Die Redefreiheit in Amerika

Unsere Leser mögen beachten, dass in den nächsten vierzehn Tagen Zusammenkünfte abgehalten werden zum Protest gegen den kaltblütigen Justizmord an sieben Gefangenen in Chicago. Wenn diese Ausgabe des Commonweal Menschen erreicht, die noch keine anderen Ausgaben gelesen haben und nur eine vage Idee von den Umständen des ganzen Falles haben oder denen noch wahrscheinlicher durch die Falschdarstellungen der Presse ein Vorurteil eingeprägt wurde – durch die blanken Lügen der amerikanischen und die achtlosen Lügen der englischen Presse – muss das wirklichen Verbrechen dieser Männer kurz dargestellt werden um zu entscheiden, ob ihre Hinrichtung ein Akt der Gerechtigkeit oder ein Verbrechen ist.
Diese sieben Männer sind zum Tode verurteilt, weil sie an einem Meeting teilnahmen, das einberufen wurde um gegen den mörderischen Angriff auf eine Demonstration von streikenden Arbeitern durch Polizei und gekaufte Schwadroneure der Kapitalisten zu protestieren. Während dieses Meetings wurde eine Bombe geworfen, die mehrere Polizisten verwundete und tötete. Die Polizei schoss in die Menge, die Arbeiter verteidigten sich und die kapitalistische Regierung benützte diese Gelegenheit um eine Anklage gegen unsere Genossen auszubrüten, brachte sie vor Gericht und verurteilte sie in Widerspruch zur Beweislage. Auf ihren Einspruch wurden sie länger als ein Jahr im Gefängnis behalten und praktisch von demselben Gericht noch einmal verurteilt.
Chicago-MartyrsIn Wirklichkeit wurden diese Männer verurteilt, weil sie die Arbeiter im Streik unterstützt und ihre Meinung über die niederträchtige (falschgenannte) Gesellschaft der USA und allgemein über das, was man Zivilisation nennt, ausgesprochen haben. Sie wurden in Wirklichkeit verurteilt, weil sie Ansichten tragen und ausdrücken (die auch die unseren sind, ob wir uns nun Anarchisten oder Sozialisten nennen) und weil sie diese Ansichten auf die Ereignisse des Tages und die Unterdrückung der amerikanischen Arbeiter anwendeten, die vor ihren Augen passiert. Ihre Verurteilung ist eine in terrorem Massnahme gegen die Redefreiheit in Amerika und es wäre eine Schande für die britischen Arbeiter, würden sie sich nicht klar und leidenschaftlich gegen diesen Angriff auf die Freiheitsrechte stellen, von denen man annahm, dass die Vereinigten Staaten sie sorgsam bewahren, was sich aber nach allem als eine einseitige Angelegenheit zeigt.
Wir rufen vor allem unsere Freunde unter den Radikalen und Demokraten auf, die gerade jetzt daran sind, das tiefsitzende anti-irische Vorurteil zu zerstören, Menschen nicht deswegen außerhalb der Grenzen gerechter Behandlung einzuordnen, weil sie revolutionäre Ideen aussprechen. Wir wollen sie erinnern – ob sie unsere sozialistischen Theorien für richtig oder falsch halten mögen – dass wir letztlich das Gleiche Recht für Alle fordern. Unter den gegebenen Bedingungen, während die Reaktion so hart kämpft, um ihr Haupt zu erheben: wenn wir nicht die Freiheiten, die wir gewonnen haben mit größter Sorgfalt und Eifersucht beschützen, werden wir sie Tag für Tag geschändet sehen, bis eines Tages die Radikalen keinen größeren Zweifel mehr als die Sozialisten haben werden, dass sie in jeder Hinsicht die Sklaven der Reichen und Mächtigen sind.


„Free Speech in America“, Artikel in Commonweal, 8. Oktober 1887
Am 11. November wurden George Engel, Adolph Fischer, Albert Parsons und August Spiess durch das Gesetz getötet. (1893 wurde die Unschuld der Angeklagten durch den Governeur von Illinois anerkannt und die zu Haftstrafen Verurteilten freigelassen.)

Am 14. Oktober fand eine Protestveranstaltung im South-Place Institute (zu der Zeit Versammlungssaal der Socialist League) statt. Unter den zahlreichen RednerInnen (wie damals üblich) waren William Morris und Peter Kropotkin.

Ein Jahr später sollte Lucy Parsons, die Witwe von Albert Parsons, auf Einladung der Socialist League für eine Propaganda-Rundreise nach England und Schottland kommen. Am ersten Jahrestag der Ermordung fanden große Kundgebungen in London statt:

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lucyparsonskleinDer konservative East London Observer beschrieb den Ablauf der Kundgebung im Victora Park im Londoner East-End am 18. November 1888 folgendermaßen:
„Zwei behelfsmäßige Plattformen in Gestalt von Ausflugskutschen wurden aufgestellt, um die sich bald riesige Menschenmengen sammelten. Die Hauptattraktion auf der einen war Frau Lucy Parsons, die Ehefrau eines der Chicagoer Anarchisten, der durch die Hand des Gesetzes seinen Tod empfangen hatte. Sie war von dunkler Hautfarbe – fast mulatto – in Schwarz gekleidet und ihren Äußerungen, die geringe Kenntnis von Grammatik zeigten, wurde mit der größten Aufmerksamkeit zugehört. Bei der anderen Plattform waren alle Augen auf Herrn William Morris und Herrn Cunninghame Graham gerichtet. Von beiden Plattformen wurde haarsträubender Unsinn über die ‚unterdrückten Arbeiter‘ und die ‚Werkzeuge der Reichen‘ abgeladen, was natürlich sein Echo in lautem Beifall fand.“

Das Bild von Lucy Parsons (1853-1942) erschien ganzseitig als Beilage des Commonweal.
william Morris Lucy ParsonsEin Buch mit Widmung von William Morris für Lucy Parsons tauchte in einer Auktion auf.

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