Eduard Bernstein: aus „Aus den Jahren meines Exils“

William Morris, der liebenswürdige Dichter und bedeutende Künstler, das Haupt der im Jahre 1884 von der Sozialistischen Föderation abgesplitterten Sozialistischen Liga, ist zur Zeit jener Spaltung ein paarmal bei Engels gewesen, und Engels hat stets mit Achtung von ihm gesprochen, aber es ist nie zu einem Verkehr zwischen ihnen gekommen. Der Hauptgrund war hier, dass Morris das Zentralgestirn eines eigenen Kreises war. Außerdem war er gerade an Sonntagabenden auch schwer abkömmlich. An sein westlich von London, an der dort schon rasch fließenden Themse gelegenes schönes Wohnhaus, Kelmscott House genannt, hatte er sich einen Versammlungssaal anbauen lassen und dort fanden den größten Teil des Jahres an Sonntagabenden sozialistische Propagandaveranstaltungen statt, denen Morris oft präsidierte. kutschenhauskleinZweimal habe ich auch unter Morris‘ Vorsitz dort einen Vortrag gehalten, ihn selbst aber nie als Redner gehört. Ich glaube auch nicht, dass er rhetorisch Bedeutendes geleistet hat. Gewiss konnte er seine Gedanken sehr fesselnd zum Besten geben, dies aber als Vortragender vor einem verhältnismäßig kleinem Kreise in dem ungezwungenen Ton eines Plauderers. Die eigentliche Rhetorik passte nicht zu seinem Naturell, sein ganzes Wesen war – ich möchte sagen – antirhetorisch. Der mittelgroße, kräftig gebaute Mann war durch und durch Künstler. Aber kein Künstler des gesprochenen Wortes. Die Hauptstätte seines Wirkens war die Werkstatt, sei es die des dichtenden oder bildenden Künstlers. Als Maler und Zeichner ist er einer der Begründer jenes Stils, der vielfach verzerrt, in Deutschland den Namen Jugendstil erhielt; als Dichter ist er in seinen größeren Werken ein phantasiereicher Erzähler. Aus Ruskins Schule hervorgegangen, ist er wesentlich romantisch gerichtet, nur ein Romantiker konnte das ansprechende und in allen Sprachen übersetzte Zukunftsbild „News from Nowhere“ schreiben (deutsch unter dem Titel „Kunde von Nirgendwo“ erschienen). Aber wenn er den Sozialismus wesentlich unter dem Gesichtswinkel des Künstlers sah, so war William Morris darum nicht etwa der Ästhet, der nur über den Sozialismus und allenfalls hier und da für ihn schrieb. Nein, er stand in der Bewegung, hat unter den Ersten geholfen, sie zu organisieren und für sie zu agitieren, und man konnte den geschätzten Dichter und wohlhabenden Fabrikanten, den Entwerfer von Tapeten für die vornehme Welt West-Londons, damals nicht selten an irgendeiner Straßenecke eines Londoner Arbeiterviertels einem Häuflein Arbeiter die Botschaft des Sozialismus predigen sehen.

„Aus den Jahren meines Exils“, Erinnerungen eines Sozialisten.
Berlin, Erich Reiß Verlag, 1918

Wir fügen hier noch hinzu den später entdeckten Nachruf von Eduard Bernstein auf William Morris in „Der sozialistische Akademiker“, November 1896

William Morris – Eindrücke und Erinnerungen

Daraus einige Zitate:
bernstein-zitat 


Eduard Bernstein (1850-1932) lebte ab 1888 in London und war in der ersten Zeit Redakteur des „Sozialdemokrat“, der wegen des Sozialistengesetzes im Ausland gedruckt und nach Deutschland illegal eingeschleust werden musste. 
1903 veröffentlichte Bernstein den Vortrag „Kommunismus“ von William Morris in den „Dokumenten des Sozialismus“.

Genau zu der Zeit des Nachrufs auf Morris verfasste Bernstein einen Artikel der Neuen Zeit mit dem Titel „Die deutsche Sozialdemokratie und die türkischen Wirren“. Dort schreibt er Folgendes und verhält sich in der entgegengesetzten Richtung zu den Eigenschaften, die er Morris würdigend herausstellte:
„Nicht jeder Kampf beherrschter Völkerschaften gegen ihre Oberherren ist jedoch in gleicher Weise ein Emanzipationskampf. Afrika beherbergt Stämme, die das Recht vindizieren, Sklavenhandel zu treiben, und nur durch die europäischen Kulturnationen daran verhindert werden können.  Ihre Erhebung gegen die letzteren lassen uns kühl, ja, werden uns im gegebenen Falle zu Gegnern haben. Das gleiche gilt von jenen barbarischen und halbbarbarischen Völkerschaften, die aus dem Überfall ackerbautreibender Nachbarvölker, vom Viehraub ein ständiges Gewerbe machen. Kulturfeindliche und kulturunfähige Völker haben keinen Anspruch auf unsere Sympathie, wo sie sich gegen die Kultur erheben. Wir erkennen kein Recht auf Raub, kein Recht der Jagd gegen den Ackerbau an. Mit einem Wort, so kritisch wie wir der erreichten Kultur gegenüber stehen, erkennen wir doch ihre relativen Errungenschaften an und machen sie zum Kriterium unserer Parteinahme. Wir werden bestimmte Methoden der Unterwerfung von Wilden verurteilen und bekämpfen, aber nicht, dass man Wilde unterwirft und ihnen gegenüber das Recht der höheren Kultur geltend macht.
… Aber nicht einmal jeder Erhebung von kulturfähigen Völkern können wir mit gleicher Symphatie gegenüberstehen. Die Freiheit einer unbedeutenden Nationalität in außereuropäischen oder halbeuropäischen Gegenden wiegt nicht die freiheitliche Entwicklung der hochzivilisierten Kulturvölker Europas auf. Wo daher ein Kampf solcher die Interessen dieser Entwicklung ernsthaft gefährdet, ist eine ablehnende Haltung ihm gegenüber durchaus am Platze.“ (Hervorhebung durch uns)

Mit diesen menschen- und freiheitsfeindlichen Sätzen eines Imperialismus der höheren Kultur steht er als damaliger Haupttheoretiker der SPD (neben Kautsky) in völligem Gegensatz zu Morris. Zu dieser Zeit führte Deutschland z.B. schon Krieg gegen die Hereros in Namibia, der sich im Völkermord des Jahres 1904 fortsetzte. Die SPD war noch mehrheitlich (auch in der Person von Bebel) antikolonialistisch, das wurde aber ausgehöhlt und verändert durch eben Bernstein, Noske u.a. Auf dem Internationalen Sozialistenkongress 1907 wurde von dieser Seite ein „Sozialistischer Kolonialismus“ vorgeschlagen und in der Abstimmung noch (knapp) abgelehnt. Damit wurde der Nationalismus gefördert, die Gläubigkeit an die angebliche kapitalistische Hochzivilisation und die praktische Trennung der Arbeiter nach Nationen, was dann zum Versagen der Arbeiterbewegung 1914 führte.

 

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