Ein Auszug aus den Erinnerungen von Andreas Scheu, erschienen 1923 in der Wiener Volksbuchhandlung.
Für die Arbeiterzeitung, das Zentralorgan der österreichischen Sozialdemokratie, war er als sein Freund die zuerst berufene Person, um 1896 den Nachruf auf William Morris zu schreiben:
In Memoriam.
Die sozialistische Bewegung Englands – und mit ihr diejenige der Welt – hat einen herben Verlust erlitten. Sie hat in William Morris einen ihrer reizendsten Männer, einen ihrer begabtesten Sänger und einen ihrer begeistertsten Streiter zu Grabe tragen gesehen. Eine ebenso einfache und ungekünstelte wie kraftvolle und prächtige Erscheinung, vereinigte er in sich ein gründliches Wissen mit dem Genius der Poesie und einem von heißer Liebe für alles Große und Reine gespornten Schaffensdrang. Offen und ehrlich, ohne Rückhalt und Nebengedanken von seiner bevorzugten sozialen Stellung nach dem Ziel der schönen Freiheit trachtend, war William Morris für das kämpfende Proletariat seines Heimatlandes ein Streiter von unschätzbarem Werte. Wer ihn gesehen, wie er sich in den frühen Tagen der Bewegung in unsere Reihen trat, wie er mit dem ganzen Gewichte seines künstlerischen Einflusses und mit all dem Feuereifer seiner Seele in den Strudel des Parteikampfes warf, dem wird sein Beispiel stets ein Sporn sein der Begeisterung. Und denjenigen unter uns, denen er besonders nahegetreten war, die Hand in Hand mit ihm gewirkt und seiner engeren liebenden Bekanntschaft sich erfreuten, wird sein Gedächtnis ewig unvergesslich bleiben!
Morris war der Sohn wohlhabender Eltern und wurde im Jahre 1834 in Walthamstow geboren. Sein Vater soll ihn für die geistliche Laufbahn bestimmt haben. In Oxford jedoch entwickelte der junge Student einen anderen Sinn, und als sein Vater bald darauf starb, durfe er seinen Neigungen die Zügel schießen lassen. Gleich Ford Maddox Brown, Gabriel Rossetti und anderen poetisch begabten Jünglingen wurde Morris ein Schüler John Ruskins und betrat die Laufbahn des Künstlertums. Er wurde ein Lehrling des Baumeisters Edmund Street, der besonders durch seine Gruppe gotischer Gebäude, als die „Gerichtshöfe“ bekannt, berühmt geworden ist. In den unsterblichen Meisterwerken gotischer Baukunst, an denen Alt-Oxford so reich ist, in den herrlichen, von Mönchen illuminierten Druckwerken, die dort aufgehäuft sind, fanden der hohe künstlerische Geist und die dürstende poetische Seele des jungen Morris reichliche Nahrung. Er vertiefte sich in das Studium der Geschichte des Altertums, des Mittelalters und der älteren römischen Literatur. Er studierte mit Liebe nicht nur die alten Sagengeschichten; die Kämpfe und Fehden nicht nur der nordischen Heldenvölker und deren Poesie, sondern auch die einfach schönen Kunstwerke ihrer naturgeschickten Hände. In späteren Jahren fuhr er zweimal nach Island, das er mit seinem Freund Magnussen nach Reliquien der Vergangenheit suchend durchstreifte. Daheim waren es die künstlerischen Größen des Mittelalters, für die er sich begeisterte und in der Poesie war Chaucer sein gewähltes Vorbild. Die derb natürliche Romantik jener Zeit, wo es noch keine Teilung der Arbeit und keine Maschinen gab; wo der Kunstsinn des Menschen in seinen Werken sich direkt zum Ausdruck bringen konnte; wo jeder seines Glückes Schmied und der schaffende Mann noch etwas wert erschien – sie liebte er und machte sie zum Ideal seines Schaffens. Er lebte sich so sehr in jene Zeit hinein, dass er das Schale, Unechte, Verderbte seiner Umgebung zu hassen anfing. Besonders störte und beleidigte ihn die Kunstlosigkeit der modernen Heimstätten, in denen er zu wohnen gezwungen war und als er unter seinen Studiengenossen Gleichgesinnte und -bestrebte fand, so kamen sie zusammen auf den Gedanken, dem herrschenden schlechten Geschmack durch ein Geschäft für häusliche Kunst praktisch entgegenzutreten. Sie schossen ihre geringen Mittel zusammen und Morris wurde zum Leiter des Unternehmens ernannt. Neben den vorerwähnten Ford Maddox Brown und Gabriel Rossetti gehörten zu der Tafelrunde, die zusammen als die Gründerin der präraffaelitischen Kunstschule Englands gilt, die Maler Holman Hunt und Burne Jones sowie der Architekt Philipp Webb.
Die neue Geschäftstätigkeit, so sehr sie scheinbar die ganze Energie Morris‘ in Anspruch nahm, ließ seiner poetischen Muße Schwung genug; auf sein Erstlingsgedicht „Die Verteidigung von Guinevere“ folgten bald „Das irdische Paradies“, „Liebe genügt“ und „Die Befreiung von Pharamond“. Später kamen die Geschichte des Falls der Nibelungen und andere Prosawerke. Als er Sozialist wurde (1883), gab er der Bewegung viele Lieder, wie „Der Marsch der Arbeiter“, „Der Schrei der Plage“, „Alles für die Sache“ und seine prächtige Erzählung „Der Traum von John Ball“. In die letzte Periode seines Lebens (wo er Kunstbuchdrucker geworden war) gehören seine Romanzen: „Die Wurzeln der Gebirge“, „Die glitzernde Ebene“, „Kunde von Nirgendwo“, „Der Wald jenseits der Welt“ und endlich „Die Quelle am Weltenende“.
Die Produktionsfähigkeit Morris‘ war phänomenal. Er liebte die Arbeit um ihrer selbst willen und das Kunstgeschäft, das ihn zum Leiter hatte, war von einem großartigen Erfolg gekrönt. So zwar, dass heute unter den wohlhabenden Mittelklassen niemand Anspruch auf Geschmack erheben kann, dessen Wohnräume nicht die Spuren des Genius William Morris‘ tragen. Für die Armen und Elenden – so wollte es die Ironie des Schicksals ! – hat Morris freilich weder Tapeten noch Teppiche gezeichnet oder schöne Bücher gedruckt. Er hat aber für sie gewirkt durch sein Heraustreten aus der Gesellschaftsschicht, die ihn hätschelte und die er hasste, sowie durch sein offenes Parteiergreifen mit Mund und Feder für die Sache der Enterbten.
William Morris, der Sänger des „Irdischen Paradies“, war nicht Sozialist geworden durch die wissenschaftliche Forschung der statistischen Vergleichung. Wie in vielem, so stimmte er auch mit darin mit mir überein:
„. . . Was immer der Percentsatz sei,
Nach dem die Welt sich verelendigt –:
Kaum seh‘ den Schwachen ich gebändigt,
Und schon ergreife ich Partei.“
Sein lebendiges Auge für alles Schöne, Natürliche und Wahre sowie sein bitterer Hass gegen Trug und Tücke prädestinierten ihn zum Streiter in dem Umwälzungskriege gegen eine Gesellschaft, in der Gewalt und Unnatur und Häßlichkeit die Herrschaft führen. Als ihm die wissenschaftliche Theorie des modernen Sozialismus zu Gehör kam, begriff er ihre Wahrheit augenblicklich; und als ihm aus der Parteibestrebung nach einem Schönheits- und Freiheitsleben für das ganze Volk die Aussicht auf mühevolle Arbeit winkte, da trieben ihn sein Schaffensdrang und seine Kampfeslust sofort, sich voll und ganz der Sache anzuschließen, die weder abergläubisch noch utopisch, wohl aber streitbar war.
Sein Eintritt in unsere Reihen (die Sozialdemokratische Föderation) war nicht bloß ein Gewinn an Zierde, sondern ein Gewinn an Kraft. Seine Aufrichtigkeit war so offenbar und seine Begeisterung so packend, dass mancher Zaudernde in unser Lager geführt wurde durch die Erwägung, es könne eine Sache unmöglich schlecht sein, der Morris seinen ganzen Namen und seine volle Wirkenskraft geweiht.
Aus Liebe zu unserer Sache überwand Morris seine natürliche Abneigung gegen theoretische Abhandlungen (besonders ökonomischer Natur), und durch das Studium der Hauptwerke des Sozialismus machte er sich deren Lehren zu eigen. Den Vorteil wahrnehmend, den ein guter redner über einen schlechten hatte, übte er seine Zunge durch Vortträge und Debatten, bis er, der Redeunbegabte, es fast zur Meisterschaft des Wortes gebracht. Kurz, wenn es galt, der Sache wirkungsvoll zu dienen, da war ihm keine Mühe zu groß.
Kein Zweifel, die Wogen der Agitation, in die er sich so lebenskräftig gestürzt, beeinflußten manche seiner früheren Anschauungen und änderten etliche seiner teuersten Begriffe. Denn ebenso wie er eine Bewegung, deren Schule nur allzu exklusiv sozialpolitisch war, mit seiner verständigen Kunstliebe veredelte und verschönte, und wie er unsere Propaganda mit der hellen Glorie seiner süßen Poesie umgab, so konnte es nicht ausbleiben, dass der moderne Sozialismus mit seiner Faktenbasis und mit seinen logischen Schlüssen ihn am Ende manches lehren und ihn in vielem korrigieren musste. Er zeigte ihm die historische Entwicklung der Gesellschaft und deren politischen Ausdruck in der Form des Staates ebenso wie die Machtfaktoren in den Kämpfen der Parteien und die unumgängliche Notwendigkeit der Organisation der Massen.
So kam es, dass er, aus der Verehrung de Persönlich-Findigen und Schweigsam-Schönen der menschlichen Handarbeit mit Bezug auf Maschinenarbeit fast reaktionären Ansichten huldigte, allmählich zu der Überzeugung kam, dass die Kraft des Mechanismus dazu berufen sei, als Holzschläger und Wasserträger der künftigen Gesellschaft die aus dem Staub ihrer Arbeitskraft aufstrebende Menschheit zu erlösen.
Desgleichen änderte sich seine Anschauung gegenüber der Politik. Nicht dass er sie jemals weniger verabscheut hätte; aber er konnte sich auf die Dauer der Überzeugung nicht verschließen, dass in einem Staatswesen, in dem die politische Macht zur Erhaltung der Oberherrschaft einer gesellschaftlichen Klasse über die andere dient, und wo die aufrichtige Anbetung des erkannten politischen Schwindels die heuchlerische Verehrung einer hypothetischen Gottheit beinahe überwunden hat, die politische Aktion für die Arbeiterklasse zur unabweisbaren Notwendigkeit geworden ist.
Aber während er bereit war, „alles für die Sache“ zu tun, hatte seine Hingebung dennoch eine Grenze und diese zog er am „Kompromiss“. Nicht dass er diesen Begriff für immer und für unbedingt verwerflich gefunden hätte. Er gab die Notwendigkeit des Kompromisses für Politiker mit unverhüllter Abscheu zu; für solche aber, die den Kompromisschacher als ein politisches Geschäft betreiben und sich auf ihre „Schmutzarbeit“ noch viel zugute tun – für solche hatte er nur zornige Verachtung.
Der persönliche Verkehr mit ihm war gerade darum so erfrischend, weil er mit fast verletzender Aufrichtigkeit so offen aus dem Herzen redete. Er war ein Mann von „Ja!“ und „Nein!“, von „Ich will!“ und „Ich will nicht!“, der keine Gnade kannte für die „Wenn“ und „Aber“ jener kompromitierender Gewissenshändler, die ihm so häufig den Weg verstellten.
Jetzt, da er tot ist, da seine Hände kalt und seine Lippen für immer versiegelt sind, jetzt kommen die tapferen Skribenten des Aberglaubens sowie die übergeschnappten Orakel des Hochmuts und beanspruchen unseren unsterblichen William als einen der Ihrigen! Die ersteren behaupten, dass er trotz alledem nicht ganz ohne „religiöses Gefühl“ gewesen, und die letzteren unterstehen sich zu sagen, er hätte am Ende doch das Leben eines temporisierenden Opportunisten (Fabianers) geführt.
Dass unser William Morris in seinem „Dream von John Ball“ Verständnis für religiöses Gefühl zeigte, ist nicht zu leugnen. Er hätte die Unteredung mit seinem Helden in der Kent’schen Dorfkirche unmöglich auch nur mit einem Schein von Wahrheit schildern können, wenn er für die religiöse Gemütsbewegung desselben keine symphatisches Verständnis gehabt hätte. Aber ein solches Verständnis ist himmelweit entfernt von dem „religiösen Gefühl“, das die moderne Hochachtbarlichkeit verlangt und das unser toter Parteigenosse nie gezeigt hat.
Dass Morris aus seinen Erfahrungen zwei bittere Lehren der Enttäuschung gezogen hat, ist wahr. Die erste zog er, als er, mit dem Demonstrationsaufgebot der radikalen Klubs nach dem Trafalgar Square marschierend, das unorganisierte (und nicht ganz ernsthafte) „Recht“ wie Spreu in die Winde getrieben sah von der wohlgedrillten „Macht“ des Nachtwächters der besitzenden Klassen. Er hatte, wenn auch nicht an die schlagfertige Organisation, so doch an den festen Willen der radikalen Klubs geglaubt und war schwerlich überrascht, als er, der bereit war, für die Erhaltung des freien Versammlungsrechts mit seinem Leben einzustehen, die großrednerischen Demonstranten ausreissen sah. Die zweite Lehre zog er aus dem Zusammenbruch seiner Lieblingsorganisation, der „Sozialistischen Liga“, durch das Überwuchern der anarchistischen und polizeiagentlichen Elemente, denen er sich nicht gewachsen fühlte. In seiner überschwenglichen Liebe zur Freiheit hatte er den ersteren zuviel Spielraum gelassen – und das Ende war unausbleiblich. Inwiefern jene Erfahrungen ihn bewogen haben, in den letzten Jahren wieder zu dem rein künstlerischen Wirken seines früheren Lebens zurückzukehren, wage ich nicht zu entscheiden. Aber das Eine kann ich mit Bestimmtheit behaupten, dass er weder infolge dieser noch anderer Ursachen jemals Pessimist oder Opportunist geworden ist. Ein Mann wie Morris, der jahrelang im Vordertreffen der Bewegung gekämpft und der Sache des ringenden Volkes seine beste Tatkraft gewidmet hat, ist wohl berechtigt, zeitweilig zu seinem Zelt zurückzukehren und sich seiner lieben alten Gewohnheiten zu erfreuen, ohne sich dadurch dem Vorwurf (oder dem Lob!) auszusetzen, dass er ein Pessimist geworden sei.
Als ich ihn kurz vor seinem Tode zum letztenmale sah, da war er, obgleich körperlich geschwächt, noch immer der alte, gute, große Kamerad an Herz und Seele, voll von freudigem, unerschütterten Vertrauen an den sicheren Triumph der Sache des Sozialismus. Er war noch voll der alten Wirkens- und Kampfeslust und bedauerte die Schwächung seiner Gesundheit nur darum so tief, weil diese seinem Schaffensdrang ein Ziel setzte.
Nein, das Leben unseres geliebten William Morris, ein Leben so unsophistisch, so warm pulsierend vor Begeisterung und so reich an leuchtenden Erfolgen; ein Leben, so beispielsreich und bewunderungswürdig, das seinen höchsten Idealen immer treu geblieben –: es widerspricht den leeren Worten derer, die blind und unaufhörlich uns versichern, dass in der Aufwärtsentwicklung des menschlichen Geschlechtes Begeisterung von keinem Werte sei!
Andreas Scheu (1844 – 1927) war von Beruf Modellierer, österreichischer Sozialdemokrat auf derem linken Flügel und ein lebenslanger Kämpfer. Er musste wegen der Sozialistenverfolgung für lange Jahre nach England emigrieren, war Mitgründer der Socialist League und mehrere Jahre Kampfgefährte von Morris.
Für die Socialist League verfaßte er u.a.: „What is to be done – Agitate! Educate! Organise!“, veröffentlicht in drei Teilen in Commonweal, 1885.