Rudolf Rocker: aus „Die Londoner Jahre“

… Die Democratic Federation, später Social Democratic Federation, war eine sozialistische Propagandaorganisation, die Sozialisten verschiedener Ideologien umfaßte. Aber Hyndman war entschlossen, sie in eine politische Partei zu verwandeln. Hyndman hatte als Tory begonnen und er blieb im Herzen ein Tory. Er war ein Jingo und bewies das durch sein Verhalten im Ersten Weltkrieg. Er war von Natur aus diktatorisch.
Das Ergebnis war großer Widerstand gegen ihn und seine Methoden in der Federation und am Ende die Spaltung. 1884 verließen William Morris und eine Anzahl anderer die Federation und bildeten die Socialist League. Einige gingen aus anderen Gründen als die meisten. Die Tochter von Marx, Eleanor Marx-Aveling, ihr Ehemann und Friedrich Lessner zum Beispiel waren zweifellos motiviert durch die alte Feindschaft zwischen Engels und Hyndman.
Aber die meisten anderen Mitglieder der Socialist League waren libertäre Sozialisten und eine ganze Reihe wie Mainwaring, Lane, Kitz, John Turner, Mowbray und andere waren Anarchisten.
Seele und Geist der Socialist League war natürlich William Morris, ein großer Künstler und großer Dichter, eine der feinsten Persönlichkeiten, die der englische Sozialismus hervorgebracht hat. Für ihn war Sozialismus viel mehr als eine wissenschaftliche ökonomische Theorie. Er hatte keine Gelduld für den Marxismus. Ökonomische Gerechtigkeit und Sicherheit war ihm kein Ideal, es war nur die notwendige Basis für ein neues Gemeinschaftsleben, wo die Menschen frei sein würden und sich frei ausdrücken könnten im Leben, in der Kunst, in Kultur und Zivilisation. Der freie menschliche Geist war ihm das Wichtigste. Er machte das in seinen Büchern klar: News from Nowhere und The Dream of John Ball und in seinen vielen anderen Schriften und Dichtungen. Es klingt aus seinem Gedicht No Master: „Wir haben gehört und wissen, dass wir keinen Herren brauchen“ – die wahre Hymne der libertären Bewegung.
Als ich 1895 nach London kam war Morris schon ein kranker Mann. Aber er nahm weiter an der Bewegung Anteil und kam manchmal zu öffentlichen Veranstaltungen. Zum ersten mal sah ich ihn aber im Studio eines mit mir befreundeten Künstlers in Hammersmith, wo Morris lebte. Eines Tages, auf seinem Spaziergang kam Morris herein um nachzusehen, wie mein Freund mit seiner Arbeit für ein Theater vorankam. Ich war zufällig gleichzeitig anwesend. Der einstige Wikinger war nun gebeugt, lehnte schwer auf seinem Stock und sah krank aus. Aber sein herrliches Haupt war noch beeindruckend und seine Stimme bebte noch. Wir konnten uns kaum unterhalten. Denn Morris sprach nur Englisch und mein Englisch war in jenen ersten Monaten meines Aufenthalts in England noch ärmlich. Bevor zwölf Monate vergingen starb Morris.
Es ist jammerschade, dass Morris und Kropotkin nie enger zusammenkamen, obwohl Kropotkin seit 1886 in London lebte. Kropotkin sprach zu mir über Morris immer mit der größten Bewunderung. Sie waren beide zur selben Zeit auf sehr ähnlichen Gebieten aktiv. 1886 war Morris Herausgeber der Zeitschrift der League, Commonweal. Und 1896 gründete Kropotkin die Freedom-Gruppe zusammen mit einer Reihe von Genossen, die zur Socialist League von Morris gehört hatten. …

Eigene Übersetzung 2013

Und aus Peter Wienand: Der „geborene“ Rebell, Rudolf Rocker, Leben und Werk, Berlin 1981:
„Die alte Handwerkertradition des Verstehens durch das eigene Machen, die Liebe zum Ganzen, mag bei Rudolf generell die Aufnahme der Bakuninschen Gedanken gefördert haben; speziell aber das Buchbinderhandwerk befand sich noch in einer Mittelstellung zwischen Kunst und Handwerk, war zumindest im Kleinbetrieb Kunsthandwerk im alten Sinne. Nicht umsonst fühlte sich Rudolf, der eine „innere Neigung“ zu seinem Beruf hatte, später zu dem „großen englischen Sozialisten“ und Freund Kropotkins, zu William Morris, so seltsam hingezogen*, denn dieser unternahm den Versuch einer Wiederbelebung der künstlerischen Tradition des mittelalterlichen Handwerks.“

*An dieser Stelle kommt ein Quellenverweis auf „Die Jugend eines Rebellen“, Teil der Memoiren Rudolf Rockers. Manuskript im IISG, Amsterdam; noch unveröffentlicht.

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