hatten. …“

Drei Seiten aus Commonweal mit den wöchentlichen Ankündigungen von Open-Air-Meetings und den beiden übersetzten Artikeln:

Klicke, um auf freespeech.pdf zuzugreifen

    Ähnliche Free Speech Fights wurden in den nächsten Jahren und Jahrzehnten in Australien und den USA ausgefochten, wobei diese Aktionen für die Industrial Workers of the World in Spokane, Kansas City, Denver oder San Diego wesentlich härter und opferreicher waren:
http://aftguild.org/free_speech/

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