May Morris: Aus einem Vorwort

… Glasier war schon einige Jahre sehr engagiert in Vorträgen über den Sozialismus, als mein Vater mit dem schottischen Kreis in Glasgow und Edinburgh Bekanntschaft schloss. Für sie war das Treffen mit diesem „halb-mythischen Wesen“, unten im Süden ein arkadisches Leben in der Welt der Poesie und Kunst führend – so war das Bild, das sich der geistreiche junge Mann malte – ein aufregendes Ereignis. Wenn der Held aus den Wolken kommt und vor seine Bewunderer als Mensch und guter Kamerad tritt, dann besteht die Gefahr der Enttäuschung, des Gefühls einer De-Illusionierung. Aber in diesem Fall lag darauf kein Schatten: tatsächlich schien das Licht der Realität wärmer und glücklicher und Glasier schrieb mit einer Art epischer Direktheit über das erste Treffen mit dem Dichter und gibt uns damit gleich den Schlüsselsatz zu der Geschichte, die er uns erzählt: „Ich fühlte mich als jemand, bereichert mit einem großen Schatz.“
Wenn wir versuchen, die volle Bedeutung solcher Worte zu erfassen – aus dem Munde von jemand, der als junger Mensch sein Leben in der grauen Atmosphäre der schottischen Manufakturdistrikte verbrachte und der jede übrige Stunde der Sache widmete, die er im Herzen trug – dann bedeutet es die Freisetzung eingesperrter Gedanken, die großartige Proklamierung – durch die Stimme des Meisters – der eigenen noch unartikulierten Ideale; es war wie ein Aufblühen in der Wildnis.
Aus meiner Sicht von größtem Interesse ist das Kapitel über Glasgow im Morgengrauen, weil es sich dem Thema vom Standpunkt eines Menschen aus der Mitte der Arbeiterbewegung nähert, mit einer Perspektive und mit Werten, die erklärtermaßen nicht die eines Schülers sind. Wir bekommen eine Reihe von ganz nahen Bildern davon, was die Sozialisten jener Tage taten, welche Eindrücke sich bei Freunden von Bruce einprägten, die entweder selbst zur Arbeiterklasse gehörten oder sich die Sache der Arbeiterklasse zu eigen gemacht hatten. Von Anfang bis zum Schluss hat das Buch dieses besondere Gewicht: Es ist die Geschichte dieser speziellen Phase des britischen Sozialismus, geschildert mit dem lebhaften Blick eines eingeschworenen Apostels unserer Sache – selbst ein Dichter und „Träumer“ – , in offener Sprache zu seinen Freunden, mit denen er lebte und arbeitete und auf die er durch die Stärke seines Charakters großen Einfluss ausübte. In meinen Augen hat der einfache und ernste Ausdruck dieser stillen Zuneigung, die sein Leben farbig machte, einen besonderen Wert.
Aber dieses Buch macht mehr als nur über die Geschichte einer besonderen Phase des Sozialismus in diesem Lande zu berichten; es hat eine weitere und bleibendere Bedeutung. Der britische Sozialismus ist nicht eine pure materialistische Kritik der ökonomischen Theorie – dahinter steht eine Basis von ethischer Kritik und Theorie. Marxistische Ökonomie – neben den historischen Untersuchungen von Marx – wird hier wenig gelesen oder verstanden außer von seinen Jüngern, die aus anderen Ländern hierher kamen. William Morris‘ Kritik der modernen Gesellschaft und seine Revolte gegen sie war fundamental ethisch und die große Bedeutung seiner Lehre kommt aus seiner Erfahrung als Dichter und Künstler.
„Es muss immer daran erinnert werden, dass dahinter und tiefer noch als aller politischer und ökonomischer Sozialismus geht, es etwas gibt, das der Theorie Leben einflößt – eben diese Kritik des Lebens, die Forderung von Freiheit und Schönheit, das Streben nach Kameradschaft und Freude in kreativer Arbeit, das Auflehnen gegen das Mühsal und Elend einer eingepferchten Existenz, was Morris in so herrlicher Weise und mit großer Humanität ausdrückte. Morris hat uns das Herz des Sozialismus gezeigt und kein Kritiker hat das bisher ausreichend dargestellt“. (Dr. Mellor in Hastings‘ Enzyklopädie der Religion und Ethik)
Aber weil seine Botschaft nicht rein ökonomisch war, ist sein Einfluss auf die allgemeine Botschaft des Sozialismus von Historikern oft übersehen worden, obwohl es keine unter den älteren sozialistischen Anführern gibt, die nicht in engerem oder weiterem Sinne von ihm persönlich beeinflußt wurden. Dieses Buch spiegelt eine Erfahrung, die sich in bestimmten Grad überall im Land bei Morris‘ vielen Vortragsreisen wiederholte. Nicht überall war da ein ihm Folgender, ebenso bereit, aus dieser Gelegenheit für sich Gewinn zu holen, aber nirgends war das Vortragen vollkommen ohne Resultat.
Die Vorträge von Morris waren in Wahrheit kein neuer Einstieg, sie waren eine Fortsetzung der Tradition des britischen Sozialismus (verglichen mit der französischen, italienischen oder deutschen), aber er hob sie auf eine höhere Ebene und setzte dort ein beständiges Zeichen – was diese Erinnerungen zu zeigen helfen.
Wie William Morris seinen schottischen Freund einschätzte, kann man den Briefen entnehmen, die dem Buch am Ende angefügt sind. Er stand hoch im Vertrauen meines Vaters in diesem stürmischen Tagen, als mühselige Querelen Menschen, die Besseres zu tun hatten, zwangen ihre Zeit zu verschwenden; da war Bruce einer, auf dessen Loyalität und aufrechte Haltung vertraut werden konnte – eine Erholung und Labsal für den unfreiwilligen Anführer turbulenter Geister.
In einigen dieser Briefe kommt Morris‘ Standort zwischen den parlamentarischen Sozialisten und Anarchisten klar zum Ausdruck und es ist gut, die Geschichte davon in definitiv seinen eigenen Worten zu haben, denn er wurde von beiden Seiten als auf ihrer Seite stehend reklamiert. Und es ist gut, dass jene, die in zukünftigen Tagen an seinem Leben und seinen Gedanken Interesse haben, sehen können, dass er die Schwachpunkte beider Seiten sah – Fehler, Schwächen, wie sie wollen – und es ablehnte, in Theorien und Taten gezogen zu werden, die er nicht akzeptierte. …

Aus dem Vorwort zu „William Morris und die frühen Tage der sozialistischen Bewegung“ von J. Bruce Glasier, 1921
May Morris (1862 – 1938), Tochter von William Morris, Künstlerin und Sozialistin.
Sie betreute den Nachlass des Vaters und gab Sammlungen seiner Werke heraus.
Eigene Übersetzung 2013

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