Im Schatten einer Ulme, oder: Gedanken auf dem Lande

summerHochsommer auf dem Land – hier kann man sich auf Feldern und zwischen Hecken ergehen, die sozusagen einen einzigen, riesigen Blumenstrauß bilden, der nach Bohnenblüten, Klee, süßem Heu und Holunderblüten duftet. Blumen bringen die Gärten der Cottages zum Leuchten, und die Cottages selbst sind auf ihre Weise fast alle Modelle der Baukunst ihrer Art. Hier und da überragt sie ein Kleinod gelungener Architektur vergangener Zeiten, als jeder Handwerker zugleich auch Künstler war und seine Arbeit mit wacher Intelligenz verrichtete.
Der Mensch der Vergangenheit und die Natur der Gegenwart scheinen darauf aus zu sein, uns zu gefallen und unseren Sinnen alles köstlich erscheinen zu lassen. Selbst die glühende, staubige Straße sieht prächtig aus, wenn man auf dem grünen Streifen am Straßenrande liegt und dem Gesang der Amseln lauscht, der zweifellos zu unserem Genuss erschallt. Fast hätte ich gesagt, sie singen, als wenn sie dafür bezahlt würden, aber ich muss mich wohl getäuscht haben, denn sie scheinen ja ihr Bestes zu geben.
Und alles, oder sagen wir, das meiste, ist von strahlendem Leben erfüllt. Die im Schatten schimmernden Ukeleien im Fluss dort unten, nicht ahnend das Schicksal, das Barking Reach für seine Gewässer beschlossen hat – saphirblau unter dem Auf und Ab des Windes und unter dem wolkenlosen Himmel. Zwischen den Wasserpflanzen mit ihren perlmuttweißen Blüten erscheint ihr Fischleib wie gestreift. Jeder Meter des Ufers eine Kostbarkeit aus feingewobenen Mustern aus Geißbart, Kratzbeere, Beinwell und Labkraut. Von den Ukeleien im Fluss, im Labyrinth der Gräser, bis zu den Staren, die eifrig auf den frisch gemähten Wiesen oder neben den grauen Heuhaufen herumpicken, sind alle Geschöpfe voller Leben, und ich glaube, voller Glück und ohne Sorgen.
ulmeWas ist das für ein Gedanke, der einem in den Sinn kommt, wenn man sich im Schatten der Ulme am Straßenrand umdreht? Eine Landschaft, für die es sich, wenn nötig, zu kämpfen lohnte, und deren Frieden zu verteidigen es wert wäre, Ärger auf sich zu nehmen. Ich blicke nach oben, und zwischen den Ästen der Ulme sehe ich in der Ferne einen Höhenzug mit grauen Wällen, der sich über ein Meer von grünen und blaugrünen Wiesen und Feldern erhebt; und verschwommen sehe ich an der Flanke oberhalb der Wälle eine sonderbare Figur, die dadurch entstand, dass der flachgründige Rasen vom Kalkgestein des Hanges abgetragen wurde. Eine Figur, die gemäß der Heraldik der Zeit vor elfhundert Jahren ein weißes Pferd darstellt. Am Fuß des Hangs hat das Landvolk jener Zeit wahrlich für den Frieden und die Schönheit eben dieses Landstriches gekämpft, auf dem ich nun verweile. Bei der Rückkehr nach ihrem Sieg haben sie die Figur des Weißen Pferdes als Zeichen ihrer Tapferkeit und – wer weiß? – vielleicht als Vorbild für ihre Nachkommen in den Hang gegraben. Das lässt eine Zeitlang mein Blut hochkochen, wie ich so daran denke; doch während ich die Schwalben zwischen den Hecken an mir vorbeiflitzen oder in leichtem Schwung über den Hecken aufsteigen und dahinter über das Bohnenfeld jagen sehe, kommt mir ein anderer Gedanke: Diese lebendigen Wesen, von denen ich schon die ganze Zeit spreche, die Ukeleien, Schwalben, Stare und Amseln, sind alle auf ihre Art schön und anmutig, und sie haben keinen Mangel an ihnen passender Anmut und Schönheit. Doch gestern, als ich an einer gemähten Wiese vorbeikam, stand da ein altes rot-graues Kutschenpferd und schaute mich durch eine Lücke in der Hecke ernst, aber gutmütig, an. Ich blieb stehen um seine Bekanntschaft zu machen und muss leider sagen, dass es trotz seiner offensichtlichen Verdienste recht hässlich war mit seiner Römernase und in seinem unbeholfenen Umhertrotten. Und doch, wie nützlich war es gewesen – für andere. Am selben Tag (wenn auch nicht auf derselben Wiese) sah ich noch einige andere Tiere, Männchen und Weibchen, mit denen ich ebenfalls Bekanntschaft machte; denn zumindest die Männchen hatten Durst. Und diese Tiere, Männchen wie Weibchen, waren ohne Anmut, ohne Schönheit, plump wie das graue Arbeitspferd aber, wie ich sie so das Heu rechen sah, ganz offensichtlich nützlich. Dann entsann ich mich, in Hertfordshire Stare gesehen zu haben, die derselben Gattung angehörten wie die Stare am Ufer der Themse, und dass ich ungefiederte, zweibeinige Tiere derselben Gattung, der auch diese durstigen Geschöpfe auf der Wiese angehörten, gesehen habe – oder doch von ihnen gehört habe: gemeißelt in den Fries des Parthenon, gemalt an das Deckengewölbe der Sixtinischen Kapelle, ersonnen von Dichtern als Helden und Heldinnen ihrer Romanzen. Ja selbst, als sich die Menschen in ihrer Vorstellung einen Gott des Universums schufen, den Schöpfer von allem was war, ist und sein wird, stellten sie ihn als einen von eben jener Gattung dar, der auch die Durstigen beim Heumachen angehörten – als wenn überragende Intelligenz und vollkommene Anmut, Schönheit und Erhabenheit ausgerechnet in der Gattung jener plumpen Tiere zur Vollendung gelangt wären.
Uffington white horseIm Schatten der Ulme zerbreche ich mir darüber den Kopf, und wieder wandern meine Gedanken zurück zu den kühnen Männern eben dieses Landstrichs, die bei ihrer Heimkehr vom Schlachtfeld bei Ashdown jenes Weiße Pferd in den Hang gruben, damit es für immer in das Tal der Themse hinabschaue. Und ich konnte mir gut vorstellen, dass sie insofern den Staren und Ukeleien ähnelten, als unter ihnen eine Gleichheit herrschte, die weit größer war, als wir es heute gewohnt sind, und dass es unter ihnen mehr Vorbilder für Odin gegeben hätte, als man wohl heute auf den Wiesen an der Themse finden würde.
Im Schatten der Ulme stellt sich mir gar nicht erst die Frage, ob dies etwa auf die größere durchschnittliche Intelligenz der Menschen unserer Zeit zurückzuführen sei oder auf die Fortschritte der Menschheit seit der Zeit des einzig würdigen Herrschers, den England je hatte, nämlich Alfred des Großen; Ort und Zeit sind ja wirklich denkbar ungeeignet für solche Fragen. Ja, sie erscheinen völlig unwichtig inmitten dieses verschwenderischen Überflusses an Schönheit und Vergnügen, der sich den Menschen darbietet, die ihn jedoch weder mitnehmen noch benutzen können – es sei denn, irgendein reicher Müßiggänger verirrte sich rein zufällig hierher.
Meine Gedanken kehren zu den Leuten beim Heumachen und ihren Hoffnungen zurück und ich erinnere mich, dass ich gestern früh zu jemandem neben mir sagte: »Der Herr So-und-so (der Bauer) schickt seine Leute aber spät zum Heumachen.« Da sprach er: »Sie müssen wissen, der Herr So-und-so hat nicht genügend Arbeitskräfte.«
»Wie das?« sagte ich und spitzte meine sozialistischen Ohren.
»Nun ja,« sagte er, »diese Leute da sind die alten Männer und Frauen, die im Dorf aufgewachsen sind, und sie sind eigentlich schon zu alt für die Arbeit. Und die jungen Leute, die noch mehr Mark in den Knochen haben, die meinen halt, dass sie mehr Lohn bekommen sollten als die alten. Und der Herr So-und-so will nicht mehr zahlen. Also hat er nicht genug Arbeiter, verstehen Sie?«
haymakingAls ich weiterging und über die unausgesprochenen, unaussprechlich leidvollen Einzelheiten dieser schäbigen Geschichte nachdachte, kam mir eine weitere zu Ohren: Ein Landarbeiter aus dem Dorf kommt zu einem Farmer und sagt ihm, dass er nun wirklich nicht mehr für neun Shilling die Woche arbeiten könne, sondern dass er zehn Shilling bekommen müsse. Da sagt der Bauer: »Dann verdien‘ dir mal deine zehn Shilling woanders.« Der Mann geht weg, nur um zwei Monate lang arbeitslos zu bleiben, kommt dann zurück und bettelt um seine neun Shilling Sklavenlohn.
Das sind doch nur die landläufigen üblichen Geschichten von Streiks die ohne Unterstützung bleiben, könnte man einwenden. Und das sind sie auch; wären sie es nicht, könnte man leicht Abhilfe schaffen, die damit verbundene Tragödie verkürzen und den üblichen Übeltäter als außerhalb der Menschheit stehend brandmarken. Aber gerade weil sie so landläufig sind…
Im Schatten der Ulme kommen mir düstere Gedanken: Was wird mit all der ländlichen Schönheit geschehen, die doch in ihrem Reichtum auf so tragische Weise kontrastiert mit dem ländlichen Elend, das sich selbst nicht spüren kann?
Nun, wenn wir weiterhin Sklaven und Sklavenhalter sein müssen, so wird sie gewiss nicht mehr lange bestehen: Die Schlacht von Ashdown wird über die jüngste Wirtschaftskrise in Vergessenheit geraten, und die Wappentiere Alfreds werden den Löwen auf der Half-Crown-Münze weichen. Die Bauwerke, die noch Zunfthandwerker errichtet haben, werden einstürzen oder kaputt »restauriert« werden, nur um denen zu gefallen, die dem Pittoresken nachjagen, und die, selber ohne Hoffnung, die Hoffnungen vergangener Tage oder das Zeugnis davon nicht verstehen können. Man wird die Schönheit der Landschaft ausbeuten und dort künstlich umgestalten, wo sie noch so eindrucksvoll ist, damit sie den übersättigten Begierden der Villenbesitzer entspricht; sie brauchen dazu nur mit der Brieftasche zu winken. Und an ruhigen Stellen wie dieser hier wird die Schönheit der Landschaft Jahr für Jahr unter den Angriffen einer heimtückisch schleichenden Kommerzialisierung dahinschwinden (was eigentlich jetzt schon geschieht).
Doch ich denke mir im Schatten der Ulme: Was auch immer aus England werden wird, das einst so schön war – es wird für uns gut genug sein, wenn wir für die Zukunft nicht mehr zu erhoffen wagen als den Fortbestand eines Volkes von Sklaven und Sklavenhaltern in dem Land, das zu lieben wir vorgeben – während wir in Wirklichkeit sowohl das Land als auch unsere geheuchelte Liebe als Deckmantel der Ausbeutung der Armen hier und im Ausland verwenden. Für solche Duckmäuser und Feiglinge wird die gröbste Hässlichkeit und Vulgarität gerade gut genug sein.
Lasst mich umblättern und ein neues Bild vor mir erstehen, oder mein Ferientag ist mir verdorben. Und es soll mir keiner meiner sozialistischen Freunde, mit denen ich über die Schrecken Londons gestritten habe, sagen: »Da hast Du dein Landleben!« Denn so wie der Wechsel der Jahreszeiten unter dem System von Gutsherr und Landarbeiter auf dem Lande diese beklemmende Knausrigkeit und diesen Stumpfsinn hervorbringt, so bringt das  »aufregende intellektuelle Leben« in den Städten die Slums hervor – unter einem kapitalistischen System, das nicht Güter für den Gebrauch, sondern für Verschwendung herstellt und vertreibt. Wendet das Blatt, sage ich. Von dem Platz unter der Ulme bietet die Wiese diesen Monat ja wirklich einen schönen Anblick, während die Arbeit jenseits des Weges gegenüber dem Bohnenfeld weiter geht – bis man sich die Leute, die da Heu machen, genauer ansieht. Stellen wir uns vor, diese Leute beim Heumachen wären Freunde, die für Freunde arbeiteten, auf einem Land, das ihnen gehört! Stellen wir uns vor, sie wären ausreichend viele und hätten dabei Muße und Hoffnung vor sich statt hoffnungsloser Plackerei und Sorge – müsste sie dann die nützliche Arbeit, die sie für sich und ihre Nachbarn leisten, wirklich verkrüppeln und entstellen und ihnen die stattliche menschliche Gestalt, geeignet zur Darstellung von Göttern und Helden, nehmen? Wenn unter solchen Umständen die Schlacht von Ashdown noch einmal geschlagen werden müsste (diesmal gegen die kapitalistischen Räuber), dann würde das neue Weiße Pferd auf eine Heimat von Menschen hinabschauen, die in ihrer Gleichheit genau so klug wären wie die Stare, und somit vielleicht auch genau so glücklich.

“Under an Elm-Tree; or, Thoughts in the Country-Side” in Commonweal, Juli 1889
Eigene Übersetzung, 2013

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