Wilhelm Liebknecht: Vorwort zu „Kunde von Nirgendwo“

nwkleinJa, wo liegt Nirgendwo? Nun, wo soll es liegen? Welches Nirgendwo? Welches von den vielen Tausend und Hunderttausend, Millionen und Billionen Nirgendwo, die es gegeben hat, gibt und geben wird, solange der Mensch etwas anderes ist als eine selbsttätige Maschine, als ein Selfaktor von Fleisch und Blut? Hat doch jeder Mensch sein Nirgendwo  – und die meisten nicht bloß eines, sondern mehrere, viele. Und das einzige, was wir über die Lage von Nirgendwo wissen, ist, daß es nicht da liegt, wo wir sind und wo wir glauben.
Nirgendwo, das ist die Welt der Wünsche, der Träume, der Ideale. Die Fee, welche dem großäugigen Kind die Leidens- und Glücksgeschichte Schneewittchens und des Aschenputtels erzählt, sie kommt von Nirgendwo; die Musen, welche dem Jüngling den Hippogryphen satteln «zum Ritt ins alte romantische Land», sie kommen von Nirgendwo; der Halbgott, den die Jungfrau, die Halbgöttin – nein Göttin, die der Jüngling sich sehnsuchtsvoll zugesellt, sie wohnen in Nirgendwo; die Ruhe, die Sorgenlosigkeit, die dem arbeitenden Manne, dem arbeitenden Weibe während des nie rastenden Kampfes um das Dasein als Fata Morgana vorgaukelt, sie wohnt in Nirgendwo; und der Siegeslorbeer, nach dem der sterbende Fechter schaut – er winkt aus Nirgendwo.
Nirgendwo, das Land der Wünsche, der Träume, der Ideale, der Zukunft. Das Land der Zukunft – die kommende Zeit. The good time coming – «die gute kommende Zeit» des gegenwartsmüden Arbeiters. In die Zukunft flüchten sich die Wünsche. Alles Schöne und Gute, das die Gegenwart mit rauher Hand zurückweist, flieht in die schrankenlose, unbegrenzte, allem und allen Raum bietende, schimmernde Zukunft.
Immer weiter dringt der Menschengeist vor – Reich um Reich erobert er – , doch niemals hat er genug; ungeduldig – und wäre das Reich noch so groß – läßt er den Blick über die Grenze hinwegschweifen, will wissen, welche neuen Reiche der morgige Tag ihm erschließen wird.
Aber ein Schleier verhüllt, was hinter der Grenze liegt. Mehr als ein Schleier – denn durch einen Schleier kann man doch wenigstens Umrisse ahnen – , es ist ein Vorhang, ein dicker, schwerer, eiserner Vorhang. Ihn zu heben, durch irgendeine Spalte hindurchzugucken, wen gelüstete es nicht? Von der Köchin, die den Zukünftigen sehen will, bis zum politisierenden Sancho Pansa, der vor Neugierde platzt, ob er im Zukunftsstaat auch sein Leibessen in genügender Menge und Güte bekommt, hat jeder und jede – wenigstens zuzeiten, das heißt wenn Zeit dazu ist – ein brennendes Verlangen, den Schleier der Zukunft zu lüften, den dicken, schweren, eisernen Vorhang zu heben.
Mancher hat gesagt, es sei ihm gelungen. Er nannte sich Prophet, und verlegte sich aufs Prophezeien. Im großen und ganzen haben sie kein Glück gehabt, die Propheten und Prophezeier. Indes ihr Geschlecht ist noch nicht ganz ausgestorben, wenn auch die Überbleibsel etwas auf den Hund gekommen sind wie so viele alte Herrschergeschlechter.
Namentlich der Wetterprophet und der politische Prophet sind in argem Verruf; allein das Prophetentum hat eine geheimnisvolle Anziehungskraft, so daß die Zahl derer nicht alle wird, die das von ihm untrennbare Martyrium der Lächerlichkeit voll Heldenmut auf sich nehmen.
Sich die Zukunft ausmalen – das Zukunftsland schauen, den Zukunftsstaat, die Wunderwelt von Nirgendwo, wen lockte es nicht? Aus der Vergangenheit die Zukunft herauslesen – wer hätte es nicht versucht? Und wer betrachtet gleichgültig die Versuche, auch wenn er die Unmöglichkeit kennt? Alle Schilderungen der mit dem Vorhang der Zukunft bedeckten Wunderwelt Nirgendwo haben deshalb einen magischen Reiz und erfreuen sich allezeit großer Beliebtheit und Volkstümlichkeit. Und nun jetzt, in dieser brodelnden, gärenden Gegenwart, wo eine Welt in Kindes- und Todesnöten ist und eine neue Welt sich hervorringt – wer brennt nicht, zu wissen, was der morgige Tag bringt? Gerade in Zeiten der Auflösung, des Wechsels, der Umgestaltung, der gesellschaftlichen und staatlichen Neugeburt ist der Hang zu Wanderungen ins Land Nirgendwo, das auf Griechisch Utopia heißt, am lebhaftesten.
Und einen Vorteil hat jeder Zukunftsstaat – ganz abgesehen von dem Vergnügen, das er uns bereitet – , er ist unser Staat, er ist so, wie wir ihn wollen und wünschen.
Seit der Amerikaner Bellamy uns in seinem «Rückblick», der in Wirklichkeit ein Vorblick ist, das Jahr 2000 gezeigt hat, sind die «Utopien» – die Schilderungen des Landes Nirgendwo – wie Pilze aus dem Boden hervorgewachsen. Meistens schale, talentlose Nachahmungen. Indes auch tüchtige. Und die «Kunde von Nirgendwo» von allen wohl die tüchtigste. Ein Dichter hat sie geschrieben, ein echter Dichter; und der echte Dichter ist sprichwörtlich ein Seher, also gewissermaßen Prophet von Natur und Beruf. Und dazu ist William Morris, der Gründer der «Sozialistischen Liga», an welche sein Zukunftsgedicht sich anschließt, ein Sozialdemokrat vom Scheitel zur Sohle. Er gibt uns seinen «Zukunftsstaat», das heißt den Zukunftsstaat, wie er, aus einer Klubsitzung kommend, in einer geistig anregenden Wintersnacht mit Dichter- und Seherblick ihn geschaut hat.
Über die Dichtung selbst nur zwei Worte. Sie hat ihre Erklärung in sich. Der Schauplatz ist das heutige London mit seiner Nachbarschaft – und wer sich in den Örtlichkeiten zurechtfinden will, dem raten wir, sich eine Karte der englischen Weltstadt, oder besser der Weltstadt – denn es gibt nur eine, und sie heißt London – nebst deren Umgebungen anzuschaffen. Das wäre ein trefflicher «Führer» für das «Nirgendwo» unseres William Morris. Und wer William Morris noch nicht kennt, der lernt ihn kennen aus seinem Nirgendheim. Da ist er wie er leibt und lebt, mit seiner romantischen Liebe zum «präraffaelitischen» Mittelalter, mit seinem romantischen Haß gegen die Maschinen und seiner etwas «anarchistischen» Freiheit und Selbstherrlichkeit des Individuums. Auf diese letztere Eigenschaft mache ich namentlich die manchesterlichen Leierkastenmänner mit der Gassenhauermelodie des «Zwangsstaats» aufmerksam. Im Nirgendwo unseres Morris herrscht der schönste «Individualismus» – da kann jeder nach feiner Fasson selig werden, und wem die Morris’schen Häuser und Einrichtungen nicht gefallen, der mache sich andere.

Vorwort von Wilhelm Liebknecht zur deutschen Erstveröffentlichung in „Die Neue Zeit“, 1892/93.

Das Buch wird dieses Jahr im Verlag Edition AV neu erscheinen.

Anmerkung: Der gute Wilhelm Liebknecht konnte es nicht lassen, seine Staatsfixiertheit besseren Wissens auf Morris zu übertragen. Die beschriebene Gemeinschaft der Zukunft bei Morris kommt ganz ohne Staat aus.
Wir kommentieren ja nicht, aber zu Liebknechts Artikel muss doch gesagt werden, dass er ein frühes Beispiel dafür ist, Morris zu verniedlichen und zu einem liebenswerten, etwas versponnenen „Utopisten“ zu machen (von der Warte eines wissenschaftlichen Sozialismus aus). Was Liebknecht z.B. nicht erwähnt, ist, dass News from Nowhere einen Ablauf der Revolution schildert, der ziemlich genau vorwegnimmt, was danach in vielen Ländern geschehen ist (ohne das Ziel zu erreichen). Wenn Liebknecht auf gönnerhafte Weise die Sache in das Licht stellt, dass hier ein Dichter in das Land der Zukunft sehe, dann versteht er nicht. Martin Buber weist in „Pfade in Utopia“ darauf hin, dass – der „utopische“ Sozialismus in einem besonderen Sinn als der „topische“ bezeichnet werden kann – dass der Ort des Sozialismus das gemeinschaftliche Leben der Menschen ist, während und nachdem sie den Nichtort der reinen Politik und und der politischen Ökonomie hinter sich lassen. (Buber meinte hier die utopischen Sozialisten aus der bekannten Schubladeneinteilung; William Morris wurde immer wieder mal dazusortiert.)

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