Lu Märten: „Kultur und Kunst im Arbeiteralltag“

lu1905:06Lieber Genosse, unser Gespräch über viele Dinge, die sich schwer unter einen Titel fassen lassen, hat im Frieden begonnen, und wir versprachen, es irgendwann ganz konkret und nicht nur für uns allein fortzusetzen. Wir kamen damals aus der Wohnung eines Genossen, der eine nagelneue Einrichtung besaß, genau nach dem Muster des Bürgertums, und Du sagtest bitter: Es scheint, daß man nie von diesem bürgerlichen Dreck loskommt und hier keine Gegensätze sieht, obwohl sie doch die gleichen sind wie auf anderen Gebieten. – Nachher standen wir vor großen Schaufenstern, und Du lächeltest ein wenig über uns, da wir doch weder kaufen konnten noch etwas zu kaufen begehrten. Ich sagte Dir, daß ich alle diese Dinge, alle Produkte auf ihren Zusammenhang, auf ihre Geschichte hin prüfe, daß ich ihre DiaIektik studiere, weil auch das kleinste, scheinbar fernste Produkt in seinem Wesen untrennbar zusammenhängt mit dem Wesen aller Arbeit überhaupt. Wir waren uns einig über die Schwierigkeit, der Arbeiterschaft von Kunst und Sinn einer Sache eine klare Unterscheidung und Begrifflichkeit zu geben, und ebenso darüber, daß man es nicht ferner mit abstrakten Formeln versuchen dürfe, sondern gegenständlich, anschaulich lehren müsse, von Alltag und Umgebung des Arbeiters aus, von seiner Wohnung, seinem Gerät, seiner Kleidung aus. Du griffst damals diesen Gedanken lebhaft auf, und zwar nach seinen zwei Richtungen: nach der wirtschaftlichen Seite, insofern es klar zu machen gilt, dass alles Billige, das man dem Arbeiter verlockend anbietet und hauptsächlich für ihn in der Industrie produziert, zugleich stets das Schlechteste ist; das, mit dem der Arbeiter obendrein ökonomisch betrogen wird, so dass er kauft und kauft und doch nie etwas hat. Andererseits führt diese Erkenntnis zur Untersuchung der Bedeutung des Materials, und damit ist schon der Weg zum ästhetischen und künstlerischen Verständnis gezeigt.

Da aber kam der Krieg. Man musste von solchen Dingen schweigen, denn bald gab es überhaupt keine Auswahl mehr. Die äußerste Notwendigkeit bestimmte das Bedürfnis, und noch heute gilt vielfach der Qualitätsunterschied wenig oder gar nichts, – man muss etwas nehmen, weil man es nötig braucht, und der Preis gibt den Ausschlag. Aber trotz aller Beschränkung verlangt Beachtung, was auch in Luxus und Überfluss galt, – das ist der persönliche schöpferische Wertfaktor eines Produkts, die Seele seines Erfinders, und darüber lässt sich reden, muss geredet werden. Sogar in Russland beschäftigt man sich mit diesen Fragen um ihrer kulturellen Bedeutung willen, und doch herrscht gerade dort so große Armut und Dürftigkeit, dass es praktisch zunächst nur die nackte Notdurft zu bedecken gilt. Das Prinzipielle an dem, was wir unter Schönheit der Dinge erkennen, muss unter allen Umständen und mit jedem Mittel praktisch wirksam zu machen sein. Der Begriff des Schönen deckt sich ja nicht mit dem Begriff des Reichen und Luxuriösen, ist auch nicht mit dem Besitz schlechthin verbunden. Wir müssen die Begriffe einmal, untersuchen, auf ihren Sinn hin festlegen, auf das hin, was sie an Lebenswert für den einzelnen überhaupt begehrenswert macht, und in welcher Form sie für den Menschen eine Erleichterung seines ganzen Lebens oder überflüssigen Ballast darstellen.

Ehe wir die Dinge revolutionieren, wollen wir ihre Daseinsberechtigung untersuchen, ob sie nicht etwa nur Trödel einer alten Kultur sind, mit deren Voraussetzungen sie Sinn oder Unsinn behalten, mit deren Gewohnheiten und Bedürfnissen sie stehen oder fallen. Das vergisst man heute vielfach, wenn man an die Unsumme der Erscheinungen des bürgerlichen Kulturbesitzes denkt –, und doch wird durch eine Perspektive in die zukünftigen Daseinsformen und Besitzverhältnisse, die sich natürlich streng an die Höhe der Technik und unserer Erfahrung halten, das ganze Problem sehr wesentlich vereinfacht. Damit soll in keiner Weise dem Genuss und der Freude an irgendwelchen Dingen Abbruch getan werden, es soll nur die Genussmöglichkeit selbst, untersucht werden; es soll untersucht werden, ob die eigentliche Quelle des Genusses für den Menschen in der Vielheit des Besitzes liegt – in der Anschaffung, oder ob sie nicht vielmehr in der persönlichen schöpferischen Fähigkeit des Menschen historisch ihre Wurzeln hat – in der Eigenschöpfung, aus der heraus alle Dinge geworden sind, und ob diese Quelle nicht auch in eine auf Maschinen- und Massenproduktion angewiesenen Gesellschaft wieder erschlossen werden kann – vielleicht auf anderen Wegen als bisher.

Wie wir die Arbeit zu ihrem eigentlichen, menschenwürdigen Inhalt und Wert befreien wollen, so auch den Genuss. Du sagtest damals, lieber Genosse, man müsste zu allen einzelnen Dingen gleich das Anschauungsmaterial geben können, aber erst die ökonomische und politische Machtergreifung der Arbeiterklasse macht es uns möglich, durch Bilder und Modelle, vor allem aber durch vorbildliche Produktion der einzelnen Gebrauchsgegenstände selbst unsere Ansichten völlig klar zu legen: Inzwischen kommt es bei vielen auf die eigene Vorstellungskraft, auf den eigenen Versuch und das vorbereitende Bewusstwerden an. Ich hatte Gelegenheit, bei einigen Arbeiter-Wohnungseinrichtungen zu beobachten, wie gewisse Gesetze von Farbenwirkung und Zweckdienlichkeit sofort begriffen worden sind und eigene Fähigkeiten dafür existieren. Dabei kosteten diese Wohnungen nicht annähernd so viel wie die üblichen bürgerlichen Garnituren.

Ich will mit bestimmten Begriffen räsonieren. Zum Beispiel mit dem Begriff Schönheit. Was ist schön? Es lässt sich nach Grenzen und Merkmalen nicht bestimmen, was Schönheit eigentlich ist. Aber es lässt sich eine Summe von Momenten finden, die zusammen den Inhalt des Begriffes Iiefern. Die Luxuswaren der heutigen besitzenden Klassen sind nicht immer schön; ihre Kunst ist nicht schön. Der heute ganz und gar zusammengesetzte, darum undeutliche Begriff, konnte nur gültig sein und, rückwärts gesehen, gültig bleiben für Zeiten, in denen man durchschnittlich unverfälschte Produkte schuf, deren Schönheit echtes Material, Handarbeit usw. bedeutete, an denen nicht das Unechte der beherrschende Zug war. Heute sind wir gezwungen, die Schönheit überall und nirgends zu suchen. Wir müssen erst wieder lernen, das Schöne niemals als Verhüllung anzuerkennen, sondern nur als die reine Beziehung einer Sache zu ihrem Zweck.

Woher kommt es nun, daß die bürgerliche Kunstlehre den Begriff der Schönheit heraushob, ihn als Eigenschaft der Kunst spezialisierte und versuchte, eine Lehre vom Schönen, eine Ästhetik, zu geben, so dass traditionell die Vorstellung von Kunst und Schönheit als einer Identität herrscht. Mit Recht für diejenigen, die verstehen, daß Kunst und Schönheit beide immer neu im Fluss des Lebens sich erzeugen. Mit Unrecht für diejenigen, die da meinen, Schönheit sei ein bestimmtes Kunstideal, eine Verklärung des Lebens, nicht der Ausdruck allen Lebens, sondern nur der Ausschnitt eines bestimmten Lebens. Denn wie die Dinge nicht still stehen, sondern sich verändern und verwandeln, so reißen sie auch die sie umschließenden Begriffe mit sich in Fluss, wandeln sie, engen sie ein oder erweitern ihre Bedeutung und ihren Inhalt. In dem Augenblick, wo die hoch qualifizierte Arbeit als Kunst aus dem Zusammenhang aller Arbeit gerissen wurde, mit dem Niedergang des Handwerks und dem Aufkommen der Maschine sah sich die Kunst auf ein vom allgemeinen Bedarf getrenntes Gebiet gedrängt. Damit wurde sie Luxusfaktor, und damit wurden ihr besondere Aufgaben zugewiesen. Die Schönheit, die sonst in jedem zweckdienlichen Produkt ihr materielles Dasein hatte, verschwand aus der Arbeit und wurde der Kunst zu speziellem Kultus überwiesen, wodurch sie zu einem abstrakten Dasein verurteilt war. Das «Heroische», das «Ideale», das «Erhabene», das «Rührende» usw. waren die Merkmale dieser künstlichen Schönheit. Man vergaß, dass – wenn alle diese Affekte durch eine barbarische Wirtschaftsordnung, durch den sozialen Kampf allmählich ganz aus dem allgemeinen Leben vertrieben wurden – sie auch in der Kunst keine Wohnstätte mehr finden konnten. Die Kunst suchte sehr bald, achtlos aller Ästhetik ihren eigenen Weg, sie entdeckte neue Schönheiten und wurde Kunst für eine kleine Kategorie von Künstlern, die in dem Maße, als sie auf ihrem isolierten Arbeitsgebiet ihre besonderen Kräfte anspannten, den Zusammenhang mit der übrigen arbeitenden Menschheit verloren. Denn diese büßte ja die Fähigkeit ein, mit zu sehen, mit zu empfinden, selbst neue Schönheit zu entdecken, weil sie die Betätigung dieser Fähigkeiten in Künstlerhände gegeben hatte.

Ich berühre die Kunstfrage hier nur im Vorbeigehen in ihrem Verhältnis zu den traditionellen Schönheitsdoktrinen und gehe nicht weiter auf die Kunst als schließlich schrankenlose Individualisierung ein. Der Künstler in einem bestimmten Sinne ist immer Individualist, wird es auch in der Zukunft als schöpferischer Gestalter bestimmter Dinge sein, aber sein Tun und Wirken ist kollektiv und von sozialer Bedeutung. Wir sehen in der heutigen Kunst, was einst für «schön», «ästhetisch», «malerisch» oder «poetisch» in einem begrenzten Sinne galt, überhaupt nicht mehr; dagegen überzeugt uns der moderne Künstler vielfach von der Schönheit und dem Reiz mancher Dinge und Erscheinungen, die wir ohne ihn der Mühe des bewussten und genießenden Anschauens für unwert gehalten. Wir sehen daraus, daß die Kunst sich auf die Dauer an kein Objekt binden kann, aber ebenso, daß auch der Nichtkünstler, der nur Genießende, nicht Schaffende, sich nicht an Objekte bestimmter Art und Qualität binden darf, wenn er Kunst aufnehmen will; dass man Kunst nicht genießen und lieben kann, wenn man nicht selbst die Fähigkeit des Sehens und Genießens besitzt. Das ist die Kluft, die heute zwischen Kunst und Masse besteht und die der Künstler, auch der revolutionäre und nach dem Einswerden mit der Masse sich sehnende Künstler allein als Individuum nicht überwinden kann. Erst die gesamte Umstellung der Gesellschaft und der Kultur in Tat und Bewusstsein füllt diese Kluft aus. Uns gilt als Schönheit: Wahrheit. Unser Kampf gilt allen Scheinformen, die der Kapitalismus unmerklich als Muster, als Norm, als Konvention, als Schablone gezüchtet hat, die er automatisch erwirkte. Das gilt nicht nur für alle Dinge, Einrichtungen, Formeln und Gewohnheiten, es gilt auch für die Menschen und ihre Gedanken. Um in der heutigen Fülle und Kompliziertheit der Erscheinungen das Echte vom Unechten zu unterscheiden, um selbst zu produzieren, nicht nur zu konsumieren, muss das Proletariat nach Wahrhaftigkeit in allen Lebensäußerungen streben. Gar keinen Geschmack haben ist wahrhaftiger, als einen fremden anzunehmen. Gar nichts von Kunst verstehen ist nicht schlimm, ist wahrhaftiger, als sich aus einem Bildungsvorurteil damit abgeben. Das Proletariat hat es nicht nötig – tut es nur leider vielfach unbewusst –, Konzessionen an den unechten, für das Proletariat doppelt unechten Lebensausdruck der bürgerlichen Kultur und Kunst zu machen. Wie ist das zu umgehen und wie ist der Boden einer neuen Kultur ganz rein und unbelastet zu betreten? Nur Ehrlichkeit hilft uns weiter. Der Sinn unserer neuen Kultur ist, der Ehrlichkeit eines neuen Lebensausdruckes zu seinem Recht zu verhelfen.
Wie weit aber das simpelste Ding und Gerät um uns heute diesem Anspruch genügt oder nicht – das wollen wir weiter und ganz genau im einzelnen noch untersuchen.

Verfaßt 1918/1919, Veröffentlichung nicht nachgewiesen. Entnommen aus: Lu Märten, Formen für den Alltag – Schriften, Aufsätze, Vorträge. VEB Verlag der Kunst Dresden, 1982
Zwei weitere Texte aus diesem Buch: „Sozialistische Künstler“ und „Proletkult“ als pdf
Bild: Lu Märten um 1905

Lu Märten (1879 – 1970) war Berlinerin und zeit ihres Lebens in der Bildungsarbeit und als Schreibende tätig. Aus einer Arbeiterfamilie stammend wirkte sie im Umfeld erst der Sozialdemokratie, dann der KPD und der DDR. Sie musste sehr eigenständig sein, da ihr (auch als Frau) sehr viele Hindernisse, gerade von den Hütern der jeweils „wahren“ Linie, in den Weg gelegt wurden. Neben vielen journalistischen Arbeiten verfasste sie mehrere Bücher, u.a. „Die Künstlerin“ (1914) und eine historisch-materialistische Kunstuntersuchung: „Wesen und Veränderung der Formen und Künste“ (1924). In der späten DDR erinnerte man sich ihrer wieder vorsichtig und auch von der feministische Bewegung wurde ihr wieder Beachtung verschafft.
Dennoch ist von ihr heute nur sehr wenig bekannt und wir freuen uns, auf sie aufmerksam gemacht worden zu sein. Wir werden weitere Texte von ihr hier zugänglich machen. Es ist vieles darunter, was zum Schaden der Arbeiterbewegung nicht aufgenommen sondern unterdrückt wurde.
Ihr praktischer Ansatz und das Bestreben, Kunst, Echtheit und Schönheit in die Zielsetzung der Arbeiterbewegung einzubringen hat auch einen direkten Bezug zu William Morris:

„Über den Initiator des Deutschen Werkbundes [gemeint ist Friedrich Naumann] lernt Lu Märten den englischen Kunstphilosophen John Ruskin (1819-1900) sowie den »undogmatischen Sozialisten« und »Erzvater der Alternativen«, William Morris (1834-1896), kennen, zwei Kultur-Theoretiker bzw. -Praktiker, deren letztlich kulturrevolutionäre Ziele nicht nur eine künstlerisch ästhetische, sondern vor allem eine soziale Basis hatten. Die von ihnen ausgehende kunsthandwerkliche Renaissance im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, deren Fernwirkungen über Jugendstil und Werkbund bis zum Bauhaus reichen, war eine Reaktion auf die in England am ehesten sichtbaren Folgen der Industrialisierung, die soziale und ästhetische Verelendung. Ruskin, dessen Lektüre Lu Märten »sehr fesselnd« findet, und dessen deutsche Ausgabe sie 1902 in der »Zeit« selbst rezensiert, sah das Hauptübel seiner Zeit nicht in dem »Umstand, daß die Massen zuwenig Brot, sondern dass sie keine Freude an der Arbeit haben, mit der sie ihr Brot verdienen«. Er missbilligte an der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, daß sie nicht nur die Arbeit, sondern auch den Arbeiter »in kleine Fragmente und Teilleben« zerlege. Diese Kritik, die von Morris weiter radikalisiert werden sollte – seiner Überzeugung zufolge kann »die Schönheit (nur) aus einer menschlicheren und gerechteren Organisation der Gesellschaft entstehen« – mündet in die als Gegenbild zur kapitalistisch geprägten Kultur entworfene Vision einer künftigen Überflußgesellschaft, in eine »Ästhetik der Arbeit und des Genusses ihrer Früchte unter Entfaltung der Fähigkeiten und Bedürfnisse aller«.

Diese Utopie wird auch den Fluchtpunkt von Lu Märtens ästhetischer Theorie markieren und die Vorstellung der späteren Marxistin vom »Reich der Freiheit« bestimmen. Eine Utopie, die als Gegenbild auf die »Not der Frauen« bezogen bleibt, die wie Grete Bose »früh erkennen, daß viele arbeiten und arbeiten mussten, ohne mehr und anderes zu erreichen als Notdurft« und die »von den Dingen träumen, die sie draußen wußte(n), die aber nie zu (ihnen) gekommen war(en)«. Dass dieser Traum kein Traum bleibt – darauf zielt Lu Märtens Vorstellung von einer »harmonischen Synthese zwischen Produktion und Konsumtion«, die nicht Profit einiger weniger, sondern »Genuss für alle« heißt, von einer klassenlosen Kultur, die nicht mehr nur für den »schweinischen Luxus der Reichen« (Morris) bestimmt sein, sondern auch denen zugute kommen würde, die wie die Freundin des Bruders »sechs Mark Wochenlohn in der flachen Hand« hielten und »dachten, nun müsse doch mehr kommen«. Es geht aber nicht nur um den gleichen Anteil an Konsum und Rezeption, sondern um eine (sozialistisch genannte) Gegenwelt, die es auch den Frauen erlauben würde, zu sich selbst zu kommen, sich »spielend« auszuprobieren und die eigenen Fähigkeiten nicht länger für den ökonomischen bzw. emotionalen Gewinn von Ausbeutern, sondern für den so lange entbehrten eigenen Genuss einzusetzen.“

aus: Beatrix Geisel, Unterdrückte Sozialismuskritik – Lu Märten, eine frühe feministische Dissidentin. In: Feministische Studien, Deutscher Studien Verlag, Mai 1991

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